BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Else Lasker-Schüler

1869 - 1945

 

Gesichte

 

1913

 

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Elberfeld

im dreihundertjährigen

Jubiläumsschmuck

 

Paul Zech, meinem Wupperfreund

Lott es doot, Lott es doot, Liesken leegt om Sterwen, dat es god, dat es god, gäwt et wat tu erwen!“ Ich bin verliebt in meine buntgeschmückte Jubiläumsstadt; das rosenblühende Willkomm gilt mir, denn ich bin ihr Kind, die flatternden Fahnen auf den Dächern, aus den Fenstern winken mir zu, lange Rotschwarzweiß-Arme, die mich umfangen wollen. Ich soll überall hereinkommen. Ich bin in Elberfeld an der Wupper in der Stadt der Schieferdächer. Hohe Ziegelschornsteine steigen, rote Schlangen herrisch zur Höhe, ihr Hauch vergiftet die Luft. Den Atem mußten wir einhalten, kamen wir an den chemischen Fabriken vorbei, allerlei scharfe Arzeneien und Farbstoffe färben die Wasser, eine Sauce für den Teufel. Aber nach Newiges zu, wo die Maschinen ruhen, wie frische Drillingsbäche fließt die Wupper zwischen Wiesen und Waldalleen. Aber ich bin verliebt in meine zahnbröckelnde Stadt, wo brüchige Treppen so hoch aufsteigen, unvermutet in einen süßen Garten, oder geheimnisvoll in ein dunkleres Viertel der Stadt.

 

 

Ich mag die neuen Bauten nicht – wer aber war die Urpatrizierin des Rokokohauses aus der friderizianischen Zeit? Es lebt noch einbalsamiert zwischen jüngst zur Welt gekommenen Fabrikanten- und Doktorhäusern. Denn jeder etwas wohlhabende Bürger der Stadt besitzt ein Wohnhaus, worüber er Herr ist. Portiersleute gibt es in Elberfeld nicht, frech gewordene Sklaven, die nach Belieben ein- und herauslassen. Selbst viele Arbeiter leben im Eigentum ihrer Mütter. Gequacksalbert hat die Alte an der grünen Pumpe, noch heute heilt sie Krampfadern und Beingeschwüre. Und das berühmte Geheimmittel gegen die Cholera hat der sterbende Großvater Willig dem Vater ins Ohr gelallt, und der hat es wieder dem Sohn anvertraut, und nun weiß es der Enkel, der wahrscheinlich seiner gesprächigen Mutter wegen taubstumm zur Welt kam. Und überhaupt so seltsame Dinge gingen in der Stadt vor; – immer träumte ich davon auf dem Schulweg über die Au. Manchmal lief ich durch graue, lose Schleier, Nebel war überall; hinter mir kamen schauerliche Männer mit einem Auge oder loser Nacktheit; auch an Ziethens Häuschen mußte ich vorbei, der seine Frau erschlagen haben sollte, „ewwer en doller Gesell wors gewäsen.“ Oft ließ ich vor Angst die Bücher fallen oder der Ranzen hing mir nur noch halb auf der Schulter. Nun grünt nicht mehr die von Zäunen umgrenzte Au; Tore verschließen Häuser; kein Schulkind kann mehr auf dem Wege zur Schule träumen, jedes Fenster zur Rechten und zur Linken weckt es auf. Lebt der greise Direktor Schornstein noch, der nicht wie die roten Schornsteine rauchte, aber vor Zorn so oft fauchte? Ich bin verliebt in meine Stadt und bin stolz auf seine Schwebebahn, ein Eisengewinde, ein stahlharter Drachen, wendet und legt er sich mit vielen Bahnhofköpfen und sprühenden Augen über den schwarzgefärbten Fluß.

 

Die Wuppertaler Schwebebahn wurde 1901 eröffnet

 

Immer fliegt mit Tausendgetöse das Bahnschiff durch die Lüfte über das Wasser auf schweren Ringfüßen durch Elberfeld, weiter über Barmen zurück nach Sonnborn-Rittershausen am Zoologischen Garten vorbei. Mein Vater mußte an den Sonntagen mit mir dorthin gehen, der bemerkte nicht den Sekundaner mit der bunten Mütze. Auf dem Hügel im Tannenwäldchen am Bärenkäfig versprachen wir uns zu heiraten. – Ich muß an alles denken und stehe plößlich wie hingehext vor meinem Elternhaus; unser langer Turm hat mich gestern schon ankommen sehen; ich fall' ihm um den Hals wahrhaftig.

 

Die Sadowastraße und der Weyerbuschturm

 

Ausschnitt aus einem Elberfelder Stadtplan von 1900. Das Schülersche Wohnhaus in der Sadowastr. 7

 

Das Wohnhaus der Familie Schüler und die Gedenktafel

 

Leute am Fenster des Hauses bemerken, daß ich weine – sie laden mich ein auf meine Bitte, einzutreten. Schwermütig erkenne ich die vielen Zimmer und Flure wieder. Auf einmal bin ich ja das kleine Mädchen, das immer rote Kleider trägt. Fremd fühlte ich mich in den hellen Kleidern unter den andern Kindern, aber ich liebte die Stadt, weil ich sie vom Schoß meiner Mutter aus sah. Von jeder Höhe der vielen Hügel schwebt noch ihr stolzer Blick wie ein Adler; und meines Vaters lustige Streiche stürmen eben um die Ecke der Stadt. „Wat wollt öhr van meck, eck sie jo sing Doochter.“ Das rettet mich vor der schon erhobenen Faust eines besoffenen Herumtreibers. Das verwilderte Jahrmarktgesindel rings um mich schwenkt meine Kindheit immer wieder von neuem wie in einer vielseitigen Luftschaukel auf und nieder. Das Geklingel der Karussellmusik, begleitet von Flüchen rauher Mäuler und Kreischen frivoler Weibsbilder ist zärtlich meinem Ohr. Denn ich bin verliebt in die Stadt der Messen und Karussells. Mein Begleiter versucht mich zu überreden, mit ihm den Riesenjahrmarktplatz zu verlassen.

 

 

Aber ich muß noch einige Male Karussell fahren. „Lott es doot, Lott es doot“, ich fahr für mein Leben gern; gerade die altmodischen Holztiere sind am fröhlichsten und drehlichsten. Mein Leopard springt auf Raub. Zwischen Aujust und Aujuste die Bewußte, hinter Caal und Caaroline, Alma, Luischen, Amanda. Gar nicht stolz bin ich – sie beginnen mich zu lieben. Ich bin verliebt in meine Stadt, manchmal schrei' ich ganz laut auf, das überzeugt das rohe, arme Gesindel. Den Härrn Schüler haben viele gekannt, er hat sie umsonst wohnen lassen in seinen Häusern. Wir gehen durch das Tor ins Elberfeld vor „dreihundert“ Jahren. Mina singt gerade im Tingeltangel ihre Liebeslieder. In rosanen Atlaspantoffeln stecken ihre Klumpfüße, ein knappes Röckchen bedeckt ihren Allerweltsleib. Diese Undame charakterisiert das Chantant einer ganzen Zeit. Ich entgehe ihrem Spotte nicht, aber ich weiß ihr Achtung einzuflößen. Ist ihr Hals etwa nicht wie Milch? Und zu guter Letzt erkundige ich mich angelegentlich, wo man genau solche Pantoffeln bekommt in der Stadt, wie die ihren sind. „Die sinn ut Engeland bei Paris.“ – Nun hinein ins Kölner Hännesken! Gewaltsam zerre ich den Dichter zwischen die Clowns ins Innere des Brettertheaters. „Sie werden noch gestochen werden, wie Ihr Vater einmal.“ Durch seine Uhr ging die Spitze des Metzgermessers. Am anderen Morgen führten die jammernden Eltern den heulenden Sohn vor das fieberknarrende Bett meines Vaters. Er wußte, daß sie kommen würden, und drei Gläser und eine Flasche Rotwein standen zum Empfang auf dem Nachttisch. Aber er ächzte vor Schmerz, namentlich, als die fette Metzgersmutter begann, dat et där wackere Här Schüler verzeehen mödd ... Ich bin verliebt in meine Stadt, aber schon muß ich Abschied nehmen wie von einem alten, düsteren Bilderbuch mit lauter Sagen.

 

Hotel Weidenhof

 

Niemand hat mich wiedererkannt, auch im Weidenhof der Wirt nicht, der immer einen ganz kleinen Kellner für mich herbeischaffen mußte, am Festtag, wenn wir dort Forellen aßen. Und die Einkehr in meine Heimat habe ich einem Dichter in Elberfeld zu verdanken, der kam dorthin lange nach mir. Paul Zechs feine künstlerische Gedichte duften morsch und grün nach der Seele des Wuppertals.