BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Irmgard Bock

* 1937

 

Religion und Politik - ein Versuch

 

2007/2021

 

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5. Die politische Dimension der Religion und die

religiöse Dimension der Politik in Europa heute

 

1979 hat Papst Benedikt XVI. auf einer Tagung der Katholischen Akademie in Bayern in Straßburg einen Vortrag mit dem Thema: „Europa – verpflichtendes Erbe für die Christen“ gehalten. Darin vertritt er die Meinung, dass Europa etwas zwischen „nebu­losem Idealismus und bloß pragmatischer Interessengemeinschaft“ 1) sein müsse. Nur wenn der Begriff Europa „eine Synthese aus politischer Realität und sittlicher Idealität darstell[t]e“, 2) könne er zu einer prägenden Kraft für die Zukunft werden. Wenn Gott nicht „mehr gemeinsames und öffentliches Summum bonum“ sei, sondern „ins Private verwiesen“, könne eine solche Gesellschaft nur als „posteuropäisch“ bezeichnet werden, 3) was in den meisten westlichen Staaten, die nur noch vom europäischen Erbe lebten, der Fall sei.

Die Neuzeit habe die Trennung von Glaube und Gesetz positiv in die Entwicklung eingebracht, in „dem das Recht des Gewissens und mit ihm die menschlichen Grundrechte gesichert“ 4) seien, eine Grundlage, auf der auch „unterschiedliche Ausprägungen des christlichen Glaubens koexistieren“ und kommunizieren können. Sie stehe aber zugleich in der Gefahr ihre Wurzeln zu verlieren, indem sie „zu einer Emanzipation der Vernunft dräng[t]e, die, dem Wesen der menschlichen Vernunft als einer nichtgöttlichen Vernunft von innen her widerspricht und darum selbst unvernünftig werden musste“. 5)

Der Papst entwickelt vier Thesen, die für die Existenz Europas wichtig und in seinem Erbe vorgegeben seien: Der Zusammenhang von Demokratie und unmanipulierbarem Recht; als Voraussetzung dieses Rechts die gemeinsame verbindliche Ehrfurcht vor den sittlichen Gesetzen und Gott, der nicht schlechterdings ins Private verwiesen werden dürfe, 6) damit verbunden die Absage an die Nation und die Weltrevolution als Summum bonum; die Anerkennung und Wahrung der Gewissensfreiheit, der Menschenrechte und der Wissenschaft. Wenn diese verkürzende Zusammenfassung eines kurzen Vortrags überdacht wird, ist wohl festzuhalten, dass Europa in diesem Sinne höchstens in der posteuropäischen Form existiert – trotz der Anerkennung der Gewissensfreiheit und dem Versuch, die Wahrung der Menschenrechte durchzusetzen.

Wenn man die organisatorische und politische Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft betrachtet, kann man zwar Ansätze religiöser oder genauer christlicher Wurzeln entdecken, aber die sind versteckt und durch die Geschichte vielfach gebrochen. Dass sie in der Gegenwart keine bedeutsame Rolle spielen, muss festgehalten werden. Humanität, ethische und rechtliche Fragen stehen im Mittelpunkt. 7) Die Diskussion um die angestrebte Europäische Verfassung zeigt das deutlich, und auch die Diskussion um den Beitritt der Türkei, die ja in verschiedenen Institutionen zu den Gründungsmitgliedern gehörte, scheint weniger von religiösen Überlegungen – was ja auch problematisch wäre, wenn man bedenkt, wie viele Menschen islamischen Glaubens schon jetzt in den Ländern Europas leben – als von generellen Ängsten vor dem Fremden und nicht zuletzt auch von den terroristischen Aktivitäten gespeist zu sein, die man undifferenziert mit dem Islam identifiziert.

 

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1) Ratzinger, Josef (1979) Europa – verpflichtendes Erbe für die Christen. Sonderdruck der Katholischen Akademie in Bayern München, S. 3 

2) A.a.O. 

3) A.a.O., S. 6. 

4) A.a.O., S. 10. 

5) A.a.O. 

6) Toleranz gegenüber Atheisten ist eingeschlossen. 

7) Vgl. Schmale. Wolfgang (2001): Geschichte Europas Wien/Köln/Weimar: Böhlau; Lenzen. Dieter (1994): Bildung und Erziehung für Europa? In: ZfPäd, 32. Beiheft, S. 31-48.