BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Irmgard Bock

* 1937

 

Religion und Politik - ein Versuch

 

2007/2021

 

____________________________________________________________________________________

 

 

 

1. Die anthropologische Grundlegung

 

Die Anthropologie muss davon ausgehen, dass sie – trotz allen geschichtlichen Wan­dels, der von der „Historischen Pädagogischen Anthropologie“ betont wird. 1) – Grund­züge des Menschseins festhalten muss, die generell gelten. Dazu gehört neben der Sozialität und Geschichtlichkeit auch der Bezug zur Transzendenz. 2) Außerdem ist fest­zuhalten, dass Menschsein niemals etwas nur Abstraktes ist, sondern sich in konkretem Tun realisiert. Bedeutsam sind der Vollzug selbst und auch das Ergebnis. Wir können letztlich nur davon ausgehend auf das Abstraktum Menschsein zurückschließen. Dieses Tun bezieht sich auf verschiedene Bereiche, die einerseits das Überleben des Einzelnen und der Gruppe garantieren, es aber auch weit übersteigen, wie z. B. die Kunst. Daraus ergibt sich die Frage, wie die verschiedenen Formen dieses Tuns miteinander verbunden sind.

1975 hat Josef Derbolav seiner Abhandlung über „Pädagogik und Politik“ einen An­hang beigefügt, den er Praxeologie nannte. Es geht ihm hier darum, „eine systematische Differenzierung der Gesamtpraxis nach konstitutiven, d.h. voneinander grundsätzlich unterschiedenen, einander notwendig ergänzenden und sachlich unentbehrlichen Aufga­ben, die sich in einer Sozietät von Menschen, d.h, einer ‚Gesellschaft‘, stellen“, 3) deutlich zu machen. Bei diesen Praxen steht nach ihm die Politik im Mittelpunkt und auch die Religion gehört zu ihnen, wenn auch ohne unmittelbaren Bezug zur Politik. Entscheidend ist bei diesem Entwurf, dass Derbolav allen Praxen ein bestimmtes Ziel zuordnet. Bei der Politik sind es Gemeinwohl und Gerechtigkeit, bei der Religion gläubige Liebe.

1987 hat dann sein Schüler Dietrich Benner diesen Gedanken wieder aufgegriffen und ein modifiziertes Modell zum Mittelpunkt seiner Allgemeinen Pädagogik 4) gemacht. Bei ihm steht nicht mehr die Politik im Mittelpunkt, sondern die Geschichtlichkeit als Beto­nung des Wandels aller Praxen, aber auch hier werden Religion und Politik als gesonderte notwendige Formen der menschlichen Lebensführung genannt. Es soll weder eine Auseinandersetzung mit diesen beiden Ansätzen geleistet, noch gar ein neues Modell erstellt werden. Ich beziehe mich aber auf den Grundansatz beider Autoren, der letztlich anthropologischer Natur ist: Menschliches Leben realisiert sich in einer Gemeinschaft und dort in Handlungen, die durch die Grundstruktur des Menschseins und seine Grund­bedürfnisse notwendig werden. Trotz aller Spezialisierung, die dem Einzelnen Schwerpunkte in seiner Praxis zuordnet, ist doch festzuhalten, dass alle Teilbereiche der Praxis jedem zukommen und schon darüber miteinander in Verbindung stehen. Die Politik ordnet das Zusammenleben, während die Religion darüber hinaus die Innerweltlichkeit zu durchstoßen sucht. Daraus folgt:

Religion ist auf Politik angewiesen, wenn sie realisiert werden und nicht in der reinen Innerlichkeit als Religiosität verbleiben soll, für die in einer Gesellschaft aber auch ein Freiraum geschaffen sein müsste. Ob Politik auch auf Religion angewiesen ist, ist dagegen schwieriger zu beantworten, obwohl die Beispiele, dass institutionalisierte Politik sich der Religion bedient hat, zahllos sind. Hans Maier hat eindrücklich darauf hingewiesen 5), dass totalitäre Systeme sehr häufig religionsähnliche Elemente aufweisen. Beispiele aus der jüngeren deutschen Vergangenheit bieten nicht nur die Rituale, die vom NS-System gepflegt wurden, sondern auch die Jugendweihe der ehemaligen DDR. 6)

Ausgangspunkt ist also der Mensch und die Frage, wie er Politik und Religion in seiner Lebensführung unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen miteinander verbinden kann. Aufgabe der Politik ist es letztlich, für alle ein menschenwürdiges Dasein zu garantieren; und die der Religion ist es, auf die letzten Fragen eine Antwort zu geben. Die Frage, was ein menschenwürdiges Dasein sei, ist eine ethische, die eng mit der religiösen Praxis verbunden ist. In unserem Kulturkreis ist es so, dass die Ethik trotz aller Säkularisierung weitgehend vom Christentum geprägt worden ist. Gemeinwohl und Gerechtigkeit, die Derbolav der Politik als Leitziele zuordnet – man könnte, die allgemeinen Menschenrechte generalisierend, hinzufügen –, beruhen auf der Vorstellung von der Freigabe der Menschen durch Gott, ihrer Gleichheit vor ihm und der sich daraus ergebenden Verantwortung für einander. Der Säkularisierungsprozess hat dazu geführt, dass heute trotz dieser gemeinsamen Wurzel unterschiedliche Formen der religiösen Praxis nebeneinander bestehen, die aber in dem Toleranzgebot ihre Grenze haben. 7)

Wenn davon ausgegangen werden kann, dass die menschliche Selbstrealisierung über sein Handeln geschieht und dieses Handeln, das sich in bestimmten Teilbereichen konkretisiert, letztlich eine Gesamtpraxis ist. dann wird auch einsichtig, dass die verschiedenen Bereiche miteinander verbunden sind und jeder einzelne zugleich an den Schwerpunkten der anderen partizipiert. Das muss sich an den Institutionalisierungen der Praxis erweisen.

 

――――――――

 

1) Vgl. Wulf, Christoph (1994): Zur Einleitung; Grundzüge einer historisch-pädagogischen Anthropologie. In: ders. (Hrsg.) Einführung in die pädagogische Anthropologie. Weinheim und Basel: Beltz. S. 7-21. 

2) Vgl. Bock, Irmgard (2001): Pädagogische Anthropologie. In: Roth, Leo (Hrsg.): Pädagogik. Handbuch für Studium und Praxis München: Oldenbourg. S. 112-122. 

3) Derbolav. Josef {1975}: Pädagogik und Politik. Eine systematisch-kritische Analyse ihrer Beziehungen. Stuttgart/BerIin/Köln/Mainz: Kohlhammer, S. 91 

4) Benner, Dietrich (1987): Allgemeine Pädagogik. Eine systematiseh-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. Weinheim und München: Juventa. 

5) Maier, Hans (2004): Das Doppelgesicht des Religiösen. Religion – Gewalt – Politik. Freiburg/Basel/Wien Herder.  

6) Vgl. Dreier, Rolf/Chowanski, Joachim (2006): Die Jugendweihe – ein Teil deutscher Kulturgeschichte. In: Religion – Staat – Bildung Jahrbuch für Pädagogik, 2005. Frankfurt u.a.O.: Peter Lang, S. 195-207. 

7) Dass das Toleranzgebot nicht selbstverständlich ist, macht ein Blick in die Geschichte ebenso wie in die heutige Diskussion um den Fundamentalismus, den es nicht nur im Islam gibt, deutlich.