BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Grünberg

1891 - 1972

 

Brennende Ruhr.

Ein Roman aus dem Kapp-Putsch

 

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15. Kapitel

 

In Hörsum wartete ihrer eine Überraschung; die Straßenbahn, mit der sie bis Rheinfelden zu fahren gedachten, nahm erst am folgenden Morgen ihren Betrieb wieder auf. In einem Gasthof erkundigten sie sich nach der Entfernung bis zur Fähre. Der Wirt winkte einen der Gäste heran, der den Weg auf zwei Stunden taxierte. «Dann tippeln wir los», entschied das junge Mädchen. «Das wird Ihnen nichts nützen, denn das Motorboot stellt schon um acht Uhr wegen des Hochwassers den Verkehr ein», bemerkte phlegmatisch ein anderer. Der Bergbeamte wetterte alle deutschen und polnischen Flüche, die er von den Kumpels gelernt hatte. – «Haben Sie's denn so eilig?» fragte der Wirt. Gisela Zenk entfaltete mit geheimnisvollem Gesicht ein Schreiben; jetzt kam mit einem Male Bewegung unter die Anwesenden. Alle interessierten sich für das Dokument, das aber die Besitzerin nicht aus den Händen gab.

 

Ausweis.

Die Genossen Schumann, Steinbock und Frau Krüger sind von unterzeichnetem Vollzugsrat beauftragt, sich auf schnellstem Wege nach Amsterdam zu begeben, um die Verhandlungen über Einfuhr holländischer Lebensmittel ins Ruhrgebiet zum Abschluß zu bringen. Wir ersuchen alle Vollzugsräte und sonstigen Behörden, sie unbehindert reisen und ihnen jegliche Unterstützung angedeihen zu lassen.

Swertrup, den 23. März 1920.

 

Als Unterschrift trug der Ausweis den Stempel der Swertruper Bürgermeisterei, den Namen des Bürgermeisters Dr. Livenkuhl, und bei dem Vollzugsratsstempel einen unleserlichen Schnörkel, dessen Anfangsbuchstabe wie ein lateinisches B aussah.

«Da muß Rat geschaffen werden», rief ein einarmiger Kriegsbe-schädigter. «Wir Großen sind ja das Hungern vom Krieg her schon gewöhnt. Aber wenn man die Kinder vor Hunger weinen sieht, krampft sich einem das Herz zusammen.»

«Können Sie nicht Rad fahren?» fragte ein junger Arbeiter, «da sind Sie nämlich in zwanzig Minuten an der Fähre.» Als das bejaht wurde, erschien er kaum zehn Minuten später mit drei Fahrrädern. «Ein Damenrad konnte ich nicht auftreiben», sagte er entschuldigend.

«Das macht nichts, ich bin schon öfter im Herrensattel gefahren», sagte Gisela, die mit Kennermiene die fast neue Maschine in Augenschein nahm.

«Die Räder stellt ihr an der Fähre im Gasthof auf den Namen Jeschke unter. Ich hole sie morgen früh wieder ab. Das meinige habe ich mir erst vor vierzehn Tagen auf Abschlag genommen, da ich in Könkern auf der Zeche arbeite und mit der Bahn immer so schlecht mitkomme. Jedem würde ich es auch nicht übergeben, ich hafte natürlich auch für die beiden anderen», sagte der Arbeiter, als er ihnen zum Abschied die Hand reichte.

Mit schmunzelndem Wohlgefallen sahen die Männer, wie sich das junge Mädchen ungeniert auf das Herrenrad schwang. – «Macht eure Sache gut, Genossen. Und laßt euch in Holland kein Kadaverfett anschmieren», wurde ihnen noch nachgerufen.

«Eure Kadaver werden bald selber Fett lassen», knurrte Kuhlenkamp, der die Spitze nahm. Mittlerweile war es dunkel geworden. Peikchen fuhr als letzter und wußte es so einzurichten, daß der grellweiße Lichtkegel der Karbidlaterne auf die taktmäßig auf- und niedersteigenden, grauseidenen Beine der Angebeteten fiel. Er bedauerte es aufrichtig, daß nach kurzer Fahrt schon die mattschimmernden Wellen des Stromes in Sicht kamen. «Drei Personen und drei Fahrräder», forderte der Assessor am Fährhaus. «Aber lassen wir denn die Räder nicht hier?» fragte Peikchen schüchtern. – «Schafskopp, die brauchen wir noch drüben», lautete die kurzangebundene Antwort.

Das kleine Motorboot hatte schwer gegen die heftige Strömung anzukämpfen, ehe es das jenseitige Ufer erreichte. Der Brückensteg stand unter Wasser, und die Reisenden mußten von einigen aufgekrempelten Arbeitern gegen ein Trinkgeld ans Ufer getragen werden. Ein belgischer Posten geleitete die drei Ankömmlinge in ein nahe gelegenes, vornehmes Gasthaus, in dem sich die Ortskommandantur befand. Der schwarzbärtige Kapitän machte bei Peikchen, der keinerlei Papiere bei sich trug, Einwände. Zu seinem Bedauern verstand Peikchen von der zwischen ihm und Gisela auf französisch geführten Unterhaltung kein Wort. Kuhlenkamp verschwand inzwischen, die Verhandlung kam aber nicht weiter.

Gisela starrte mit fest zusammengekniffenen Lippen vor sich auf den Teppich. Miene und Gesten des Belgiers schienen zu sagen: «Ich habe Zeit!» – Als sie mal verstohlen aufblickte, begegnete sie den lauernden Augen des Offiziers. Beide lachten, worauf wiederum in der Peikchen so verhaßten Sprache schwadroniert wurde. Wie kam dieser belgische Hund dazu, mit Deutschen auf ihrem Heimatboden welsch zu sprechen?

Gisela wandte sich an ihren Begleiter: «Es ist Ihres Ausweises halber; es müssen noch telefonisch Informationen eingeholt werden. Unser Zug fährt erst nach zehn Uhr. Bringen Sie inzwischen Herrn Kuhlenkamp zur Bahn und holen Sie mich später hier wieder ab. Inzwischen hoffe ich, dieses Mißverständnis beseitigt zu haben.»

Plan- und ziellos, mit mancherlei widersprechenden Gedanken im Kopf, schlenderte Peikchen durch die im Dunkel des Märzabends unfreundlichen Straßen. Ein unwiderstehlicher Drang aber trieb ihn alsbald wieder zurück. In der Gaststube lastete die ganze Langeweile der Kleinstadt. Einige Honoratioren droschen einen endlosen Skat, im Nebenzimmer klapperte das Billard. Schließlich bekam er Hunger und erkundigte sich am Büfett nach etwas Eßbarem ohne Marken. Gerade wurde ein Tablett mit einem verführerisch duftenden Abendessen fertig gestellt. «Zwei Champagnergläser», rief der Wirt. Von einer Ahnung getrieben, beobachtete Peikchen, wie die Ordonnanz mit diesem Souper im Zimmer des Kapitäns verschwand. Als der Soldat wieder erschien, fragte er im höflichsten Ton, dessen er fähig war, ob die Verhandlung des Offiziers mit der Dame noch nicht beendet sei. Der Belgier sah ihn von oben bis unten spöttisch an:

«Non, mon ami! Monsieur Kommandant verhandeln noch mit Mademoiselle; dürfen nix gestört werden!»

Da stürmte er, von maßloser Eifersucht getrieben, hinaus ins Freie. Eine große Ernüchterung war über ihn gekommen. Wenn er sich die ganze Geschichte überdachte, mußte er sich eingestehen, daß er hier eine ziemlich lächerliche Rolle spielte. Und darum hatte er seine schwerkranke Mutter verlassen? Am liebsten wäre er sofort umgekehrt, aber heute abend kam er ja nicht mehr über den Rhein. Und morgen früh mußte er erwarten, drüben von den Arbeitern wegen der verkauften Fahrräder angehalten zu werden. Bei der Erinnerung hieran überkam ihn ein höchst unbehagliches Gefühl. Kuhlenkamp hatte alle seine moralischen Einwendungen überlegen lächelnd abgetan: «Sie müssen noch lernen, daß man im Krieg und zumal im Bürgerkrieg den Feind mit allen Mitteln schädigen muß.» Von dem erhaltenen Geld hatte er ihm aber nur hundert Mark abgegeben. –

Als er gegen neun Uhr wiederum im Gasthof vorsprach, übergab ihm der Offiziersbursche einen Zettel mit einigen von Giselas Hand flüchtig hingeworfenen Zeilen:

 

«Lieber Freund! Sei nicht böse, daß ich Dich so lange warten lasse. Es geht nicht eher. Der Kapitän muß noch eine Unterschrift einholen. Sei pünktlich am Bahnhof zu 10 Uhr 20 Minuten. Gisela.»

 

Die Bahnhofsglocke ertönte bereits zum zweiten Male, als ein geschlossener Personenkraftwagen vorfuhr, dem Gisela Zenk eilig entstieg. Der Offizier half ihr dabei, küßte ihr galant die Hand und salutierte zum Abschied, die sporenklirrenden Lackschuhe zusammenschlagend. Peikchen hätte ihn am liebsten auf der Stelle niedergeschossen.

«Also, da bist du ja; der Zug muß wohl gleich kommen», sagte sie leichthin und schritt auf die Sperre zu. –

«Ohne Fahrkarten wird man uns hier wohl nicht durchlassen; ... oder hat das der liebenswürdige Kommandant auch schon geregelt?» fragte er mit tiefem Groll in der Stimme.

Gisela errötete verlegen: «Ich verstehe dich nicht. Fahrkarten habe ich allerdings schon.»

In ihrem Zweiter-Klasse-Abteil saß bereits ein älteres Ehepaar; so wechselten sie während der Fahrt kein Wort. Gisela hatte ihren blonden Kopf in die Polster gelehnt und schien zu schlafen, während ihr Begleiter finster in die Nacht hinaus brütete. Als der Zug dumpf rollend über die mächtige Rheinbrücke fuhr, ordnete sie ihr Kleid und trat hinter ihn ans Fenster.

«Also, Walter, nun tue mir einen Gefallen und mache wieder ein anderes Gesicht. – Oder bist du noch eifersüchtig?» flüsterte sie. – Peikchen fühlte einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Zum ersten Male hatte sie ihn beim Vornamen genannt.

«Gisela, ich liebe dich doch so sehr», stöhnte der junge Mensch, ihre Hand drückend, daß sie leise aufschrie.

Sie zeigte ihre glänzenden Zähne: «Aber deshalb braucht man doch nicht eifersüchtig zu sein, und noch dazu auf einen Belgier? Pfui, so etwas auch nur zu denken! Ich weiß», wehrte sie seine Einwendungen ab, «ich habe dich heute schlecht behandelt, behandeln müssen, aber es soll das letzte Mal gewesen sein. Heute noch soll deine Liebe und Treue für mich und unsere Sache so belohnt werden, wie ein deutsches Mädchen vom Rugardbund Liebe und Treue nur belohnen kann.» Dabei lächelte sie so verheißungsvoll, daß er ihr willenlos zu Diensten war.

Der Bahnhof Wesel glich einer Etappenstation während des Weltkrieges. Obwohl es bereits kurz vor Mitternacht war, wimmelte es von Offizieren und Soldaten aller Waffengattungen. Mit dem soeben eingelaufenen Zug waren eine ganze Anzahl Zivilisten – Zeitfreiwillige – mit dem bekannten Reservistenköfferchen angelangt. Damen in Schwesterntrachten und Roten-Kreuz-Binden verteilten aus riesigen Blechkannen heißen Kakao sowie ganze Berge belegter Brote. Feldgendarmen kontrollierten die Ausweise. Peikchen, bereits gewöhnt, daß seine Begleiterin alle Angelegenheiten in Ordnung brachte, stärkte sich ausgiebig, indessen Gisela in der Bahnhofskommandantur vorsprach. Mit großem Interesse beobachtete er das kriegerische Bild des Festungsbahnhofes. Auf einem Nachbargleis hielt ein langer Militärzug; deutlich erkannte er unter den übergeworfenen Planen die Konturen von Geschützen. Sein Herz bebte vor Stolz, bald auch mit dabei sein zu dürfen.

«So, das ging ja schneller, als ich dachte. Wir bekommen sogar ein Auto und können unverzüglich an die Front fahren», sagte Gisela, als sie nach einer knappen halben Stunde zu ihm zurückkehrte. «Was? Jetzt gleich noch?» –

«Ja, ist dir das etwa nicht recht? Du kommst zu den Bayern.»

Die Aussicht, bei den tapferen Bayern eingereiht zu werden, hätte ihn unter anderen Umständen in höchstes Entzücken versetzt. Aber er hatte sich so darauf gespitzt, gleich den anderen Zeitfreiwilligen, erst noch in Wesel eingekleidet und etwas ausgebildet zu werden, daß er ein Gefühl des Unbehagens nicht unterdrücken konnte.

Sie lachte, da sie sein Zögern merkte, hämisch. «Du bist ein merkwürdiger Mensch! Ich wende all meinen Einfluß auf, um für dich die Extravergünstigung, sofort zur Truppe zu kommen, zu erwirken - wahrscheinlich wirst du sogar als Offiziersaspirant aufgenommen – und nun ist es wieder nicht recht. Ich wollte dich sogar selbst bis in die Stellung begleiten. Aber wenn du dich etwa...»

Sie sprach das Wort nicht aus, aber der junge Mensch fühlte sich auch ohnedem an seiner empfindlichsten Stelle getroffen. «Ich mich fürchten? Ich hoffe, dir noch heute abend den Gegenbeweis anzutreten. Zur ersten Patrouille, die zu gehen ist, melde ich mich freiwillig.» –

Der offene, viersitzige Opelwagen bremste kurz hinter dem Stadtausgang, und der Führer reckte sich über die Windschutzscheibe zu seinen Fahrgästen: «Bis hierher sind schon die Roten gewesen!»

«Dann ist die Front wohl gar nicht mehr weit?» fragte Peikchen, dessen Pulse mit einemmal fieberhaft zu klopfen begannen – «Gradeaus weiter bis zum Lippeschlößchen, kaum zwanzig Minuten! Das hat bereits viermal seinen Besitzer gewechselt. Bei Hünxe sind die Roten noch diesseits der Lippe und haben die Eisenbahnlinie nach Münster gesprengt. Wir fahren jetzt östlich auf Scharmbeck zu.»

Mit fühlbarem Ruck sprang der Wagen wieder an. Es war eine kühle, aber sternenklare Nacht. Das Auto fuhr mit kleingeblendeten Lichtern, so daß die Finsternis voll zur Geltung kam. Die weißgekalkten Chausseesteine sausten wie eine Perlenschnur vorüber. Rechts feldeinwärts flackerten ab und zu in unbestimmbarer Entfernung grünlichweiße Leuchtkugeln auf. Einmal geisterten irgendwo ein paar Schüsse durch die Nacht. Peikchen wurde wehmütig feierlich zumute. Der schönste Tag seines Lebens, da er für das Vaterland kämpfen durfte, war gekommen. Zwar hatte er ihn sich etwas anders vorgestellt: Auszug mit Musik, Tücherschwenken, Blumen am Gewehr, Liebesgaben! Aber er hatte eigentlich gar keinen Grund, sich zu beklagen. Weil man ihn, Walter Peikchen, dringend brauchte, fuhr man ihn sogar im Auto bis in den Schützengraben, und das schönste Mädchen, das je ein Männerherz bezauberte, gab ihm dorthin das Geleit.

«Bist du nun zufrieden?» fragte sie, die bis dahin schweigend zum Sternenhimmel aufgesehen hatte. – Peikchen ergriff ihre Hand und küßte sie. «Vollkommen glücklich und zufrieden werde ich erst sein, wenn ich weiß...»

«Was willst du wissen?» fragte sie und gab ihm einen leichten Wangenschlag.

«Gisela, warum quälst du mich so?»

«Großer, dummer Junge, wer quält dich denn noch?» Peikchen starrte sie verständnislos an. In dem Ungewissen Zwielicht kam sie ihm noch hundertmal begehrenswerter vor. Da rückte sie ganz dicht an ihn heran, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und starrte ihn wohl fünf Sekunden aus ihren Sphinxaugen an. Dann küßte sie ihn so heftig auf den Mund, daß er zugleich mit dem Schmerz einen faden Blutgeschmack verspürte.

«Gisela, du bist das erste Mädchen, das ich liebe», stammelte er.

«Jetzt bist du mein eigen nach altgermanischem Brauch.»

Der Wagen hielt am Eingang eines Dörfchens. Peikchen sprang als erster heraus.

«Ist Leutnant von Lunkwitz hier?» fragte das Mädchen den näher tretenden Posten. Der Soldat geleitete sie zum Zimmer des Ortskommandanten, während ihr Begleiter in die Wachstube verwiesen wurde. Hier lagen auf Strohschütten, gestiefelt und gespornt, wohl ein Dutzend Soldaten im Halbschlaf, während am Tisch beim Schein einer Petroleumfunzel sechs andere «Schlesische Lotterie» um hohe Einlagen spielten. Die phantastisch beleuchteten Spieler, die nicht einmal den Stahlhelm abgenommen hatten, erinnerten den jungen Mann an ein Bild aus Wallensteins Lager, das er einmal im Swertruper Stadttheater gesehen hatte.

Die Tür ging auf: «Zwei Mann zum Gefangenentransport nach Wesel!» rief die Stimme eines Unteroffiziers. Zwei Mann standen auf und luden ihre Gewehre. Jetzt erst erblickte Peikchen in einer dunklen Ecke, auf einem Schemel sitzend, einen gefangenen Roten. Es war ein älterer Mann mit leicht ergrautem Haar. In seinem aschgrauen Gesicht flackerten zwei ängstliche Augen. Die Hände waren ihm auf dem Rücken zusammengebunden.

«Eine Patrouille von fünf Mann kam über den Fluß. Vier knallten wir ab, der da hob die Hände hoch. Als wir ihm das Gewehr auf die Brust setzten, wurde er gesprächig und verriet alles, was wir wissen wollten», erklärte einer der Soldaten sachlich.

Peikchen schalt sich selbst einen Weichling, weil er nur mühsam ein gewisses Mitleid mit dem gefangenen Rotarmisten unterdrücken konnte. Man forderte ihn zum Mitspielen auf, er setzte mit dem von Kuhlenkamp erhaltenen Geld. Zwar war er kein Freund vom Spielen, aber hier mußte man sich soldatisch benehmen. Plötzlich fuhr er auf: In nicht allzu weiter Entfernung war ein Schuß gefallen, dem bald darauf ein zweiter folgte.

«Ist denn die Front so nahe», fragte er verwundert. Die Leute sahen sich vielsagend an, dann bemerkte der eine: «Die Front liegt nach der anderen Seite!» – – – –

«Wo bist du denn her?» fragte ein Unteroffizier, der besonders hohe Einsätze machte. – Peikchen teilte kurz mit, daß er soeben von Swertrup über Wesel an die Front gekommen sei. Jetzt legten die Soldaten ihre Karten hin, starrten ihn verwundert an:

«Na, du hast es wohl verdammt eilig. Wirst schon noch die Nase vollkriegen, hier ist dicke Luft!»

«Das ist mir schon recht, Kamerad, dann kann man sich doch wenigstens auszeichnen. Ob's hier auch das Eiserne Kreuz gibt?»

«Wenn's net vorher a Eisen ins Kreuz kriegst, kann dös schon sein, die Spartakisten drüben schießen a net mit Zwetschgenknödel», antwortete ein waschechter Münchener trocken.

«Hast net in Wesel was vom Waffenstillstand gehört, den wo sie in Bielefeld abgeschlossen haben sollen», fragte ein anderer.

«Achtung!» – brüllte plötzlich eine Stimme, worauf Spielende und Schlafende aufsprangen und Haltung annehmen.

«Ich brauche noch einen dritten für eine Patrouille», sagte der Leutnant. –

Sofort meldeten sich mehrere, aber der Offizier schritt, als bemerke er sie nicht, auf den Zivilisten los, der, die Hände an der Hosennaht, meldete: «Zeitfreiwilliger Peikchen aus Swertrup!»

«Man hat mir gesagt, daß Sie beim Rugard ausgebildet sind und gern Patrouille gehen wollen. Dazu haben Sie heute – vielleicht zum letzten Mal – Gelegenheit. Die schlappen Judenbengels in Bielefeld haben gestern tatsächlich einen Waffenstillstand mit den Bolschewisten unterzeichnet. Nach Münster zu ist schon alles ruhig, nur unsere Mülheimer Freunde da drüben sind so vernünftig, noch keine Ruhe zu geben. Also, wollen Sie?» – Und ob er wollte!

«Zu Befehl, Herr Leutnant, bin mit achtundneunziger Gewehr und am leichten MG ausgebildet, bloß ich habe doch noch keine Uniform.»

«Das macht doch nichts, die Roten haben auch keine», entgegnete der Offizier mit leichtem Spott.

Auf dem Hof warteten schon zwei dunkle Gestalten. Man überreichte ihm ein Gewehr und einige Patronenrahmen. «Folgen Sie genau den Anweisungen, die man Ihnen gibt, vor allem nicht sprechen! – Klappkorn, sie wissen, worauf es ankommt!» –

«Zu Befehl», antwortete eine tiefe Stimme unter dem Stahlhelm.

«Beinahe hätte ich's vergessen», sagte der Offizier. «Die Dame, mit der Sie gekommen sind, ist, um Ihnen den Abschied zu erleichtern, bereits wieder abgefahren. Sie läßt grüßen und sagen, Sie möchten beim ersten Kugelpfeifen an sie und den Rugardschwur denken.» Diese Mitteilung warf einen Schatten auf sein junges Soldatenglück. Aber es blieb keine Zeit, darüber nachzugrübeln. All seine Sinne waren jetzt aufs Schärfste beansprucht von dem unsichtbaren Feind, dem es jetzt entgegenging; fest umklammerte er sein Gewehr. Die schweigsamen Führer bogen jetzt links ab, gingen auf dem schmalen Rain eines Sturzackers, der sich abwärts senkte. Dort unten, wo die Nebel brauten, mußte der Fluß – mußten die Roten liegen.

Bei einer knorpligen Weide war ein Schützenloch ausgehoben. «Da hinein», raunte ihm der Führer zu. Als Peikchen niederkniete, erhielt er plötzlich einen furchtbaren Schlag gegen die Schläfe, daß er sofort die Besinnung verlor. –

Als er wieder zu sich kam, entdeckte er zu seinem Entsetzen, daß er mit Stricken an den Baum gefesselt war.

Außerdem hatte man ihm vor den Mund einen Sandsack gebunden, so daß er keinen Laut von sich geben konnte. –

Also von den Roten überfallen! Hilflos gefangen? – Alle Schauermeldungen über Gräueltaten der Bolschewisten an gefangenen Weißen gingen ihm durch den Kopf. Sollte das schon das Ende seiner Laufbahn sein, ein qualvoller Tod durch einen unbarmherzigen Feind? Aber wo waren die Kameraden? Gefangen, gefallen oder entkommen?

Doch da standen ja beide, keine drei Schritte entfernt, und beobachteten aufmerksam, wie er wieder zu sich kam. Hatten die sich etwa mit ihm einen schlechten Rekrutenscherz erlaubt?

«Aha, da hat er ja wieder seine blöden Sinne beisammen», sagte der eine. «Wir hätten dich Lump ja einfach wie ein Schwein abkillen können, aber für einen Kerl, der Waflfendepots verrät und Einwohnerwehrlisten den Roten ausliefert, ist ein gutes bayerisches Messer noch zu schade. Deshalb haben wir für dich eine besondere Strafe erfunden. Höre fein zu, mein Junge: Du sollst durch deine eigenen Freunde, die da drüben jenseits der Lippe liegen, sterben. Wir werden mit Schießen anfangen. Drüben steht ein rotes Maschinengewehr, das wird aus dir dann Hackbraten fabrizieren!»

Peikchen glaubte seinen von dem Schlag noch immer schmerzenden, stechenden Ohren nicht zu trauen. Was sollte das heißen? Er und ein Verräter? Reden und Gebärden der beiden Soldaten zeigten ihm, daß es blutiger Ernst war. Hier mußte ein furchtbares Mißverständnis vorliegen. Wütend zerrte er an den Stricken, die aber keinen Zoll nachgaben.

«Laßt mich los, laßt mich doch wenigstens drei Worte zu meiner Verteidigung sagen, ihr mordet sonst einen Unschuldigen», wollte er rufen, aber nur ein dumpfes Knurren kam aus seinem zugebundenen Mund. Ganz dicht sah er die hohn- und haßerfüllten Augen der beiden Henker vor sich, Speichel klatschte ihm ins Gesicht ... dann waren sie verschwunden.

Die schmerzenden Stricke, das unerträgliche Stechen im Ohr und die feuchte Kälte, die von dem Wiesenboden her ihn anhauchte, sagten ihm, daß es kein böser Traum, sondern blutige Wirklichkeit war. Zu genau entsann er sich jetzt aller Einzelheiten seiner abenteuerlichen Flucht aus Swertrup. Seine schwerkranke Mutter hatte er verlassen, um der nationalen Sache zu dienen. Und nun? Verfemt und gerichtet, ohne Verhör und Verteidigung!

Dicke Tränen rollten ihm über die Wangen. «Arme Gisela! Ob sie weinen würde? – Ob sie überhaupt je erfuhr, wie elend er sterben mußte?»

Ein furchtbarer Gedanke krallte sich plötzlich in sein Hirn ein.

Hatte sie ein falsches Spiel mit ihm getrieben? Woher kannten denn die Bayern seinen Namen, wußten von den Swertruper Ereignissen, kamen sie zu dem entsetzlichen Verdacht? – Darum also die verdächtige Eile, mit der man ihn fortgelockt und sogleich bis in die vorderste Linie gebracht hatte! – Beim ersten Kugelpfeifen sollte er an sie und den Rugardschwur denken!

«Verräter verfallen der Feme!» kreiste es in Flammenschrift vor seinen Augen! Kein Zweifel, sie gehörte ja dem «inneren Ring» an! Sie hatte ihn mit kalter Berechnung in den Tod geschickt, nachdem sie ihn noch die höchsten Wonnen hatte kosten lassen.

Von irgendwo, weither, schlug eine blecherne Turmglocke die dritte Morgenstunde. Die idyllische Kirche zu Marialinden fiel ihm ein, wo er als kleiner Knabe ministriert hatte. Der zum Tode Verurteilte begann zu beten:

«Gelobt seist du, Mutter Maria! Gebenedeite unter den Weibern! Bitte für uns an Gottes Thron, jetzt und in der Stunde des Todes.»

Zwei Schüsse krachten hinter ihm auf. Deutlich hörte er die Kugeln vorüberfauchen. Das war das Ende! Gleich würde da drüben die Totenorgel beginnen. –

Aber was war das? Aus dem Nebel erhoben sich dunkle Gestalten. Vor und hinter ihm blitzte und knallte es jetzt in rascher Folge auf. Wie ein Lauffeuer raste es die ganze Linie entlang. Leuchtkugeln schossen in die Luft, Maschinengewehre blafften los. –

Da schwanden ihm die Sinne. –

Als er wieder zu sich kam, war es Tag. Sein erster Blick fiel auf ein Schulkatheder. Er lag auf einem Strohsack, und um ihn herum waren ein Dutzend blasser Gestalten mit weißen Verbänden. Ein Arzt im Operationsmantel und eine junge Schwester standen an seinem Lager.

«Er hat einen Bauchschuß, wird daher nicht mit abtransportiert. Achten Sie darauf, daß ihm auch niemand was zu essen oder zu trinken gibt. Höchstens den Mund etwas anfeuchten», hörte er sagen.

In diesem Augenblick begannen die Scheiben unter einem dumpfen Grollen zu zittern. – «Die in Wesel haben unser Ultimatum auf Übergabe abgelehnt. Jetzt beschießt unsere Artillerie die Festung», sagte einer der Verwundeten.

Also er war schwer verwundet und dazu noch gefangen, in einem roten Feldlazarett! Jetzt war ihm alles egal, und in tödlicher Ermattung schloß er die Augen. –