BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Grünberg

1891 - 1972

 

Brennende Ruhr.

Ein Roman aus dem Kapp-Putsch

 

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7. Kapitel

 

Als Ernst Sukrow am anderen Morgen vom Gebimmel der Glocken erwachte, hatte er Mühe, sich die Geschehnisse der letzten Nacht zusammenzureimen. Es war zehn Uhr. Er beschloß aufzustehen und seinen Katzenjammer auf dem Sonntagsbummel in der Ratinger Straße auszukühlen. «Schön war's doch», schmunzelte er vor sich hin, als er an Gertrud Oversath dachte.

Am Heumarkt rief ihn Max Grothe an. «Na, auch auf dem Kälbermarkt? Du siehst aber verteufelt schlecht aus, das macht wohl die Laboratoriumsluft?» Sukrow zuckte grinsend die Schultern. «Wenn der wüßte!» –

«Und bei Ruckers läßt du dich auch nicht mehr sehen, Mary meinte schon, du seist eingeschnappt, weil wir dich letztens so niederdiskutierten.»

«Mich niederdiskutiert? – Aber das ist ja Unsinn. Ich habe jetzt so viel zu studieren, muß alles wieder rekapitulieren, wollte schon längst mal wieder hingehen», antwortete Sukrow ausweichend.

«Dann komm doch heute nachmittag. Mutter Ruckers hat Geburtstag, das wird da sehr gemütlich. Hannes und ich spielen Mandoline, du nimmst die Laute. Ein paar Mädels sind auch da, die Stube wird ausgeräumt zum Tanzen, den Ludwig, den armen Krüppel, haben sie bei Nachbarn untergebracht, also es wird fein», sagte Grothe.

«Ich bin ja nicht eingeladen», wandte Sukrow ein, der an das verabredete Rendezvous mit Gertrud dachte.

«Papperlapapp! Wie sollte man dich denn einladen, wenn du dich nicht sehen läßt. Umso größer ist die Freude, wenn du unverhofft kommst», rief Grothe.

«Wer weiß auch, und dann ... ich habe mir für heute nachmittag eine Arbeit zurechtgelegt, es geht wirklich nicht.»

«Ruckers sehen dich immer gern, aber du bist und bleibst ein unverbesserlicher Philister», schalt Grothe. «Philister?» – Nun, der würde Augen machen, wenn der wüßte .... Sukrow lachte still vor sich hin.

Nach dem Mittagessen bat er Frau Schapulla, ihn spätestens um vier Uhr zu wecken, und legte sich aufs Ohr, einen Teil der verbummelten Nacht einzuholen. Im Traum verfolgten ihn die Geschehnisse der Nacht, nur mit dem Unterschied, daß an Stelle Gertruds ihn Gisela Zenk umschlang. Dann saßen sie in einer Brautkutsche, und die Glocken läuteten. Zu ihren Füßen lagen schwere Säcke, durch die das gemünzte Gold schimmerte. Das war die Mitgift des Schwiegervaters. Als er mit seinen Füßen die Säcke anstieß, blieben große rote Flecke darauf zurück. «Das ist ja Menschenblut, ich habe ja gestern nacht auf der Ratinger Straße die Arbeiter erschossen», schrie er angstvoll auf. – Aber Gisela tröstete ihn. «Wer mich lieben will, muß auch Arbeiter erschießen können.» Da packte ihn ein kaltes Grauen, er wollte aus dem Wagen springen, aber der sauste jetzt pfeilschnell an schwindelnden Abgründen dahin. Wovor ihm aber am meisten grauste: die Pferde waren bleiche Gerippe, die aus ihren Nüstern feurigen Drachenatem bliesen. Auf dem Kutscherbock saß aber Reese, der Gewerkschaftssekretär, und knallte mit der Peitsche. Er wollte schreien vor Angst, aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt.

Dann befanden sie sich in einer dämmrigen Halle. Irgendwoher kam eine himmlische Sphärenmusik, bei deren Klängen ihm so wehmütig wurde, daß er weinte. An dem steinernen Altar kniete in wallendem weißem Gewand die Priesterin. Ihm wurde so feierlich zumute, daß er ebenfalls niederkniete. Als die Priesterin sich erhob, erkannte er in ihr Gisela Zenk. «So heiratet ein deutsches Mädel», sagte sie, ihm einen funkelnden Dolch aufs Herz setzend. Dann sah er sich auf dem Steinaltar liegen und sein Blut in einen gläsernen Kolben schäumen, den Peikchen unterhielt. Als er gefüllt war, setzte sie ihn an die Lippen... da erwachte er, von Grauen gepeinigt und in Schweiß gebadet.

«Gott sei Dank, es war nur ein Traum», sagte er, nachdem er wieder zum Bewußtsein gekommen war. Eine ganze Weile war er noch unfähig, sich zu rühren oder überhaupt einen Entschluß zu fassen. Draußen hörte er Stimmen und dazwischen unterdrücktes Wimmern. Tönnies Schapulla bekam anscheinend wieder mal christliche Zucht mit dem väterlichen Leibriemen. Schließlich raffte er sich auf, zog die Vorhänge zurück, und jetzt erst beim Anblick der schwefelgelben Rauchfahnen der Zinkraffinerie kam er wieder völlig zu sich. – Richtig, um fünf Uhr wollte er sich ja mit Gertrud Oversath treffen. Nach dem Waschen wurde ihm etwas klarer im Kopf. Draußen erschollen schwere Schritte, Schapulla klopfte, und als er hörte, daß sein Mieter schon auf war, trat er ein.

«Na, ausgeschlafen, oder haben Sie noch Haarspitzenkatarrh?» erkundigte er sich, verständnisinnig grinsend. Und dann begann er von gestern abend lang und breit zu schwatzen. Sukrow erkundigte sich, warum Tönnies schon wieder Prügel gekriegt habe. Der Kostwirt wurde etwas verlegen.

«Der ... ach Gott ... na, Ihnen kann ich es ja sagen. Gestern hat er seiner Schwester die Sparbüchse aufgemacht und das ganze Geld vernascht. Wie das Trautche heute mittag die Kollekte für die Kinderandacht herausnehmen will, ist die ganze Büchse leer. Wohl so an dreißig Mark. Jetzt muß er den ganzen Nachmittag hier oben im dunklen Kaschott auf Erbsen knien, der fiese Ap der!»

Sukrow wartete im Hinterzimmer der Konditorei vergeblich auf sein Schätzchen, was seine Stimmung keineswegs verbesserte. Ob vielleicht die Eltern gemerkt hatten, daß ihre Tochter erst bei Tagesgrauen nach Hause gekommen war, vielleicht sogar erfahren hatten, wo sie gewesen? Swertrup war trotz allen amerikanischen Einschlages doch ein kleinstädtisches Klatschnest, wo man sich immer wieder traf! Er hatte es sich so schön gedacht, mit Gertrud zusammen Kaffee zu trinken und sich mit ihr auszusprechen.

Er fühlte sich schuldig, obwohl Gertrud ja eigentlich den meisten Anlaß gegeben hatte. So wie sie küßte und ... Sie hatte zwar gesagt, er sei der erste – aber das sagten in solchen Fällen wohl alle Mädchen. Und wenn schon? – Jetzt erst empfand er, wie grenzenlos einsam er in dieser trostlosen Stadt bisher gelebt und wie sehr ihm solche kleine Gertrud gefehlt hatte.

Als die Uhr halb sieben schlug, sagte er sich, es wird ihr wohl was dazwischengekommen sein, und schlenderte zur Stadt zurück. Noch nie hatte er die grauen Straßen so trostlos und abscheulich häßlich gefunden, wie in der nebelkalten Dämmerung dieses zwecklosen Sonntagabends.

Aus einer Kneipe kamen Ziehharmonikaklänge und das Grölen Betrunkener. Eine Frau, die in ihrem Umschlagetuch ein Kind trug, mühte sich, durch die verhängten Türscheiben Einblick zu gewinnen. Aus einem Hausflur kam Gekreische. Halbwüchsige Burschen und Mädels trieben dort ihr Wesen miteinander. – An einem Hause gewahrte er ein verschmutztes Glastransparent, in welchem eine offene Gasflamme trübselig flackerte. «Christliche Gemeinde St. Michael!», und darunter baumelte ein Pappschild:

 

«Heute sechs Uhr evangelische Abendandacht!

Jedermann herzlich willkommen!»

 

Proletarierleben zwischen dunklem Kohlenschacht, häßlichen Wohnlöchern, dunstigen Kneipen und muffigen Betstuben, dachte Sukrow. Er schauderte zusammen, wenn er an die furchtbare Zeit dachte, die er auf dem Abladeplatz des Stahlwerkes und in dem «Junggesellenheim» verlebt hatte. Wie er das überhaupt hatte aushalten können, war ihm heute unbegreiflich! Und diese schuftenden, hungernden, in Schmutz dahinvegetierenden Proleten sollten mit den Besitzern der qualmenden Schlote gemeinsame Interessen haben?

Laut auflachen mochte er, wenn er an die Worte Gisela Zenks dachte. Er hätte sie einladen mögen, mit ihm einen Gang durch die Armutsquartiere zu machen. Das junge Weib, das ihn unter der Laterne da so verlockend anlächelte, hatte es sich vor Jahresfrist vielleicht noch nicht träumen lassen, daß sie abends unter der Laterne fremde Männer anlächeln würde.

Was «sie» wohl dazu sagen würde? Jetzt lachte er wirklich laut auf. Diskutieren würde er mit ihr niemals mehr, seitdem sie über ihn so hochnäsig hinweggesehen hatte. Im Laboratorium unter vier Augen, da versuchte sie wohl, ihn einzuwickeln. Aber in Gesellschaft? – Sie konnte doch den verhungerten Studenten, der nicht einmal einen Cutaway, sondern einen gewendeten Anzug trug, unmöglich dem feinen Herrn an ihrer Seite vorstellen. Er stampfte grimmig mit dem Fuß. Gut war es doch, daß ihm dies begegnete. So war er kurz und schmerzhaft von einer Illusion geheilt, die ihm jetzt nicht nur knabenhaft romantisch, sondern sogar kindisch erschien.

Als er in der Ratinger Straße am «Union-Kino» vorüberkam, war gerade die Nachmittagsvorstellung vorbei. Er überlegte, ob er sich den Film «Todesurteil» ansehen sollte, als er plötzlich zusammenzuckte. Unter den Herausströmenden erblickte er – Gertrud Oversath in Begleitung eines gutgekleideten jungen Menschen. Sie schlug, als sich ihre Blicke begegneten, die Augen nieder und ging, ihren Kavalier mit sich fortziehend, schnell zur anderen Straßenseite hinüber.

Eine Weile stand er wie betäubt. «Also so eine war es!» – In ihm kochte der Zorn. Dann aber drehte er sich kurz entschlossen auf dem Absatz herum und spuckte, daß es klatschte.

Was aber nun noch beginnen? Vor Kino und Cafe ekelte ihn. Nach Hause? – Am liebsten würde er noch hinaus nach Hasdrubal fahren, schon, um nicht den ganzen Abend mit seinen Unlustgefühlen allein zu sein. Das Bahnhofsbüfett fiel ihm ein, dort würde er wohl ein paar Apfelsinen erhalten, um zum Geburtstag nicht ganz mit leeren Händen zu kommen.

Als er seinen Einkauf beisammen hatte, warf er noch einen Blick auf den Bahnsteig. Inmitten einer Gruppe halbmilitärisch gekleideter junger Leute glaubte er seinen Kollegen Peikchen zu erkennen. Aus dem Wartesaal zweiter Klasse kam eben eine Dame im Nerzpelz heraus; ... es war Gisela Zenk. Die jungen Leute rissen sich militärisch zusammen, klappten mit den Absätzen und verbeugten sich affektiert. Das Ganze sah wie nach Abschied aus.

Umso besser, dachte Sukrow, im Hintergrund bleibend, dann brauche ich mich nicht mehr über sie zu ärgern. Das empfand er recht deutlich in diesem Augenblick, da er das alberne Pflänzchen, das sich da in seinem Herzen eingenistet hatte, entschlossen herausriß.

Wehmütig blickte er dem Zuge nach, aber nicht ihretwegen. Das war ja endgültig aus und erledigt! Aber er wäre am liebsten auch davongefahren, irgendwo anders hin, nur fort aus dem verräucherten Kohlenpott, wo der Himmel stets rauchverhangen grau in grau lag, wo Erde und Häuser, Menschen und menschliche Gefühle ständig verrußt schienen.

Auf seine frischfröhlichen Hoffnungen hatte sich auch solche Rußschicht gelegt, die «Romantik des Bergarbeiterlebens» war endgültig vorbei. Er haßte jetzt diese häßliche schwarze Stadt so grenzenlos, wie sie selber grenzenlos erschien. Alles Rohe, Häßliche, Widerwärtige, was irgendwie das Menschenleben verdammungswürdig gestalten konnte, schien hier in seiner widerlichsten Form zusammengeballt zu sein. Als laste ein unbegreiflicher Fluch über dieser trostlosen Gegend und ihren Menschen. Vom Fluch der Arbeit hatte er mal irgendwo gelesen. Wer kannte den Zauberspruch, ihn zu lösen? –

Bei Ruckers begrüßte man den späten Gast mit lautem Hallo. «Je später der Abend, desto schöner die Gäste!» rief der Alte, ihm die Hand entgegenstreckend, während Mutter Ruckers schnell hinaus nach der Küche lief, um Kaffee nachzubrühen.

«Das ist recht, daß du noch gekommen bist», sagte Max Grothe, der sich hier ganz wie zu Hause zu fühlen schien und sich das Jackett ausgezogen hatte. Hannes machte ihn mit den Anwesenden bekannt. Eine ältere ledige Schwester Ruckers', eine Nachbarsfrau mit ihrem Manne, der sich aber den ganzen Abend nicht um sie kümmerte, und ein junger Genosse aus dem Arbeitersamariterbund, in dem Hannes und Mary Mitglied waren. Dann war da noch eine Geschäftskollegin Marys, ein kleines, mickriges Ding, das kaum den Mund aufzumachen wagte, wenn man sie ansprach. Und schließlich noch eine etwas dreist aussehende, beleibte Person von etwa fünfundzwanzig Jahren mit aufblondierten Haaren, die ein ziemlich großes Wort führte.

«Eine entfernte Verwandte von Ruckers», flüsterte Grothe ihm zu. «Hat 1917 Kriegstrauung gemacht. Kaum, daß ihr Mann weg war, ging sie mit anderen los. Jetzt sind sie auseinander. Er ist irgendwo bei den Baltikumern. Bei der kannst du – wenn du willst – leicht was werden.»

«Danke für Backobst», sagte Sukrow und wandte sich Mary zu, die eben mit einer Kanne Bier zurückkam.

«Darf ich vorstellen: Herr Sukrow», scherzte Grothe. Mary blickte ihn ernst an. «Das ist auch bald nötig, Sie sind uns ja fast schon fremd geworden», sagte sie in vorwurfsvollem Ton. – Sukrow wurde rot.

«Mary, zum Donnerwetter, Mädel, wo bleibt das Bier? Willst du uns verdursten lassen? Nachher könnt ihr euch stundenlang erzählen», enthob ihn der Vater einer Antwort.

Später wurde es noch sehr gemütlich. Hannes und Sukrow spielten abwechselnd Laute, und man sang dazu gemeinsam Volks-, Wander- und Kampflieder. Zwischendurch rezitierte Grothe aus dem lustigen Salzerbuch. Schließlich sagte Frau Ruckers: «Singen Sie uns doch mal eins alleine vor, Herr Sukrow.» Er war zwar nicht in Stimmung, konnte aber den Wunsch des Geburtstagskindes nicht ausschlagen. «Also, was wird denn gewünscht?» fragte er, die Lautenwirbel anziehend. «Löns», bat Mary. «De Bur und de Pap» wollte Grothe hören. Vater Ruckers wünschte sich das Lied vom To-bak-bak, während Alfred, der Samariter, «Schnadahüpferl» bestellte. «Das Geburtstagskind hat den Vortritt», rief Sukrow, aber Frau Ruckers sagte: «Spielen Sie nur, was Ihnen gerade am besten gefällt, ich höre alles gerne.»

Eine Weile strich er sinnend über die Saiten und begann plötzlich unvermittelt in Moll:

 

«Nun geht der Sommer übers Land,

Die Birken werden grün.

Ich nehm den Stecken in die Hand,

Von dannen will ich ziehn. Fahr hin, fahr hin

Mit deinem stolzen Sinn.

 

Ich habe dir mein Herz gebracht,

Mein Herz so treu wie Gold.

Du hast mich dafür ausgelacht,

Du hast es nicht gewollt.

Laß sein, laß sein

Und bleib für dich allein.

 

Feinsmädchen an dem Gartenzaun,

So schön wie Milch und Blut.

Dir will ich jetzt mein Herz vertraun,

Nimms hin in deine Hut.

Nimms hin, nimms hin

In deinen treuen Sinn.

 

Und wenn wir uns der Liebe freun

Zur schönen Sommerszeit.

Dann bleibt die Stolze ganz allein,

Bis daß es friert und schneit.

Schab ab, schab ab

Einen andern Schatz ich hab.»

 

Noch ehe die schwermütigen Nachakkorde verklungen waren, begann die lustige Kriegerswitwe «Bravo» zu rufen und begeistert in die Hände zu klatschen.

«Warum heute so miesepetrig; sing doch lieber was Heiteres zum Geburtstag», sagte Grothe, aber die Frauen widersprachen. Nachdem er noch eine Lönssche Ballade gesungen, bat die Kriegerwitwe, ihr Lieblingslied singen zu dürfen; Sukrow wollte sie begleiten.

Ruckers brummte zwar unwillig: «Später, Anne, später», und Hannes knuffte ihr kräftig in die Rippen. Sie aber begann sofort mit viel Schmalz und viel zu hoch zu singen:

 

«Holdeh Blumeh Mähnertreuh,

Wo biehst duh zu findähn,

Blühäst du nur auf Bährgäshöhn

Odehr in das Tahles Grühndän?»

 

«Du hast es auch nötig!» knurrte Ruckers in seiner Sofaecke. Alles feixte, was sie aber nicht abhielt, auch die folgenden Verse herunterzuleiern.

«Das ist ja entsetzlich», flüsterte Sukrow, der versucht hatte, ein bißchen mitzuklimpern.

Grothe begann plötzlich wie ein Schloßhund zu heulen. «Wenn ich das schöne Lied von der Anne höre, wird mir immer ganz weh zumute», seufzte er, sich die Augen wischend. «Dann denke ich nämlich immer daran, wie wir 1914 zum ersten Male als Schlachtvieh nach Belgien gefahren wurden.»

«Habt ihr da dieses Lied auch gesungen?» fragte sie arglos.

«Nein, bewahre! Aber die Wagenschmierer hatten das Schmiergeld versoffen, da quietschten die Wagen auch so entsetzlich, daß man am liebsten desertiert wäre.»

Alles wieherte vor Lachen. «Du bist ja geck», sagte sie und tat fünf Minuten lang beleidigt.

Zum Abendbrot wickelte jeder seine Schnitten aus. Nur Sukrow hatte nichts mitgebracht.

Die Witwe aber schob ihm ein paar dick mit Käse belegte Brote zu. «Essen Sie nur, Herr Sukrow, ich gebe es Ihnen gerne», sagte sie mit zärtlichem Augenaufschlag.

Max Grothe war schier unermüdlich im Aushecken immer neuer Scherze und Schehnenstreiche. Bald faßte jemand mit verbundenen Augen in ein Senfglas, bald wurde ein anderer mit Salzwasser gelabt, schließlich die ganze Gesellschaft mit Lampenruß angeschwärzt. Zuletzt putzte er sich grotesk als Kumpel aus und tanzte einen polnischen Krakowiak, wobei die anderen in die Hände klatschten mußten, während er sang:

 

«Das Katz, das hat vier Beine,

An jeder Ecke eine,

Und hat sich Katz nicht Schwanz,

Ist Katze auch nicht ganz.

Violine Draht kaputt,

Macht sich immer wupp, wupp, wupp

 

Ist sich Kohle hart wie Stein,

Nimmt sich Kamerad Krankenschein!

Ist sich Kohle weich wie Mist,

Macht sich Kamerad Überschicht!»

 

«Kinder, reißt bloß nicht noch die ganze Bude in Klump», rief Ruckers, sich den Bauch vor Lachen haltend.

Alfred, der Samariter, spielte das «Bergmannsklavier», und man begann zu tanzen. Das Fläschchen selbstgebrauter Geburtstagsschnaps, das Ruckers jetzt hervorholte, tat ein Übriges, um die Stimmung auf den Höhepunkt zu bringen.

Sukrow tanzte viel mit Mary. Er zog Vergleiche zwischen den aufgeputzten, durchtriebenen Geschöpfen, denen er gestern auf dem Bürgerball begegnet war, und diesem Proletariermädel, dessen natürliche Ausgelassenheit nur unter dem Einfluß des Vaters etwas zurückgedämmt erschien, was ihr in seinen Augen einen neuen Zauber gab. Wo hatte er bisher nur seine Augen gehabt? So hübsch wie heute abend in dem einfachen schwarzen Rock und der roten Bluse mit der weißen Garnierung, die so gut zu ihrem bräunlichen Teint und dunklem Haar stand, war sie ihm noch nie erschienen. In seiner Erinnerung tauchte ein anderes Bild auf: lichtgrüne Seide, ein feines, stolzes Gesicht, umrahmt von goldblonden Schnecken...

Wieder überkam ihn seine Einsamkeit. Er hatte ja eigentlich niemanden auf der Welt, der ihn verstand oder gar liebte. Sein Schiff war gestrandet, ehe es noch den Hafen verlassen hatte. Lohnte es sich denn überhaupt, noch einmal den Kampf mit den widerwärtigen Lebenswogen aufzunehmen? Oder sollte er sich hier im Schutze der Düne ein bescheidenes Häuschen zimmern, im mageren Gärtchen die Blume der Zufriedenheit pflegen?

«Zufriedenheit ist Stillstand, Rückstand; Unzufriedenheit allein bringt die Welt voran», predigte Grothe. – Wie leidenschaftlich Mary Partei nehmen konnte? Natürlich immer für Grothe gegen ihn, und doch war dieser Gegensatz ein ganz anderer als der zwischen ihm und der Bourgeoistochter. In vielem hatten die Kommunisten doch gar nicht so Unrecht. Wenn sie nur nicht immer so kraß und radikal auftreten würden, wie zum Beispiel Grothe es immer tat. Eigentlich hatte er von ihm doch schon eine ganze Menge gelernt. Der war kein Schiffbrüchiger, mit dem die Wellen Fangball spielten, sondern der wußte, was er wollte, und der dem Leben keck und heiter ins Angesicht blickte. Im Stillen beneidete er ihn um seine Abgeklärtheit und übermütige Lustigkeit. – Mary schien sich zu Grothe auch besonders hingezogen zu fühlen. Was Wunder, da er hier doch ein und aus ging, ihre politischen Ansichten teilte und überdies die ganze Gesellschaft unterhielt.

Da die Stube, obwohl man schon die Betten ausgeräumt hatte, zu eng erschien, hatte man noch die Tür nach der Kammer geöffnet und tanzte umschichtig dort hinein. «Abklatschwalzer», brüllte Hannes. Jetzt wollte er aber Mary auch einmal wieder haben, denn Grothe tanzte jetzt schon dauernd mit ihr. Als er bei der Kammertür um die Ecke lugte, sah er im Halbdunkel zwei sich im Walzertakt auf der Stelle wiegende Gestalten. Sie hatte den braunen Scheitel weit in den Nacken geworfen, und darüber tauchte Grothes zerzauste Mähne auf. Er küßte sie – und sie ließ es willig geschehen.

Da schlich er sich unbemerkt in die kühle Nachtluft hinaus. Ein kalter Sprühregen rieselte nieder. Die kleinen Bergarbeiterhäuschen standen finster und geduckt in dem Zwielicht der nahen Zeche. Drüben sandten die Schlote ihre Rauchschwaden gegen den Himmel. Von fern her klang das Knirschen und Surren der Seilbahn. Ein Hund heulte seine Einsamkeit lang gezogen in die Weite hinaus. Hinter ihm aber klang die Harmonika und der Chor der Lustigen:

 

«Wir sind vom vlam'schen Blut,

Die Deutschen küssen gut,

Für ein Kommißbrot und einige Frank

Küssen sie stundenlang!»