BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Carry Brachvogel

1864 - 1942

 

Die große Gauklerin.

Ein Roman aus Venedig

 

1915

 

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[181]

10.

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Venedig im Regen, – nichts Trüberes ist zu denken. Grau und schleimig, wie eine Riesenqualle liegt die Lagune an die Stadt gepreßt, der sie alle Schönheit und alle Lust aufzusaugen scheint. Das leuchtende Weiß und Orangegelb der Paläste ist von einem trüben Grau überströmt, Balkone, Loggien, Friese, die gestern noch wie ein letzter Gruß der Renaissance und des Barock waren, sehen heute gespenstisch, unmotiviert aus, wie Kleinodien fernster Zeit in einem Museum der Toten. Mißmutig, fast bestürzt über eine Unbill, die sie in lachender Sonne völlig vergessen haben, drängen sich die Menschen in den winkligen Gäßchen der Merceria und der Frezzeria, armselig lungern die Gondolieri auf nassen Randsteinen umher. Wer nicht muß, besteigt heute sicher keine Gondel, und wenn eine daherfährt, so ist's, als käme sie vom Begräbnis der letzten, menschlichen Freude. Selbst der Markusplatz mit dem Löwen und dem Kampanile sieht aus wie eine Theaterdekoration, die lieblos ins Tageslicht gestellt und im Regen vergessen worden ist, nur die Vaporetti eilen fauchend und prustend wie immer den Canal Grande auf und ab, als wollten sie mit ihrem Lärm verkünden, daß das Leben, [182] das Leben von heute, niemals stille steht. Aber das Leinendach, das heute über ihr Verdeck gespannt ist, klatscht vor Nässe und flattert wie ein müder Vogel, der sich die Nässe des Gewitters aus den Federn schütteln will, und das Fauchen und Prusten klingt wohl nur so, wie wenn einer recht laut spricht, um sich Mut zu machen, weil er fühlt, daß um ihn her unsichtbare Gespenster stehen. Vom Fischmarkt am Rialto her und aus allen kleinen Kanälen steigt ein seltsamer, beklemmender Geruch von toten Fischen, von zersetzten Muscheln, von fauligem Gemüse. Und die Calle stehen schwarz, undurchdringlich, als lägen auf ihrem schlammigen Grunde immer noch mit verglasten Augen und vermoderten, altfränkischen Kleidern Leichen, an deren Hälsen noch die blauen Fingermale oder die Dolchstiche der Republik zu sehen sind. Regen in Venedig, – wie ein Bußtag hängt er über der Stadt, auf daß sie in Reue alter Frevel gedenke und der Toten, von denen keiner mehr weiß, und deren Verwesungsgeruch heute doch überall schwebt …

Elisabeth saß in ihrem Zimmer und schrieb Briefe an ihre Brüder. Sie hatte vor alle Fenster die Vorhänge gezogen und das elektrische Licht über dem Schreibtisch ausgedreht, obwohl draußen der Kanonenschuß eben den Mittag verkündete. In der Calle war es aber trüber noch als auf dem großen Kanal, und Elisabeth fand seit langem Venedig bei Regen so unerträglich, daß sie es gar nicht sehen wollte und bei schlechtem [183] Wetter nie ausging. Sie konnte sich nicht an den Verwesungsgeruch gewöhnen und mußte dann immer voll schmerzlicher Sehnsucht denken, wie schön ein Regentag daheim in Deutschland war, selbst wenn man ihn im Augenblick als lästig empfand und auf ihn schalt. Wie über die spiegelnde Nässe breiter Straßen unablässig Autos, Straßenbahnwagen, Equipagen jagten, wie Menschen, die gewöhnt waren, mit einem rauhen Klima zu rechnen, sich von ihm weder die Laune noch das fröhliche Gesicht rauben ließen, durch Regen und Wind der Stimme nachliefen, die sie an diesen Tagen wie an allen andern hinausrief zur Arbeit, zum Kampf um das Leben, um das tägliche Brot. Wie aus all dem Lärm und Gewirr und Gehaste die Rasenpläne, die rot und weißen Blütenkerzen der Kastanien, die süßduftenden Flieder- und Jasminbüsche, die flammenden Kolben der Rhododendren auf Anlagen und Plätzen auftauchten, wie all das Grünen und Blühen und Duften sich dem Naß entgegenreckte, das vom Himmel herabfiel, und wie die Regentropfen lustig klatschend von Ästen und Blättern heruntersprangen, als wären sie ausgelassene Schulbuben beim wilden Spiel. Daheim, in Deutschland, genoß man das alles, ohne darüber nachzudenken, meinte wohl, es könne nur so und nicht anders sein, hier aber, an die Riesenqualle gepreßt, merkte man gerade an Regentagen mit leisem Schauder, wie fern diese Stadt der Natur und allem Lebendigen stand. Nicht auf Erde, sondern auf marmornen Fundamenten [184] erbaut, ohne Grün, ohne Vogelsang, ohne den Hufschlag der Rosse, ohne den erregenden Lärm rollender Räder schien sie wider die Gesetze der Natur und der Menschlichkeit gezeugt, und wenn etwas an ihr nicht steinern, sondern natürlich und menschlich war, dann war es mit Schlamm überzogen und roch nach Verwesung. So wenigstens schien es Elisabeth. Die Zeit, da sie Venedig mit den verliebten Augen ihrer Jugend betrachtet hatte, lag weit hinter ihr, und wenn die Fürstin Tassini sie heute gefragt hätte: „Do you like Venise?“ so hätte Elisabeth wahrscheinlich gesagt oder wenigstens gedacht, daß sie diese Stadt verabscheute, in deren schlammigen Kanälen die Gallionen ihrer Träume und Hoffnungen schmählich untergegangen waren. Zum erstenmal hatte sie dies Grauen vor der Stadt an jenem Abend empfunden, da sie mit Ettore von der Lügenreise nach seinen Gütern heimkehrte; seitdem war es zuerst sprungweise, dann schleichend immer wieder gekommen, wollte sie nicht mehr verlassen, so sehr sie sich auch gemüht hatte, es zu versuchen und Venedig wieder zu lieben, wie sie es früher geliebt hatte. Sie fand aber das alte Gefühl nie mehr. Vielmehr dachte sie jetzt manches Mal an die Abneigung, die ihr Bruder, der Leutnant Otto, damals, auf ihrer ersten Italienreise, gegen dies Land empfunden hatte, und wenn sie ihn damals belächelt hatte, so gab sie ihm heute recht. An den Marmorquadern dieser unnatürlichen Stadt und an den Geschöpfen, die sie hervorbrachte, an den [185] Gesetzen, von denen sie sich beherrschen ließ, stieß sich jeder die Stirne ein, der mit einem Herzen voll Sehnsucht und Idealen zu ihr kam.

Das Zimmer, in dem Elisabeth saß, war das rosenfarbene Damastboudoir, das Ettore eingerichtet hatte, als sie heirateten. Es hatte immer noch seine kostbaren, überzierlichen Möbel, aber es sah doch ganz anders aus als früher, da es eigentlich nur für die Phantasien einer großen Weltdame bestimmt schien. Allerlei praktische, vom modernen Kunstgewerbe gefertigte Gegenstände hatten die Damaststimmung mehr und mehr verdrängt, zeigten, daß in diesem Raum ein Mensch wohnte, der es gewöhnt war, sich auf sich selbst zu besinnen, und der seine Anregungen nicht von außen her bezog. An den Wänden hingen jetzt neben den Rokokobildern, die sich so stilvoll dem rosenfarbenen Damast angepaßt hatten, allerlei Familienporträte der Schöttlings und ganz moderne Kunstblätter, auf dem Schreibtisch stand in einem bescheidenen Rahmen eine Photographie, welche die beiden Knaben Elisabeths zeigte, ihr gegenüber die ihres Vaters. Auf einem großen Büchertisch lagen sowohl moderne Schriften wie deutsche und französische Klassiker, und die Böcklin-Mappe hielt gute Nachbarschaft mit einem großen, italienischen Werk, das Reproduktionen aus den Uffizien, dem Pitti und der Academia in Venedig barg. Schön und behaglich war das Zimmer, weil man eben überall die Spur eines Menschen, einer Frau fühlte. Doch wie dieser Raum seit wenig Jahren [186] seinen Charakter völlig verändert hatte, so war auch Elisabeth eine andere geworden, als sie damals gewesen, da sie mit ihrem Vater zum erstenmal Venedig grüßte.

Aeußerlich war sie wohl ziemlich die gleiche geblieben. Wer sie zum erstenmal und nur flüchtig sah, mochte denken, daß sie immer noch eine hübsche Blondine war, wer aber schärfer hinsah, merkte, daß auf diese weiße Stirn das Leben schon das grausame Wort geschrieben hatte, in dem schließlich jedes Frauenschicksal ausklingt: „Entsage!“

Die Ehe Priuli sah nach außen noch ziemlich tadellos aus, war aber in Wirklichkeit nichts mehr als eine Fassade, hinter der die Gatten sich unbemerkt immer weiter voneinander entfernt hatten, so daß sie jetzt einander kaum mehr zu unterscheiden vermochten. Die Leere, die Elisabeth schon so bald nach der Hochzeit zwischen sich und ihrem Mann gespürt hatte, war nie auszufüllen gewesen, hatte sich im Gegenteil immer mehr erweitert, so daß sie jetzt oft tagelang kaum anderes zueinander sagten als „Guten Tag“ und „Adieu“, nur weil sie sich gar nichts zu sagen hatten. Die Mahlzeiten mit der alten Gräfin waren jetzt meist die einzige Gelegenheit, wo ein Gespräch sich entwickelte, denn die Gräfin füllte wenigstens mit allerlei banalen Reden und Stadtneuigkeiten die Leere aus, die öde und beklemmend zwischen dem Ehepaar lag. Die Kinder aßen nicht mit am Tisch, für kurze Zeit hatte Elisabeth zwar versucht, den älteren Knaben neben sich zu setzen, aber Ettore [187] fütterte ihn unvernünftig mit allen möglichen Speisen, die das Kind nicht essen sollte, gab ihm unter schallendem Gelächter Wein und Kaffee zu trinken, ließ ihm alle Unarten durchgehen, so daß Elisabeth, die ihre Kinder genau so streng und einfach erziehen wollte, wie sie selbst erzogen worden war, den Kleinen wieder ins Kinderzimmer zu dem jüngeren Bruder und der Bonne zurückschickte. Ettore und seine Mutter waren zwar empört, spöttelten über die Pedanterie Elisabeths und begriffen nicht, daß ihr ein Erziehungsprinzip mehr galt als das Vergnügen, den Kleinen bei Tisch zu haben. Elisabeth ließ sie reden und sagte nichts. Sie war's schon so gewöhnt, daß sie mit all ihren Ansichten in diesem Hause allein stand. Zu Anfang freilich hatte sie manches Mal verzweifeln wollen, daß es zwischen ihr und ihrem Mann so gar nichts Gemeinsames mehr gab, nun aber hatte sie gelernt es zu ertragen und hing dem Unabänderlichen nicht weiter nach.

Ettore war immer oder fast immer so heiter, wie nur ein Mensch sein kann, der mit sich und seinem Dasein sehr zufrieden ist. Er führte jetzt das Leben, das er stets erträumt hatte, das Leben des reichen Müßiggängers, und er fühlte sich durchaus nicht bedrückt, daß er es nur dem Geld seiner Frau zu danken hatte. Während Elisabeth sich unter Herzeleid und allen Qualen der Angst von ihm losgerungen hatte, war er lächelnd von ihr weggetänzelt wie von einem Abenteuer, das angenehm war, dessen Zeit aber nun um ist. [188] Wenn er zunächst auch noch leidlich vorsichtig war, so wußte sie doch, daß er in Varietés und untergeordneten Lokalen den vulgären Zerstreuungen nachlief, die schon sein Junggesellenleben geschmückt hatten. Niemals hatte Elisabeth ein Wort oder auch nur eine Anspielung darüber verloren, denn es hätte ihrem Stolz widerstrebt, als eifersüchtige Frau vor ihrem Manne zu stehen. Die kleinen Mädchen waren ja auch noch gar nicht das Schlimmste; viel schlimmer war das andere, das sich ihr unversehens vor etlichen Monaten geoffenbart hatte.

Das war eine Nacht, in der Ettore erst nach Hause kam, als die Morgendämmerung schon mit ruckweisem Flimmern das Dunkel zu verdrängen begann. Es geschah jetzt nicht selten, daß er übermäßig lange im Klub oder sonst bei einem Amüsement blieb, und Elisabeth wunderte sich auch gar nicht mehr, stellte sich schlafend und blinzelte nur unter geschlossenen Lidern nach ihm hin, weniger aus Neugier, als um zu sehen, ob er nicht bald das Licht verlöschte, das ihrer Müdigkeit wehe tat. Sie erschrak, als sie sein Gesicht erblickte. Sie war's wohl gewöhnt, daß er übernächtig heimkam, aber so wie heute war er noch nie gewesen. Sein Gesicht sah fahl und verzerrt aus, das dichte Haar hing ihm in Büscheln zusammengeklebt in die Stirn, die Krawatte war verschoben, der Hut hing auf dem Hinterkopf, und seine Hände zitterten wie von einer großen, inneren Erregung. Er begann sich zu entkleiden, warf achtlos den Hut hierhin, den Rock dahin, knöpfte den Kragen ab, schleuderte [189] ihn in eine Ecke, ließ sich schwerfällig in einen Stuhl fallen und starrte vor sich hin. Bei jedem andern Mann hätte Elisabeth gedacht, daß er betrunken sei, aber sie wußte, wie nüchtern Ettore war und daß er, wo immer er sein mochte, nie um einen Tropfen mehr trank, als er gemächlich vertrug. Es mußte also etwas anderes sein, das ihn so zerwühlt hatte, und weil sie sich nicht denken konnte, was es sei, vergaß sie alles, was zwischen ihnen lag, und rief ihn an. Er fuhr aus seinem Hinbrüten auf, starrte sie einen Augenblick an, fuhr sich mit einer wilden Geste durch die zerzausten Haare, ließ die Arme wieder sinken und verbarg das Gesicht in den Händen wie einer, der zu Ende ist mit seiner Kraft und seinem Denken. Elisabeth fühlte, wie ihr das Herz bis zum Halse schlug vor Angst.

„Ettore! Um Gottes willen, Ettore, sag' doch, was geschehen ist!“

Er ließ die Hände sinken, starrte seine Frau wieder mit gläsernem Blick an, sprang dann auf, schritt heftig gestikulierend, fluchend, nach Unbekannten mit Schimpfwörtern werfend im Zimmer hin und her. Da erfuhr sie's denn: er hatte in dieser Nacht im Klub an 80 000 Lire verloren.

„Verloren, haha, das sagt man wohl so! Verloren, was heißt verloren? Abgenommen haben sie mir's, abgeschwindelt, abgegaunert wie professionelle Falschspieler, diese Lumpen, diese Betrüger, diese …!“

Elisabeth hatte sich im Bett aufgesetzt, sah auf den rastlos hin und her schreitenden Mann und verstand [190] wohl, daß er jetzt Dinge sagte, die er schwerlich verantworten konnte, und an die er bei ruhigem Blut selbst nicht glaubte. Eins nur blieb Wahrheit: er hatte wie ein Wahnsinniger gespielt und verloren. Sie ballte die Fäuste, streckte sie zornig nach ihrem Manne aus, als wolle sie ihn treffen, preßte sie dann vor die Augen und stöhnte zwischen Abscheu und Tränen:

„Ettore, o Ettore, was hast Du getan!“

Wütend blieb er stehen.

„Ettore, o Ettore, was hast Du getan!“ äffte er sie mit verzerrtem Gesicht nach. „Glaubst Du vielleicht, daß das Geld davon wieder herkommt? Ah, ah, le brutte bestie, dieser Gaulo, dieser Nicco Fabbriani! Hat man je so etwas gesehen? Ausgeplündert, ausgeraubt haben sie mich wie Banditen. Aber ich werd's ihnen schon zeigen, diesen Halunken, diesen Griechen! Bei der Polizei müßte man sie anzeigen und ihnen das Handwerk legen. Wie sie's gemacht haben, weiß der Kuckuck, aber mit rechten Dingen ist es nicht zugegangen, das schwör' ich bei allen Nothelfern und bei meiner ewigen Seligkeit!“

Er wetterte und fluchte noch eine Weile fort, kam dann langsam zu Elisabeth hin, setzte sich auf den Rand ihres Bettes, umfaßte sie mit beiden Armen und fing an zu schluchzen.

Carina, ich bin so unglücklich, Du weißt gar nicht, wie mir zumute ist! Sei nicht böse, bitte, bitte, Liebste, sei nicht böse, wenn ich abscheulich und roh gegen Dich [191] war. Aber wenn Du wüßtest, wie diese Bestien zugesetzt haben …“

„Scht, scht!“

Elisabeth bezwang den Ekel, der ihr im Halse saß, glitt leise tröstend über Ettores wirres Haar, versuchte ihm zuzureden, seine Anklagen zu ersticken, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie hielt ihn nur an ihrer Brust und weinte lautlos, stoßweise über seinen Kopf hin, weinte viel weniger über das Bekenntnis, das er abgelegt, als über alles, was zwischen ihnen in Scherben lag …

Als Ettore eine Weile wie ein Kind an der Brust seiner Frau gestöhnt und geschluchzt hatte, war er auch müde wie ein verweintes Kind, legte sich zu Bett und schlief bis in den Mittag hinein einen bleischweren Schlaf. Als er aufwachte, fühlte er sich wohl und erquickt, und als er gar erst die Sonne am Himmel stehen sah, kam ihm diese ganze Nacht nur wie ein unwahrscheinlicher Spuk vor. Er machte sorgfältig Toilette, frühstückte behaglich und spürte nur eine leise Verlegenheit, als er des Geldes wegen in das Zimmer seiner Frau gehen mußte. Elisabeth hatte auf den ausdrücklichen Wunsch ihres Vaters hin die Verwaltung ihres Vermögens in Händen behalten, und wenn auch Ettore stets jede Summe hatte erheben können, die er wollte, so bedurfte er doch jedesmal die Unterschrift seiner Frau. Um die ganze Geschichte ihrer Wichtigkeit zu entkleiden und sie nur wie ein kleines peinliches Abenteuer [192] darzustellen, gab er sich Mühe, recht sorglos auszusehen, legte sein scharmantes Lächeln auf und spazierte heiter, Hut und Stöckchen in der Hand, zu seiner Frau hinein.

Wie er sie erblickte, wurde ihm unbehaglich zumute. Er merkte, daß sie wieder das Gesicht trug, das er schon auf der Hochzeitsreise an ihr gesehen hatte und später noch einmal, nach der Heimkehr von den Gütern, – das Gesicht der fremden Frau, die er nicht kannte. Er küßte ihr die Hand, erkundigte sich teilnehmend, wie sie geschlafen habe. Dann mit leiser, schmelzender Stimme:

Carina, möchtest Du mir nicht den Scheck ausfüllen? Ich will diese leidige Angelegenheit doch so bald wie möglich in Ordnung bringen!“

Sie stand an ihrem Schreibtisch, reichte ihm den Scheck, der schon seit heute morgen ausgestellt dalag. Sie kämpfte noch mit sich, denn es war ihr peinlich, dem Manne Vorwürfe zu machen oder Verhaltungsmaßregeln zu geben, aber sie bezwang sich und sagte, während sie ihm den Scheck reichte:

„Ettore, so peinlich es mir auch ist, so muß ich doch noch zwei Worte über diese Sache sprechen. Ich habe Dir stets meine Bereitwilligkeit gezeigt, all Deinen Wünschen und Neigungen entgegenzukommen, und ich gebe Dir auch heute diesen Scheck, weil ich weiß, daß Spielschulden innerhalb vierundzwanzig Stunden zu bezahlen sind. Aber ein zweites Mal tu ich's nicht, merk' Dir das! Ich habe nicht Lust, das Vermögen der Kinder [193] von Dir verspielen zu lassen. Es heißt ja wohl, einmal ist keinmal, darum wollen wir über das, was gestern nacht war, nicht weiter reden, aber ich bitte Dich um Deinet- und um meinetwillen, tu' es kein zweites Mal, denn es gäbe nur peinliche Szenen und für Dich jedenfalls die unangenehmsten Folgen. Es gibt Dinge, von denen mich kein Mensch auf der Welt, auch Du nicht, abbringen kann. Zu diesen Dingen gehört meine Verachtung für alles, was Spiel und Spieler heißt, und ich würde mich unter keiner, hörst Du, unter keiner Bedingung dazu hergeben, einem Spieler irgendwie zu helfen –“

Ettores Gesicht, das zu Anfang dieser Rede noch lächelnd, ja, ein wenig unterwürfig ausgesehen hatte, wurde jetzt finster, und seine Augen flimmerten zornig. Er sagte grob:

„Beruhige Dich, ich werde Dich nie mehr in Anspruch nehmen. Man ist ja, Gott sei Dank, auf Dein Geld nicht angewiesen!“

„Um so besser für Dich!“

„Ja wahrhaftig! Blut bleibt eben Blut, und Eleonore ist eine Priuli, nicht eine deutsche Kleinkrämerin wie Du!“

Da Ettore so verständlich andeutete, daß er ein andermal den reichen Mann der Schwester in Anspruch nehmen würde, erschrak Elisabeth, wollte aufschreien, daß um nichts auf der Welt Ettore jemals bettelnd zu Lissignolo gehen dürfe, aber sie besann sich und wandte sich nur schweigend von ihm ab. [194]

Von diesem Tage an haßte Ettore seine Frau. – –

Unaufhörlich erwog nun Elisabeth in ihrem Kopf die Frage, ob Ettore wirklich einmal den verächtlichen Mut haben würde, mit fordernder Hand vor seinen Schwager hinzutreten. Sie konnte es nicht glauben, hielt es nur für eine brutale Renommisterei, mit der er sie hatte ärgern wollen, denn sie hatte immerfort das Gefühl, als ob sie alle Lissignolo gegenüber schuldig wären, schuldiger als die alte Gräfin und Ettore freilich sie. In jener Nacht, da sie Eleonore bei der Heimkehr ertappt hatte, war es ihr wohl selbstverständlich erschienen, daß sie das Mädchen nicht verraten, nicht einen ungeheuren Skandal über die ganze Familie heraufbeschwören durfte. Freilich hatte sie damals geglaubt, daß Eleonorens wildes Blut sich in der Ehe sänftigen und daß sie zum mindesten den Versuch machen würde, Herrn Lissignolo eine gute Gattin zu sein. Sie hatte ja nichts, gar nichts von der verwegenen Psychologie dieses Mädchens erfaßt, das zugleich leidenschaftlich und berechnend, alles dem einen Gefühl unterordnete, von dem es beherrscht war, das Gut und Böse kaum mehr unterschied und nichts wollte als den Mann, dem es verfallen war. So lachte denn seit langem schon ganz Venedig über den ältlichen Bankier, der nicht merkte, wie seine Frau ihn betrog, wie sie mit dem Geld, das sie ihm abschmeichelte, zu dem Liebhaber lief, der immer verwöhnter, immer luxuriöser wurde und die Reitpeitsche hob, wenn Eleonore nicht genug brachte. Es schien Elisabeth unbegreiflich, wie [195] dieselbe Frau den einen Mann so schamlos betrügen und dem andern so sklavisch ergeben sein konnte, und zu Anfang glaubte sie auch noch, daß Eleonore sich durch Vorstellungen von ihrem Irrtum abbringen ließe oder daß die Roheiten des Liebhabers sie ernüchtern und zur Besinnung bringen würden. Doch zum zweitenmal täuschte sie sich über diesen Frauencharakter und den Weg, der ihm vorgezeichnet war. Eleonore versprach zwar immer wieder alles, was man wollte, schwur bei allen Heiligen und beim Glauben an ihre ewige Seligkeit, daß sie sich aus den schmählichen Banden lösen würde, konnte nicht genug Schlechtes von dem Liebhaber erzählen, der sie mißhandelte und obendrein noch mit wahnsinniger Eifersucht quälte, lief aber doch wie eine Hypnotisierte zu ihm hin, sobald er schrieb: „Ich erwarte Dich!“

Da Elisabeth sah, daß alles vergebens war, zog sie sich unauffällig von Eleonore zurück, die aber trotzdem fast täglich in den Palazzo Priuli zu ihrer Mutter kam. Niemals betrat Elisabeth die Zimmer der alten Gräfin, wenn Eleonore da war, aber sie hörte bis in ihre Wohnung, daß es zwischen den beiden Damen Priuli häufig nichts weniger als friedlich herging. Sie zankten und schrien miteinander, und Elisabeth wußte, daß der Streit dann immer um Eleonorens Liebhaber ging. Die alte Gräfin hatte freilich nicht genau gewußt, aber doch geahnt und gefürchtet, daß alles so kommen würde, wie es gekommen war, und darum auch hatte sie nicht ins Haus [196] zu der Tochter ziehen wollen. Vor der Zeit alt geworden, begriff sie nichts mehr von der seltsamen Hörigkeit, zu der eine unselige Leidenschaft verdammt, verstand nicht, daß es Eleonore nicht genügte, behaglich im Reichtum zu sitzen, und jammerte immer wieder, daß die Priuli eben kein Glück hätten. Elisabeth sagte ihr dann wohl einmal unter vier Augen:

„Du irrst Dich, die Priuli haben wohl Glück, aber sie geben keines!“

„O, sage das nicht! Sie verlieben sich nur immer in Menschen, die sie dann mißhandeln oder die nicht zu ihnen passen!“

Elisabeth hatte es längst aufgegeben, auf solche Reden zu antworten. Gerne überließ sie den Streit den beiden Damen, die nicht müde wurden, ihn zu erneuern. Mehr als einmal schon war Eleonore erhitzt, mit funkelnden Augen und schiefgerücktem Hut aus dem Zimmer ihrer Mutter gestürzt, hatte laut geschrien, daß es durchs Haus hallte: „Mai più … no, no, mai più …“, aber trotzdem war sie auch am nächsten Tag wieder gekommen, wie an allen vorhergehenden, und unter Tränen und Küssen feierten die beiden Frauen Versöhnung, die freilich kaum bis zum übernächsten Tag anhielt. Als Friedensstifter zwischen ihnen trat nicht selten Ettore auf, der an der Schwester hing wie in früheren Tagen, und mit der man ihn so häufig sah, als wären sie beide unvermählt. Mitunter schrie er die beiden Damen heftig an, daß sie nun endlich Ruhe geben sollten, mitunter brachte [197] er sie durch sein scharmantes Wesen und ein paar Witze zu Heiterkeit, und weil er fühlte, daß er in dem Zimmer seiner Mutter etwas galt und etwas wie eine Macht vorstellte, saß er stundenlang mit der mamma und der Schwester beisammen und redete mit ihnen, was sie alle drei lebhaft interessierte, Nichtigkeiten und Klatsch. Zuweilen legten sie auch gemeinsam Patiencen, die, je nachdem sie ausgingen oder nicht ausgingen, eine Frage bejahten oder verneinten, am öftesten aber rückten sie ihre Stühle näher zusammen, sprachen leiser und sahen verstohlen nach der Tür, als ob draußen die stände, von der sie redeten und flüsterten, – Elisabeth.

Elisabeth dachte aber nicht daran, die Lauscherin zu spielen. Sie wußte, auch ohne daß ihr Ohr es hörte, was in der Wohnung ihrer Schwiegermutter vorging. Verstand, daß dort die fremde Brut saß, die zusammen gehörte und zusammenhielt, und sie hatte mitunter das Gefühl, als müsse sie ersticken vor Zorn und Ekel.

In der letzten Zeit, seit jener Nacht, da Ettore seinen Spielverlust gebeichtet, wendete sie freilich kaum mehr einen Gedanken an die Familienzusammenkünfte bei der alten Gräfin. Sie war jetzt erfüllt von einer beständigen inneren Unruhe, von einer Angst, als ob sie immerfort auf Glatteis dahinginge und jeden Augenblick tödlich stürzen könnte. Was blieb ihr zu tun, wenn Ettore nicht bloß zufällig einmal gespielt hatte, wenn das Spiel für ihn zu einer Leidenschaft wurde, der er besinnungslos alles opferte? Es war nur natürlich, daß sie, die in [198] Offizierskreisen aufgewachsen war, sich über Spiel und Spieler keine Illusionen machte, daß sie ziemlich genau wußte, wie selten es vorkommt, daß einer nur einmal spielt und dann nie wieder. Jede Nacht legte sie sich jetzt mit der Furcht zu Bett, daß die schreckliche Szene von neulich sich wiederholen könne, und immerfort forschte sie heimlich in Ettores Gesicht, ob es heiter war oder verstimmt, horchte sie mit Herzklopfen auf, ob er in den Klub ging oder ob er ungewöhnlich spät nach Hause kam. Doch Woche auf Woche verstrich, Monat reihte sich an Monat, und nichts von dem, was sie ängstigte, war eingetroffen. Ettore war müßig, sorglos und heiter wie immer, nur wenn er zu seiner Frau sprach, hatte sein Mund einen gezerrten Ausdruck, und seine Augen flimmerten wie in verstecktem Haß. Elisabeths gespannte Nerven zitterten nun vor seiner heitern Miene mehr noch als vor seiner verstörten. Wie, wenn alles nur Schein, nur Komödie wäre, wenn er wieder und wieder gespielt hätte und durch die Schwester den Schwager in Anspruch nahm?! Sie fühlte, wie ihr heiß wurde bei der Vorstellung, daß sie vielleicht, ohne es zu wissen, Lissignolo noch mehr verschuldet sei als zuvor, daß vielleicht schon jetzt ganz Venedig bedauernd über sie die Achseln zuckte, geradeso wie über Lissignolo, der ja auch nicht wußte, was ihm geschah …

Neben diese peinlichen Vorstellungen trat eine nicht minder peinliche Wirklichkeit. Bis zu jener verhängnisvollen Nacht hatte Elisabeth die Verwaltung ihres Vermögens [199] ganz und gar ihrem Mann überlassen, nun aber war ihr Vertrauen zu ihm geschwunden, und sie erkannte es als ihre Pflicht, selbst zur Bank zu gehen und sich den Stand ihres Besitzes klar darlegen zu lassen. Sie hatte Mühe, ihren Schreck zu verbergen, als der Beamte ihr die Ziffern des Kontos nannte, denn sie hatte nicht geglaubt, ja nicht einmal geahnt, daß die große Mitgift, die sie ins Haus gebracht hatte, binnen ein paar Jahren so rasch zusammenschmelzen konnte. Man konnte nicht daran denken, je wieder einzuholen, was Ettore in Gedankenlosigkeit oder Freude an Luxus vertan hatte, aber man mußte wenigstens trachten, den Besitz nicht weiter zu mindern und durch kleine, heimliche Einsparungen den allzu großen Haushalt allmählich einfacher zu gestalten. Elisabeth war ja nur ganz kurze Zeit ein reiches Mädchen gewesen, hatte die längste Zeit ihres Lebens die Existenz der armen Offizierstochter geführt, aber es tat ihr jetzt doch bitter weh, daß die schöne Sorglosigkeit dieser letzten Jahre schon wieder vorüber war, daß sie wieder wie einst hinter einer glänzenden Außenseite Geldsorgen und Kümmernisse verstecken sollte.

Seit der Taufe des ersten Kindes war Elisabeths Vater nur mehr vorübergehend in Venedig gewesen. Er ging dem Schwiegersohn aus dem Wege, denn wenn Elisabeth auch nie direkt über Ettore klagte, so las der Oberst doch aus ihrem müden Gesicht und zwischen den Zeilen ihrer Briefe, daß sie nicht glücklich war. Als sie ihm dann in der Erregung über Ettores Spielverlust [200] zum erstenmal einen verzweifelten Brief sandte, antwortete er ihr: „Ich begreife Deinen Schrecken sehr wohl, wenngleich ja ein einmaliges Vorkommnis noch nicht zu der Annahme berechtigt, daß Ettore wirklich ein Spieler ist, zudem wir ja früher nie etwas von einer Leidenschaft für Jeu an ihm bemerkt haben. Aber in Deinem Brief steht noch viel mehr als bloß die Geschichte mit den 80 000 Lire, es stand auch schon in frühern mancherlei, was mich sehr stutzig gemacht hat, über das ich aber schwieg, weil ich es mehr herausgelesen habe, als Du es hineingeschrieben hast, und weil es keinen Sinn hat, über Dinge zu korrespondieren, die sich nicht fassen lassen. Jetzt aber meine ich, daß der Augenblick gekommen ist, wo man oder vielmehr wo ich den Stier bei den Hörnern packen muß. Also: ich bin überzeugt, daß Du gar nicht glücklich bist, und darum sag' ich Dir: ‚Nimm Deine Kinder und den Rest des Geldes, den der Conte Priuli noch übriggelassen hat, und komm heim!‘ Venedig mit allem Drum und Dran war offenbar ein großer Irrtum von uns, – gestehen wir uns das ruhig ein, verlassen wir ihn und versuchen wir, Dir in der Heimat ein anderes Glück aufzubauen oder wenigstens Dich wieder zufrieden und ein bißchen heiter zu machen!“

Als Elisabeth diesen Brief gelesen hatte, war's ihr, als ob an einem venezianischen Regentage ein breites Tor im Palazzo Priuli aufspränge, ein Tor, durch das sie die Heimat sah mit Waldesrauschen und Vogelsang, mit Menschen, die sprachen und fühlten wie sie. Wenn sie [201] wollte, konnte sie noch heute durch dies Tor hinausschreiten, der Verheißung entgegen, die da mit allen Stimmen der Sehnsucht rief und lockte und sang. Ueberwältigt von dem Glück, das der Vater vor ihr erschloß, schlug sie die Hände vors Gesicht und war so wirr von jagenden Gedanken, als ob ein beginnendes Fieber seinen unruhigen Traum um sie breiten wollte. Willig überließ sie sich der holden Konfusion ihres Gehirns, das gar keine Pläne schmiedete, keine Entschlüsse faßte, sondern nur, wie von schwerem Druck entlastet, in der Vorstellung schwelgte, daß nun alles Elend hier zu Ende sei und draußen, jenseits des Tors, im Waldesrauschen der Frieden warte. Nach ein paar Stunden aber war dieser Rausch der Empfindung vorüber, und da wußte sie, daß sie dem Ruf des Vaters nicht folgen konnte. So schrieb sie denn am übernächsten Tage an ihren Vater:

„Du glaubst ja gar nicht, wie glücklich mich Dein Brief gemacht hat und wie gern ich ihm und Dir folgen würde, aber es geht doch nicht. Es geht schon ganz einfach deshalb nicht, weil ich im Augenblick keinen triftigen Scheidungsgrund fände, denn wegen der einen Spielschuld würde mich nicht einmal ein deutscher Gerichtshof scheiden, wieviel weniger gälte sie in einem Land, das keine Ehescheidung kennt! Ich habe es hier schon ein paarmal mit angesehen, wie entsetzlich schwer es ist, eine Trennung durchzusetzen, selbst wenn die Schuld des Mannes nach unseren Begriffen klar am Tage liegt. Ich könnte natürlich, [202] wie Du meinst, Kinder und Geld zusammenpacken und zu Dir fahren, aber Ettore würde Hindernis auf Hindernis türmen und sich keinen Augenblick besinnen, mir die Kinder mit Gewalt wegnehmen zu lassen. Er täte es erstens, weil er an ihnen hängt, und zweitens, weil er die angenehme Existenz, die ich ihm biete, nicht ohne weiteres aufgeben möchte. Stelle Dir vor, was das für Aufregungen wären und was für Eindrücke und Erinnerungen für die Kinder! Aber auch abgesehen davon käme ich mir kläglich vor, wenn ich schon jetzt alles verloren geben wollte, was mir doch einmal so viel bedeutet hat. Freilich habe ich längst jeden Glauben an eine Umwandlung Ettores verloren, aber dieser Mann war mir doch einmal so viel, daß ich mich noch immer nicht völlig von ihm losreißen kann. Du wirst das wohl Schwäche nennen, vielleicht auch recht haben, aber im Augenblick käme mir eine Flucht zu Dir doch wie Kleinlichkeit und Feigheit vor. Ich meine, man muß seinen Posten immer bis zuletzt ausfüllen, und wenn man ihn sich noch selbst herausgesucht hat, erst recht. Erst wenn mir das Gesetz und meine eigene Erkenntnis bestätigen würden, daß ich recht tue, wenn ich meinen Mann verlasse, werde ich heimkehren. Bis dahin aber halte ich aus, so schwer es auch mitunter sein mag, denn jetzt haben wenigstens die Kinder Ruhe, während sie, wie ich Dir schon sagte, den gewalttätigsten Szenen ausgesetzt wären, wenn ich fortginge, ohne dazu berechtigt zu sein.“ [203]

In all der Zeit, da Elisabeth in Venedig lebte, hatte sie unter den Damen ihres Kreises keine Freundin gefunden. Für alle war sie immer die Fremde geblieben, und sie selbst hatte zu keiner ein Herz gefaßt, hatte sich nie in die Interessen und Anschauungen der andern hineinleben können. Nun aber näherte sich ihr, just in den Tagen, da in den Salons die Legende aus den achtzigtausend Lire bereits zweimalhunderttausend gemacht hatte und jeder mit Neugier auf Elisabeths Gesicht sah, nun näherte sich ihr die Frau, von der sie es am allerwenigsten vermutet hätte, – die Fürstin Tassini.

Seitdem Elisabeth anfing, weniger glücklich und enttäuscht auszusehen, hatte die Fürstin sie mit wachsendem Interesse betrachtet. Wenn auch ihre Miene gleichgültig und ablehnend blieb, so verfolgte sie doch aufmerksam jede Spur, die sich in das Gesicht der anderen Frau eingrub, die wie sie aus fremdem Land hergekommen war, um hier vermutlich dasselbe Schicksal zu erleben wie die Engländerin. Sie sprach jetzt in Gesellschaften Elisabeth öfters an, hielt sie im Gespräch fest, ohne indes je durch einen wärmeren Tonfall oder ein vertraulicheres Wort Freundschaftlichkeit zu verraten. Als dann allmählich durchsickerte, daß die Ehe Priuli doch wohl nicht so gut ging als sie aussah, als die Damen der Gesellschaft merkten oder von ihren Männern und Brüdern erfuhren, daß Ettore wieder wie früher allerlei Abenteuern nachstieg, und als gar erst die Legende von den verspielten Hunderttausenden überall bekannt und [204] besprochen wurde, fragte die Fürstin Elisabeth gelegentlich, ob sie nicht am nächsten Tag den Fünfuhrtee bei ihr nehmen wolle. Elisabeth sagte „ja“ und war überrascht. In all den Jahren war sie der Fürstin nur bei großen Festen sowohl im Palazzo Tassini wie in ihrem eigenen Haus oder am dritten Ort begegnet, aber gar nie hatte die Fürstin sie zu einem intimen Beisammensein gebeten. Sie war neugierig, diese Frau unter vier Augen zu sprechen und zu sehen, wie die Fürstin eigentlich war, wenn das Gepränge der großen Gesellschaften und des offiziellen Tons von ihr abfiel. Sie fuhr pünktlich um fünf Uhr am Palazzo Tassini vor, wurde von dem italienischen Haushofmeister empfangen, den sie schon kannte und der sie durch eine Reihe von Gemächern führte, in denen sie schon manches Mal gespeist und getanzt hatte, die aber jetzt kalt und ein wenig düster dalagen. Er geleitete sie, bis sie vor einer hohen Mahagonitür mit getriebenen Goldbeschlägen standen, an der er sich mit einer feierlichen Verbeugung verabschiedete, als sei sein Reich hier zu Ende. Die Tür wurde dann von innen geöffnet, und ein Diener, dem man auf zehn Schritte den Engländer ansah, führte Elisabeth durch ein kleines Vorzimmer zu den intimen Wohnräumen der Fürstin.

Die Fürstin saß in einem Korbstuhl am Fenster, blätterte in „Lady's Pictorial“, stand langsam auf, als Elisabeth eintrat. Sie legte das Journal beiseite, reichte Elisabeth die Hand: [205]

I'm glad to see you!

So I am too!

Elisabeth hatte mit der Fürstin stets Englisch gesprochen, hatte es aus Liebenswürdigkeit getan und weil sie es von allen um sich her so sah. Hier aber, in diesem Raum schien es unmöglich, überhaupt eine andere Sprache zu Wort kommen zu lassen, denn alles hier trug englische Prägung, war auf englische Anschauungen und Gewohnheiten abgestimmt, und der Haushofmeister draußen hatte wohl recht, wenn er sich so verneigte, als ob hier sein Reich zu Ende wäre. Die Einrichtung des Zimmers, in dem die beiden Damen saßen, war echt Chippendale, alles aus nachgedunkeltem Mahagoni, vermischt mit bequemen, modernen Korbmöbeln, die dem Raum ein ungemein behagliches Aussehen gaben. An den Fenstern hingen helle, sanft abgetönte Gardinen, an den Wänden süßliche Bilder im englischen Geschmack; es gab überall viele Blumen, und auf Borten und Tischen standen und lagen englische Bücher, Zeitschriften und Tageszeitungen umher. Am Fenster, zwischen zwei Korbsesseln, war der kleine Teetisch bereitet, der von kostbarem Silber funkelte, die Kammerjungfer, die bediente, sah nicht weniger englisch aus als der Diener im Vorzimmer und trug die Uniform der englischen Jungfern: das schwarze Kleid, den weißen Umlegekragen und die breiten Manschetten, das kokette, weiße Häubchen und die weiße Schürze. Die Fürstin selbst verriet heute noch deutlicher als sonst ihre Rasse. Sie [206] schien eingeboren in das weichfallende Teekleid aus taubenblauer Seide und sah auf eine gewisse Entfernung mit ihrer schlanken Gestalt und dem rötlichen Haar wie ein junges Mädchen aus. Sie trug auch heute einmal nicht die berühmten Perlen, gerade als ob sie hier durch keine Erinnerung an das gestört sein wollte, was jenseits der Mahagonitür lag. Als die Kammerjungfer den Teekessel angezündet hatte, schickte sie das Mädchen weg, reichte selbst kleine Sandwichs und Kuchen und bemühte sich, das Gespräch mit jenen nichtssagenden Redensarten zu eröffnen, die Elisabeth schon an ihr kannte. Die Fürstin hätte nun allerdings auch bedeutende und originelle Sätze reden können und hätte doch im Augenblick an Elisabeth keine aufmerksame Partnerin gefunden, denn die junge Frau war so überrascht von der durchaus englischen Atmosphäre, die sie hier umgab, daß sie nur Eindrücke auf sich wirken ließ und der Fürstin ganz mechanisch antwortete. So stark war ihr Erstaunen, daß sie es nicht in sich verschließen konnte, vielmehr zu der Fürstin sagte:

„Wie seltsam! Wenn man hier bei Ihnen sitzt, ist man nicht mehr in Venedig, sondern in Ihrer Heimat!“

Die Fürstin nickte.

„Natürlich! Ich könnte nicht sein, wenn ich nicht ein Stück England um mich habe. Wenn es Sie interessiert, zeige ich Ihnen auch gelegentlich einmal meine kleine Church und mache Sie mit meinem Reverend bekannt, der jeden Sonntag für mich Gottesdienst hält!“ [207]

Das Gespräch wurde allmählich wärmer, intimer. Sie sprachen von der Heimat, Elisabeth von Deutschland, die Fürstin von England, Elisabeth mit Wärme, die Fürstin mit Stolz, mit einem Selbstbewußtsein, das wie eine Fanfare schmetterte. Und ganz von selbst kamen sie dann auf das Land, dem sie jetzt gehörten, auf die Stadt, in die sie jetzt das Leben zwang … Die Fürstin fragte mit einem kleinen, mokanten Lächeln, während sie ihre grauen Augen fest auf Elisabeths Gesicht richtete:

Do you still like Venise so very much?

Elisabeth errötete ein wenig, antwortete nicht gleich, weil sie wohl verstand, welchen Sinn die Fürstin in die Frage legte. Dann aber hob sie den Kopf, erwiderte den Blick der grauen Augen klar und offen, als gäbe sie Vertrauen um Vertrauen.

„Nein, ich liebe es nicht mehr so sehr. Die Stadt ist so zauberhaft, wenn man sie nur auf der Durchreise sieht, aber wenn man hier leben muß – –“

I'm glad you say so!

Sie blieben eine kleine Weile stumm. Sie hatten sich verstanden und verstanden sich auch fernerhin, wenn sie von Venedig sprachen und es anklagten. Elisabeth sprach mit einer Bitterkeit, über der es aber doch wie ein Trauerschleier lag, die Fürstin dagegen hatte für die Stadt ihrer Leiden nur noch Hohn und Haß.

„Venedig, – eigentlich ist das nur ein lächerlicher Begriff. Liverpool oder Edinburg stellen heutzutage mehr vor als Venedig!“ [208]

Es klang ein so überstarkes Selbstbewußtsein in ihren Worten, daß es Elisabeth zum Widerspruch reizte.

„Nun ja, Liverpool oder Edinburg sind eben Handelsstädte, ungefähr so wie bei uns Krefeld oder Bremen, aber Venedig war doch einmal eine Großmacht!“

„War! Was hat man von dem, was war? Heute kommt es mir vor wie eine Gauklerin, die sich mit einer großen Vergangenheit drapiert und ausplündert –“

„Und wir sind das Publikum, das der Gauklerin auf ihre Mätzchen hereinfällt!“ sagte Elisabeth und zwang sich zu lächeln, denn sie wollte das Gespräch nicht gar zu ernst und hart werden lassen. Die Fürstin aber fuhr unbeirrt fort:

„Eine Gauklerin ist es, ein Bettelweib, das nichts von uns will als Geld und immer wieder Geld! Haben Sie je schon etwas Geldgierigeres gesehen, als die Venezianer sind?“

Elisabeth hätte gern erwidert, daß doch auch die Engländer nicht gerade als Geldverächter galten, aber selbstverständlich sagte sie es nicht, sondern meinte nur nachdenklich:

„Ach, wenn sie nur geldgierig wären, das wäre noch nicht das Schlimmste! Aber es ist so schwer, sich in das fremde Volk hineinzudenken und hineinzufinden. Ich hab' es bis heute noch nicht gekonnt!“

„Ich hab' es nie gekonnt und will es auch nicht können.“ [209]

Sie sprachen noch lange hin und her. Keine erwähnte je ihren Gatten mit Namen, keine sagte ein Wort über ihr eigenes Leben. Aber der Name „Venedig“ kehrte immer wieder, und es war zugleich rührend und komisch, wie sie an diesen Namen alles richteten, was eigentlich an den Mann gerichtet sein sollte, wie jeder Schmerz, jede Schande, jede Bitterkeit, die sie von ihm erfahren hatten, immer wieder „Venedig“ hieß. So blieb es auch, als die Fürstin die Woche darauf den Tee bei Elisabeth nahm und bei allen künftigen Teestunden im Palazzo Tassini, denn der Fürstin gefiel es jetzt, mit Elisabeth zu plaudern und verschleierte Bekenntnisse auszutauschen. Niemals aber fiel in diesen Gesprächen ein Wort, das ganz persönlich lautete, niemals hieß es „ich“ oder „er“, sondern immer nur „man“ und „Venedig“. Sie verstanden sich auch so ganz gut, und jede von ihnen empfand es angenehm, daß die Diskretion der andern jede Vertraulichkeit verscheuchte, die vielleicht später einmal bereut werden konnte.

Elisabeth dachte nach dem ersten Besuch lange über die Fürstin nach. Sie hatte, seitdem sie diese Frau zum erstenmal beim Blumenkorso gesehen, niemals das Interesse für sie verloren, wenngleich die Fürstin es nicht zu erwidern schien. Sie dachte nach und sagte sich, daß etwas an dieser Frau interessant war, das nicht offen am Tage lag und mit ihrem Wesen als Frau oder als Dame der Gesellschaft keinen Zusammenhang hatte. Denn die Fürstin war weder geistreich noch besonders [210] gebildet und ihr Ideenkreis sehr beschränkt. Trotzdem konnte man ihrer Erscheinung und dem, was sich in ihr versteckte, nachsinnen, weil man eben fühlte, daß etwas in ihr sehr stark war und nur auf den Augenblick wartete, wo es sich in seiner ganzen Stärke entladen konnte. Ihre geradlinige Engländerei, die sich überall behauptete, sich überall einen besonderen Umkreis schuf, war sicher nur ein Bruchteil davon, aber schon neben diesem Bruchteil kam sich Elisabeth klein und schwächlich vor, da sie ja fast immer versucht hatte sich anzupassen, nie aber sich aufzulehnen und sich durchzusetzen.

Als sie das zweite oder dritte Mal bei der Fürstin war, fragte sie:

„Und Ihre Söhne, Fürstin, wo sind sie? Es würde mich sehr interessieren, sie kennen zu lernen!“

Die Fürstin stand auf, holte von ihrem Arbeitstisch einen Lederrahmen, der eine Kabinettphotographie umschloß, reichte sie Elisabeth lächelnd hin:

Das Bild zeigte drei junge Leute im Alter von etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren. Die beiden jüngeren trugen die Uniform der Eton-Zöglinge, während der älteste im Ruderanzug aufgenommen war. Man sah auch auf der Photographie, daß die Söhne auffallend der Mutter glichen, von ihr das rötliche Haar und die helle Haut geerbt hatten. Nur der älteste sah trotzdem ein klein wenig in die Familie Tassini hinein, aber auch er zeigte das lange, englische Kinn und den schmalen Mund, dem man's anmerkte, daß er ihn beim Reden [211] kaum öffnete. Voll Stolz berichtete die Fürstin, daß dieser älteste, der natürlich Eton schon hinter sich hatte, jetzt auf den Schlössern junger Studienkameraden den Zauber englischen Countrylifes kennen lernte und den nächsten Winter vermutlich in London zu Hof gehen würde. Elisabeth fand es so absonderlich, sich diese drei angelsächsisch aussehenden Jünglinge als Träger und Vertreter des weichen Namens „Tassini“ zu denken, daß sie lachend sagte:

„Weiß Gott, Fürstin, das Stück England, das Sie immer um sich haben wollen, ist Ihnen in Ihren Kindern noch besser gelungen als in Ihren Wohnräumen. Ihre Söhne haben doch nicht einen Zug vom Vater, nichts, gar nichts Italienisches an sich –“

„Nein, gar nichts!“

Es klang wie Triumph.

„Sie lassen die Söhne in England erziehen?“

„Ja. Eton-College ist die einzige Schule, wo ein junger Mann erzogen werden kann.“

„Aber werden sie dort nicht vollkommen Engländer?“

„Selbstverständlich! Was sollten sie sonst auch werden?“

Elisabeth lächelte.

„Nun, sie könnten doch zum Beispiel auch Italiener werden, Venezianer! Das läge vielleicht sogar für Ihre Söhne sehr nahe –“

„Für mich ist es selbstverständlich, daß sie Engländer werden! Oder sie brauchen es gar nicht mehr zu werden, sie sind es schon!“ [212]

Und die Fürstin erzählte bewundernd, daß ihre Söhne in allen Sports und bei allen Wettspielen die ersten seien, daß sie besser Englisch als Italienisch sprächen, und daß sie nichts so sehr bewunderten wie englische Tüchtigkeit und englische Macht.

„Und welchen Beruf werden sie wählen, wenn sie die Schule verlassen haben?“

Ehe die Fürstin antworten konnte, klopfte es leise an der Tür, und auf ihr „come in“ trat die Kammerjungfer ein, näherte sich der Fürstin und flüsterte ihr in ehrerbietiger Haltung einige Worte zu. Die Fürstin lächelte ein wenig spöttisch, nickte bejahend, sagte leise drei oder vier Worte zu dem Mädchen, das alsbald wieder lautlos verschwand. Die Fürstin wandte sich zu Elisabeth:

Il principe Tassini (es waren die einzigen italienischen Worte, die sie gebrauchte) fragt, ob er eine Tasse Tee mit uns nehmen kann. Ich hoffe, es ist Ihnen nicht unangenehm?“

Alsbald erschien auch der Fürst, sehr elegant, sehr aufgeräumt, mit rollenden Augen, sorgfältig aufgewirbeltem Schnurrbart und jedes weiße Löckchen auf seinem Kopf neckisch gerollt. Sobald er eine junge Frau bei der Fürstin zu Besuch wußte, ließ es ihm keine Ruhe mehr, bis er zwischen den Frauenkleidern saß und das fremde Parfüm der Besucherin einatmete. Niemals sonst betrat er das englische Heim seiner Frau, aber sobald er vom Haushofmeister erfuhr, daß eine Jugend [213] bei der Fürstin sei, ließ er durch die Jungfer anfragen, ob sein Erscheinen genehm sei, und die Fürstin sagte immer mit ihrem spöttischen Lächeln: „Ja“. Allerdings kam der Fürst auf solche Weise öfter als ihr lieb war, denn im Laufe der Jahre wurde er in seinen Ansprüchen immer bescheidener, und es genügte ihm jetzt schon, wenn die Besucherin nicht wirklich alt und ausgesprochen häßlich war.

Er küßte zuerst Elisabeth, dann seiner Frau die Hand, verschlang Elisabeth mit den Blicken, zwängte seine Riesengestalt in ein kleines Stühlchen, das zwischen den Frauen stand, so daß Elisabeths Kleid sein Knie streifte. Er erkundigte sich mit vielen Worten nach ihrem, Ettores und der Bambini Befinden, sagte ihr in etwas altfränkischer Art Schmeicheleien über ihr Aussehen, überstürzte sich mit ungeschickter Galanterie sie zu bedienen, rückte unversehens immer näher zu ihr hin, um sie deutlicher zu fühlen, um bei einer zufälligen Bewegung ihre Hand zu streifen oder ihren blonden Kopf dicht an dem seinen zu haben. Die Fürstin sah's und schien es doch nicht zu merken, nur ihre Mundwinkel zuckten mit müder Geringschätzung. Sie war sehr höflich mit dem Fürsten, behandelte ihn vollkommen als Besuch und führte die Konversation genau so weiter, wie vorhin, da er eben eintrat. Aber seltsam! War es das Zucken um ihre Mundwinkel, war es ihre kalte Höflichkeit oder die Atmosphäre dieses Raumes, – nach kurzer Zeit schon schwand die Aufgeräumtheit und die [214] galante Beflissenheit des Fürsten dahin. Wohl drängte er sich immer noch an Elisabeth an, aber es geschah fast mechanisch aus der Gewohnheit des alten Lebemanns heraus. Seine Augen bekamen einen stieren, leichtumflorten Blick, und langsam nahm sein ganzes Wesen wieder die lakaienhafte Gedrücktheit an, die ihm in Gegenwart seiner Frau eigen war. Auch mit der Unterhaltung ging es nach den ersten Phrasen etwas stockend, denn die Fürstin setzte stillschweigend voraus, daß man in ihren Räumen Englisch sprach, und der Fürst, der es nur radebrechte, noch dazu mit italienischem Akzent, war häufig so unverständlich, daß Elisabeth immer wieder fragen und sich Sätze von ihm wiederholen lassen mußte, was natürlich die Konversation nicht belebte und die Stimmung nicht hob. Um ihm schließlich etwas Angenehmes zu sagen, griff sie nach der Photographie, welche die Fürstin vorhin, als er eingetreten war, neben sich gelegt hatte:

„Die Fürstin hat mir soeben das Bild Ihrer Söhne gezeigt! Drei patente Menschen, auf die Sie sehr stolz sein können!“

Der Fürst nahm ihr das Bild aus der Hand, diesmal ohne sie zu streifen, sah es lange zärtlich an.

„Sie gleichen ganz meiner Frau, nicht wahr?“ fragte er, Elisabeth mit etwas vorgeneigtem Kopf anstarrend. Er sah in diesem Augenblick wirklich nicht verführerisch, nur ein wenig komisch aus, aber in seiner Stimme zitterte es wie eine leise Angst, wie eine Traurigkeit, daß [215] diese drei Söhne nichts, gar nichts von ihm genommen hatten. Er tat Elisabeth leid, und sie beeilte sich darum, ihm zu versichern:

„Nur die beiden Jüngern! Der Aeltere, scheint mir, hat doch sehr viel von Ihnen! Stirn und Augen sind doch ganz wie die Ihren, und sicher hat er auch dunkle Augen, nicht wahr?“

Das Gesicht des Fürsten leuchtete auf. Wirklich, Luigi glich ihm, Luigi hatte, wie Elisabeth vermutete, schwarze Augen, wenn auch nicht so hervortretend und so rollend wie der Vater! Luigi war überhaupt ein Prachtmensch, eine Hoffnung für die Zukunft, ein Sohn, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Er geriet in Feuer, da er diesen Sohn rühmte, vergaß, daß er hier nur Englisch reden sollte, fiel ins Italienische, sprach laut und lebhaft, mit großen Gesten und pathetischen Worten, alles etwas massig und stark aufgetragen, wie es zu seiner Erscheinung paßte, aber alles ohne falschen Klang, ohne Aufdringlichkeit, durchströmt von einem Gefühl, das niemand diesem alten Frauenjäger zugetraut hätte. Die Fürstin saß still und gerade, hatte die Hände in den Schoß gelegt und sah unter gesenkten Lidern darauf nieder. Mit unbeweglichem Gesicht hörte sie dem Fürsten zu. Einmal nur hob sie die Augen, sah ihn schweigend an. Vor diesem Blick erstarrte seine Lebhaftigkeit, seine Worte wurden kleinlauter, sein Gefühl kroch wie beschämt in sein Herz zurück. Er seufzte leise, legte das Bild der Söhne behutsam wieder neben seine [216] Frau hin. Elisabeth hatte den kleinen Vorgang beobachtet, und wenn sie ihn auch nicht recht verstehen konnte, so ärgerte sie sich doch über die Härte, mit der die Fürstin den Mann von allem wegscheuchte, woran er hing. Um dem Fürsten Gelegenheit zu geben, noch mehr von seinen Söhnen zu sprechen, sagte sie:

„Als Sie vorhin kamen, Fürst, hatte ich gerade gefragt, welchen Beruf Ihre Söhne einmal wählen werden. Wissen Sie schon etwas darüber?“

Die Fürstin antwortete an seiner Statt, antwortete mit Absicht etwas unbestimmt. Der Älteste wollte Luftschiffer werden, das stand fest, aber über die beiden Jüngern sprach sie sich nicht deutlich aus. Vielleicht daß der eine in diplomatische Dienste ging, der andere Technik studieren wollte; aber das alles waren vorläufig nur Pläne, wie Halbwüchsige sie eben machen, was sie wirklich wollten und werden würden, ließ sich erst später sagen.

Der Fürst nickte zu allem; ein rechtes Gespräch über die Söhne kam aber nicht mehr in Gang. Erst als sie sich wieder allgemeinen Dingen, besonders jüngst verflossenen, pikanten Gesellschaftshistörchen zuwandten, wurde der Fürst wieder lebhaft und heiter, flüsterte kleine Zweideutigkeiten, die er selbst dröhnend belachte, und als er Abschied nehmend Elisabeths Hand küßte, sah er wieder so lebensfreudig aus, daß die Aehnlichkeit mit dem Re galantuomo deutlicher als sonst hervortrat. Die Fürstin sah ihm nach, lächelte fast heiter und meinte, indem sie sich langsam die Hände rieb: [217]

Il principe Tassini befindet sich in einer großen Täuschung. Er meint, seine Söhne zu kennen; niemand ist ihnen fremder als er. Er bildet sich ein, Luigi gleiche ihm, aber Luigi gleicht mir genau ebenso wie die Jüngeren. Sie sind alle wie ich, und wenn sie's auch noch nicht sagen, so weiß ich doch, daß sie alles hassen und verachten, was ich hasse und verachte.“

„Fürstin!“

Elisabeth rief es leise, bestürzt, als wolle sie die Fürstin mahnen, auch jetzt nicht zu bekennen, was sie bis zum heutigen Tage jedem verschwiegen hatte. Die Mahnung war überflüssig, denn die Fürstin erschloß sich nicht, warf nur in scheinbar gleichgültigem Ton abgerissene Sätze hin, in denen aber doch ihr ganzer Haß und die Rache ihres verfehlten Lebens lag. Während sie sprach, preßte sie den Kopf ein wenig hintüber an die Lehne ihres Stuhles, blickte in die sinkende Dämmerung hinein, die ihr einen leisen Schleier übers Gesicht legte, als schäme sich der scheidende Tag, ihr in die Augen zu sehen, während sie sprach …

Dem Fürsten die Söhne zu entfremden, – das war ihr Ziel all die Jahre her gewesen. Darum war sie bei ihm geblieben, darum hatte sie sich selbst seit Jahren der Gegenwart ihrer Kinder beraubt, denn nichts konnte sie bei ihrem Vorhaben so wirksam unterstützen wie die Erziehung im englischen College. Dort lernten die jungen Tassinis das maßlose Selbstbewußtsein der fremde Nation, hörten tagaus, tagein, daß es nichts [218] Besseres geben könne auf der Welt, als dem Land zu dienen, dem ihre Mutter entsprossen war. Und wenn sie natürlich auch der Geburt nach immerfort Venezianer bleiben mußten, im Herzen und im Leben konnten sie Engländer sein und alles verachten, was vom Vater her kam. Luigi würde wirklich Luftschiffer werden, aber natürlich ein Aeronaut in Englands Dienst. Die beiden andern, die sich über ihre Ziele noch nicht recht klar waren, die würden sich wohl mit dem Geld der Mutter und des englischen Großvaters an englischen Kolonialunternehmungen beteiligen oder sich große Landsitze in England kaufen und auf Du und Du mit all den künftigen Lords weiterverkehren, mit denen sie jetzt in Eton beisammen waren. Bis die Söhne mündig und also auch vor dem Gesetz jedem väterlichen Einspruch entzogen waren, wollte die Fürstin in Venedig bleiben und schweigen; der Tag, an dem auch der jüngste Sohn mündig würde, war der große Tag ihrer Vergeltung. Dann wollte sie mit ihren drei Söhnen Venedig und den Palazzo Tassini verlassen, und der Fürst mochte alt und einsam seine Tage dort so traurig oder so schändlich beschließen, wie es ihm gefiel. Nie mehr kehrte sie an die Lagune zurück, oder wenn einmal, dann nur, um diesen Palast, in dem sie all ihre Freude begraben hatte, an irgendeinen Kaufmann oder Händler zu verkaufen, damit er auch nach außen hin erniedrigt wurde, wie er es im Innern durch den Fürsten schon lange war. Elisabeth saß regungslos und horchte, war bald von [219] Grauen gepackt und bald von Bewunderung. Sie hatte bisher in ihrem Leben wohl Antipathien oder Abneigung kennen gelernt, nie aber einen Menschen, der fähig war zu hassen, wirklich zu hassen und einer grausamen Rache durch ein Leben nachzugehen. Fast beneidete sie die Fürstin um diese Ausschließlichkeit der Empfindung und wußte doch, daß sie ihr nimmer Gefolgschaft leisten könne, denn während der Haß der Fürstin so langatmig war, daß er alles Frühere wegblies und über die Jahrzehnte hinreichte, sprach in Elisabeth immer noch eine Stimme von dem, was einst gewesen war, von der Zeit, da sie hier ihr ganzes Glück gefunden hatte. Leise sprach die Stimme und erstarb in einer stummen Frage, auf die die törichte Seele Antwort erhoffte, obgleich es doch keine Antwort mehr zu geben schien. – –