BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Else Lasker-Schüler

1869 - 1945

 

Die Wupper

 

1909

 

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DRITTER AKT

 

Abends ½9 Uhr. Jahrmarkt. Karussell im Vordergrund links. Hinter dem Karussell und seitwärts rechts die verschiedenen Buden. Im Vordergrund die Bude der Riesendame Rosa, neben dieser die Schießbude, dann die Taucherbude, die Honigkuchenbude etc. Gegenüber links in kleiner Entfernung die schrägstehende Bude der Mutter Pius, die man nur ein Viertel sehen kann. Eine gemalte Kindermumie mit zwei Köpfen ist grotesk auf der Jalousie gedruckt. Fabrikarbeiter, Fabrikarbeiterinnen, Kommis, Ladenmädchen, Dienstmädchen, Herren der Gesellschaft mit ihren Schätzen, Schuljungen, Gassenkinder, Herumtreiber, etc. Im Karussell stehen im doppelten Kreis hölzerne, groteske Tiere: Leopard neben Lamm, Reh neben Tiger, Löwe neben Pferd, Hirsch neben einer Riesengans u. s. w. In Kutschen, die auf und nieder schaukeln, sitzen laute Weibsbilder und an den Eisenstangen, die das Dach des Karussells halten, stehen Arbeiter und Schuljungen, um den Ring wetteifernd, der an einem Pfahl unweit des Karussells hängt und eine Freifahrt bedeutet. Das Karussell dreht sich noch langsam auf die schon fast abgelaufene Melodie „O Du lieber Augustin“. Die letzten Töne: „Alles ist hin, hin hin, alles ist hin ––“ Vor dem Karussell stehen Heinrich Sonntag und Lieschen Puderbach. – Sie tragen auf der Nase ein blaues Pincenez und in der Hand einen Gummiball. Heinrich ist etwas angeheitert. Um Lieschens Hals hängt ein großes Pfefferkuchenherz mit der Aufschrift: Ich liebe Dich. Man hört die beiden lachen zwischen den Klingeltönen des Karussells.

 

Heinrich Sonntag, sein Geschäftsfreund, die Herren mit grauen Cylindern, Dr. v. Simon, Berta, Mutter Pius, Lieschen, August, Zuhälter Wilhelm, Riesendame Rosa, Kommis, Ladenmädchen, Dienstmädchen, Pendelfrederich, Lange Anna, der gläserne Amadeus, Arbeiter, unter ihnen Färber, Weber etc., Arbeiterinnen, Weibsbilder, Jahrmarktsleute, Gassenkinder.

 

LIESCHEN:

Ich fahr für mein Leben gern, (es klatscht in die Hände) ich setz mir auf den Leoparden und Sie auf das Lamm.

HEINRICH:

Das machen wir, Puppel.

LIESCHEN:

Wollt es ens doch endlich still stehen, Herr.

HEINRICH:

Du brauchst doch nicht immer Herr zu mir zu sagen.

LIESCHEN:

Wie soll ich Euch denn nennen?

HEINRICH:

Wie De Dein Schatz nennst, Puppel.

LIESCHEN:

Den nenn ich Herrn Eduard, er is mein Königsschatz.

HEINRICH:

(tut erstaunt, er ahnt den Zusammenhang nicht.)

LIESCHEN:

Den kennen Se nich. (Unbewußt verächtlich.)

HEINRICH:

Ist er grad so schön wie ich?

LIESCHEN:

Carl Pius sein Freund is er.

HEINRICH:

Aber so einen langen Schnurrbart (er streicht ihn in die Höhe) hat er doch nicht?

LIESCHEN:

Herr Eduard scheint immer aus sein Gesicht.

HEINRICH:

(etwas besonnen, er weiß nun, von wem das Kind spricht) Ich möchte so Jemanden wohl kennen lernen.

LIESCHEN:

Der kömmt doch hierhin nicht. (Das Karussell steht still, die Leute springen ab. Es steigen unter andern wüste Männer und Weibsstücke ein, welche toben und kreischen. Heinrich springt jäh mit Lieschen in einem Satz herauf. Mutter Pius steht plötzlich vor dem Karussell; Lieschen ist im Begriff, sich auf den Leoparden zu setzen und Heinrich sitzt schon auf dem Lamm.)

MUTTER PIUS:

(zu Lieschen) Das laß ich mich gefallen mit so en artigen Herr, mein Herzeken.

Ein Weibstück:

(zu Lieschen) Laß mich ens beißen von das süße Herz.

LIESCHEN:

(zu Heinrich) Nä, dat kriegt der Aujust. Er guckt sich de Augen nach aus und schämt sich, in de Leckersläden zu gehen. (Kleine Pause.) Daß es noch nich anfängt!

(Arbeiter treten ungeduldig mit den Füßen. Ein Geschäftsfreund von Heinrich im grauen Zylinder tritt mit je einem Schatz am Arm ans Karussell.)

DER GESCHÄFTSFREUND:

(zu Heinrich) Nun, Sie alter Sünder! (Das Karussell bewegt sich.)

HEINRICH:

Steigen Sie noch rauf! (Sie springen herauf.)

GASSENKIND:

Nehmen Se mir doch auch mit, Herr! (Die Musik spielt wieder:

„O, Du lieber Augustin etc.“.)

MUTTER PIUS:

(zynisch zu Allen) Wünsch euch ne angenehme Hochzeitsreis! (Sie kehrt schleunigst an ihre Bude zurück. Es kommen die Herren mit den grauen Zylindern, [Bekannte von Heinrich] mit einer Anzahl Schätze und springen im beginnenden Tempo aufs Karussell. Arbeiter drängen die Weiber rücksichtslos ins Innere hinein, da sie auch den Ring greifen wollen. Das Karussell dreht sich wie ein Wirbelwind. Dr. v. Simon und Berta kommen aus der Bude der Riesendame – sie gehen beide auf das Karussell zu.)

BERTA:

Ist das nicht der Heinrich?

DR. V. SIMON:

Wo?

BERTA:

Warten Sie, gleich können Sie ihn wieder sehen.

DR. V. SIMON:

(ein wenig erschrocken.)

BERTA:

Wenns nun Herr Eduard erfährt? .....

DR. V. SIMON:

Der Narr ist wohl auch schon Dein Beichtvater?

BERTA:

Und unsere Frau?

DR. V. SIMON:

(blickt durch seine kleine, goldene Lorgnette – beruhigt) Er kann nicht mehr gerade sitzen.

BERTA:

Mich kanns ja gleich sein, ich will doch nicht mehr lange für andere Leute arbeiten.

DR. V. SIMON:

(ergreift aufatmend die Gelegenheit) Du mußt mir Dein Herzchen ausschütten, liebes Kätzchen. (Er will mit ihr umkehren.)

BERTA:

Der bleibt ja nicht lange hier, er reitet ja jetzt immer schon um 6 Uhr früh spazieren. (Sie gehen in die Taucherbude, das Karussell bewegt sich etwas langsamer. Man hört im Vorbeifahren Heinrichs Stimme.)

HEINRICH:

Noch einmal, Puppel?

LIESCHEN:

Sicher, lieber Herr!

Ein Weibsbild:

(aus der Rutsche) Kommt ens bei mich rein!

LIESCHEN:

Stell Dir doch an de Stange, dann kriegst De den Ring. (Einige Gassenkinder schreien.)

GASSENKINDER:

Der Schimpanse ist ausgekniffen, de große Chimpanse is ausgekniffen! (Es entsteht eine Panik, zu einem Knäuel strömen die Menschen zusammen, fast alle Fahrenden springen vom Karussell herunter, Lieschen will das Gleiche tun.)

GASSENKIND:

Der große Chimpanz mit dem kleinen Schwanz is ausgekniffen, ausgekniffen!!!!

LIESCHEN:

Hörn Se denn nich, der wilde Affe is ausgekniffen, der beißt, ich hab Angst vor das Tier. De Lehrer sagt, an Kinder machen sich de großen Tiere am ersten ran. (Der Taucher läuft aus der Bude, gestikuliert mit dem Eisenkopf und den Eisenfäusten, was furchtbar komisch aussieht.)

HEINRICH:

(hält Lieschen fest).

MUTTER PIUS:

(kommt ans Karussell) Bleibt man sitzen, das is ja nur eine geriebene Reklame von de Zirkusleute.

LIESCHEN:

Is es auch sicher nich wahr, liebe Mutter Pius?

HEINRICH:

(nickt) Nein. Haben Sie das Pulleken kaltgestellt, Mutter Pius?

MUTTER PIUS:

(zynisch und wehmütig) Un mich dabei. (Die vorzeitig Abgestiegenen nähern sich wieder dem Karussell, zwei Weibsbilder schlendern Arm in Arm herbei.)

WEIBSBILD:

(zu Heinrich) Nehm mich doch, Du zerbrichst ja Dein Riesengespielzeug.

EIN ANDERES WEIBSBILD:

Er is doch de Puppenhangri!

(Die Herren im Zylinder lachen ermuntert auf.)

HEINRICH:

(zu Lieschen) Was sie nich alles vom lieben Heinrich wollen, was Liescken? (Einer der beiden Schätze des Geschäftsfreundes sagt zu ihrem Begleiter.)

DIE ERSTE:

Zu de Riesendame wollen wir ens rin (zu ihrer Mitliebsten) Kuck, Minna, die hat en Bart wie en Kerl. (Das Karussell bewegt sich wieder, ohne zu spielen; in ihm sitzen nur noch vereinzelt Kinder zwischen Heinrich und Lieschen.)

HEINRICH:

(unsicher, da er angeheitert ist) Lieschen, spielt es denn nicht?

LIESCHEN:

Es ist schon spät in die Nacht, Mutter Pius sagt, die Polizisten kämen sonst.

HEINRICH:

Dann wollen wir auch machen, daß wir runterkommen. (Er läßt die Kleine vom Leoparden auf seinen Rücken steigen, springt mit ihr vom Karussell, juchheit, läßt Lieschen zur Erde fallen, hebt es wieder in die Höhe, läßt es wieder fallen, hebt es wieder in die Höhe, läßt es wieder fallen, fängt es auf, mit ihm springend durch die Menge, Mutter Pius kommt ihnen bis zur Taucherbude entgegen. Die Herren mit den grauen Zylindern sind vorangegangen mit den Schätzen und bleiben an der Schießbude stehen und schießen.)

MUTTER PIUS:

(etwas neidisch zu Heinrich und Lieschen) Wie die Blagen. (Es kommen eine Menge neue Arbeiter.)

LIESCHEN:

Ich hab Angst, der Vater kömmt und holt mir.

HEINRICH:

Ich versteck Dich in meinen Mantel, Puppel.

LIESCHEN:

Meinen Taler nimmt er mich ab für die Sparkass.

HEINRICH:

Dann schenk ich Dir einen goldenen Puppel.

LIESCHEN:

So reich sin Se? (Mutter Pius, Heinrich, Lieschen gehen weiter.)

EINE FRAU:

(erstaunt fragend) Das Kleine von Puderbachs! ... (Sie sperrt grinsend den Mund auf.)

MUTTER PIUS:

Nu, un was alles! Das Kleine helft mich hier. (Sie biegen nach links ein.)

(Dr. v. Simon und Berta treten aus der Taucherbude.)

V. SIMON:

Du mußt nicht immer so laut meinen Namen nennen, Kätzchen, das ist nicht fair.

BERTA:

(beleidigt) O, ich weiß mir doch zu benehmen. (Sie ahmt die Bewegung Martas nach.) Du willst mir wohl los sein, Bruno?

V. SIMON:

Bewahre. (gereizt):

Aber es wäre Deine Pflicht gewesen, mich auf den Betrieb hier aufmerksam zu machen. Bedenke die Konsequenzen, falls mich einer meiner Arbeiter hier überrascht.

BERTA:

Unser Heinrich geht doch auch immer auf die Messe.

V. SIMON:

All right! Die Arbeiter wissen auch, was sie von ihm zu halten haben.

BERTA:

(mürrisch) Dann hätten wir ja überhaupt bei Dir bleiben können.

V. SIMON:

Das können wir ja noch nachholen. (Er kitzelt sie heimlich in die Taille.)

BERTA:

(schüttelt den Kopf. Dr. v. Simon schiebt sie langsam vorwärts am Karussell vorbei zum vorderen Ausgang.)

V. SIMON:

Wann feiern wir Hochzeit, Kätzchen?

BERTA:

(versöhnt) Ich dachte nach Weihnachten; so lang bleib ich auch noch. Die Frau hat mir durchs Fräulein fragen lassen, was ich mir wünsche.

V. SIMON:

Lass Dir mal weiche Kopfkissen schenken (sagt ihr noch etwas ins Ohr) mit einem rosa Himmelchen darüber ....

BERTA:

(verschämt geziert).

V. SIMON:

Also vorher wird nichts?

BERTA:

Ich bin doch ein anständiges Mädchen (geziert), ich dürfte nicht mehr nach Hause kommen.

V. SIMON:

Auch nicht mir zu Liebe? (Er kitzelt sie wieder in die Seite. Sie biegen beide ein, man sieht sie nicht mehr. Färber, deren Hände durch ihren Beruf bunt angelaufen sind, – August Puderbach ist unter ihnen, und Weber in gestreiften Kitteln und andere Arbeiter in blauen Blusen kommen über den Jahrmarkt. Mutter Pius tritt wieder in den Vordergrund.)

AUGUST:

(Zu Mutter Pius) Wo ist es?

MUTTER PIUS:

Liesken oder meine Rarität?

AUGUST:

Es!

MUTTER PIUS:

Guck ens selber.

AUGUST:

Deine Bude ist ja schon zugeschlossen.

MUTTER PIUS:

Meinst De, ich laß se bis zum frühen Morgen offen stehen?

AUGUST:

(Springt auf's Karussell, er dreht selbst die Orgel, die noch die letzten Töne des Liedes O Du lieber Augustin dumpf abgibt. Er setzt sich dann auf den Hirsch und lutscht an einer langen Stange Süßholz; Herr v. Simon kehrt alleine nach Heinrich spionierend zurück, ein Weibsbild tritt zu ihm heran.)

WEIBSBILD:

Lassen Se mir ens schießen, ich möcht en Taschenmesser gewinnen.

WILLEM:

Das sag ich Dich, läßt de Dir mit dem ein, hau ich Dich de Backzähn aus!

V. SIMON:

(ihn wiederkennend, ängstlich) Nicht gleich so heftig, ich werd sie Dir nicht fortschnappen.

WILLEM:

Du dünnet Geripp, durch wen bin ich so heruntergekommen, wenn nicht durch Dir (droht.)

V. SIMON:

(zitternd) Sind Sie nicht der Willem?

WILLEM:

So heiß ich.

V. SIMON:

Warum hat Sie denn eigentlich der Chef gehen lassen?

(fixiert ihn durch die Lorgnette.)

WILLEM:

Tu man das Glas von de Nas runter, de Hauptsach is, daß ich Dir wieder kenn, miserabel Verführer!

V. SIMON:

(zitternd und devot) Kalt Blut, Willem.

WILLEM:

(Zu den Zuhörenden) Ich hab auch zu meiner Schwester gesagt, wenn ich den ens zwischen de Finger krieg!

AUGUST PUDERBACH:

(springt komisch vom Karussell) Ich wollt meine Stange Süßholz ens zu End lutschen.

(Zu v. Simon idiotisch tückisch.) Seine Schwester haben Sie aufs Gewissen; nu kann sie lange warten, bis ich sie nehm, Sie fiser Seidenwurm.

WILLEM:

Meine Schwester Laura auf Dir warten? Auf son Pitter? (Er spuckt ihn an.)

V. SIMON:

(will sich aus dem Staub machen, aber die Herren im Zylinder halten ihn auf mit Fragen.)

AUGUST:

Ich heirat überhaupt nich und die abgeknutschte Laura verdek nich.

WILLEM:

(Haut August eine Backfeife herunter; die Herren im Zylinder kommen in den Vordergrund und und ziehen v. Simon mit sich.)

V. SIMON:

(zu den Herren) Es wird die höchste Zeit sich zu entfernen. Shoking! Shoking!

Einer der Herren mit dem grauen Zylinder:

Sie verstehen nicht mit den Leuten zu scherzen.

V. SIMON:

(verächtlich sich mit den Fingerspitzen affektiert abstäubend) Allerdings!

DER GESCHÄFTSFREUND:

Hat man Ihnen das nette Dingelchen stiebitzt?

EIN ZWEITER VON DEN HERREN MIT DEM GRAUEN ZYLINDER:

(auf Heinrich zeigend) Der Chef versteht es besser mit den Leuten. (Heinrich taumelt stark betrunken an der Hand Lieschens, das selbst sehr angeheitert ist, fiebernde Backen und Augen hat, in den Vordergrund.)

HEINRICH:

(zu Lieschen) Kannst mich leiden, Puppel?

LIESCHEN:

(nickt, schüttelt die Haare wild und wirr durcheinander.)

V. SIMON:

Shoking!

DIE HERREN:

(freundschaftlich) Wir wollen ihn nach Hause bringen.

HEINRICH:

Nach Haus? Zylinder ab!! Lieschen, hörst Du, nach Haus wollen sie mich transportieren.

MUTTER PIUS:

(leise und vertraulich Heinrich ins Ohr) Mach man daß de wegkommst, de kleine dünne Zahnstocher (weist auf v. Simon hin) gefällt mich immer schon nich.

HEINRICH:

Wann wirst De eingesegnet, Liesken?

LIESCHEN:

(weinselig) Brüst hab ich wie junge Salatköppe.

DIE HERREN MIT DEN GRAUEN ZYLINDERN:

(drängen ernst) Sonntag, kommen Sie jetzt!

V. SIMON:

Shoking! ...

HEINRICH:

Was sagen Sie?

V. SIMON:

(zieht ihn unsanft am Arm und spricht befehlerisch) Sie folgen mir ohne Zaudern!

HEINRICH:

(in festem Ton, als ob er nüchtern wäre, plötzlich)

Wer ist der Herr, ich oder Sie?

DER GESCHÄFTSFREUND VON HEINRICH:

(zu v. Simon) Reizen Sie ihn jetzt nicht.

V. SIMON:

(dreist, sich von den Herren gedeckt glaubend) In diesem Falle bin ich der Herr.

HEINRICH:

(jähzornig taumelnd) Soldaten, Kameraden, wer is der Herr Leutnant, er oder ich?

(Scharen von Arbeitern sammeln sich plötzlich um Heinrich, v. Simon ahnt eine Katastrophe, am Körper zitternd sucht er kleinlaut Sicherheit hinter dem großen breitschultrigen Geschäftsfreund von Heinrich und den anderen Herren.)

EIN ARBEITER:

Ein guter Leutnant war er.

EIN ZWEITER:

Gezecht hat er mit uns auf Kaiser sein Geburtstag wie'n gemeiner Soldat mit den andern.

EIN DRITTER ARBEITER:

Wir wollen ihn hoch leben lassen.

DIE GANZE SCHAR:

Unser lieber Leutnant er lebe hoch! Hurra! Hurra! Hurra!

WILLEM:

(Herrn v. Simon drohend) Kerl!

V. SIMON

(wagt nicht den Schauplatz zu verlassen, sich überhaupt zu bewegen.)

HEINRICH:

(brüllt) Angetreten! (Die Arbeiter und und Herumtreiber sammeln sich in Kolonnen wie im Manöver. Die Weiber gucken neugierig zu. August stellt sich an die Spitze des links aufgestellten Bataillons, er hat sich einen Helm aus einer Zeitung angefertigt und setzt ihn auf den Kopf. Er empfängt seiner Ungeschicklichkeit wegen Püffe und Stöße.)

HEINRICH:

(Besichtigt taumelnd sein Regiment, schickt den einen zurück, den andern setzt er an den Anfang der Reihe etc. Ab und zu Flüche ausstoßend. Brüllt) Gerade gestanden! Schockschwerenot!

WILLEM:

De Landhasen müssen zuerst auf den Feind losstürmen. (August macht eine Schießbewegung, den zitternden v. Simon suchend.)

LIESCHEN:

(frech) Da is er ja!

HEINRICH:

Un de Maikäfer halten sich im Hinterhalt.

WILLEM:

Un de Musik machen de Bindfadenjungen, daß de Hengste nur so galoppieren. (Alle lachen furchtbar und die einexerzierten Arbeiter freuen sich mit Heinrich wie große ungeschlachte Jungen, die Soldaten spielen.)

WILLEM:

Nu man los, Herr Leutnant, ich bin Euer Unteroffizier.

HEINRICH:

(brüllt) Ganzes Regiment linksum, vorwärts marsch! (Lieschen läuft neben Heinrich her mit den Händen trommelnd und mit den Lippen den Rhythmus markierend. Die Arbeiter exerzieren einige Schritte vom Vordergrund dem Platz zu; plötzlich v. Simon bemerkend, wollen sie sich wie wütende Hunde auf ihn stürzen.)

HEINRICH:

Stillgestanden!!! den Feind hau ich allein kurz und klein.

WILLEM:

(Schleift ihn herbei, seine Hände mit der Lorgnettenkette fesselnd, wie vor seinen Feldherrn. v. Simon stöhnt vor Angst. Die Herren mit den grauen Zylindern kommen ihm nicht zur Hilfe, sie amüsieren sich, neugierig den Vorgang betrachtend.) Lassen Se sich nicht totschlagen mit seinen Sabel, Herr Leutnant. (Er zeigt tobend vor Lachen v. Simons dünnes Spazierstöckchen.)

AUGUST:

Nu kann es losgehen, Kinder. (Willem löst die Kette von v. Simons Händen.)

DER GESCHÄFTSFREUND:

(drängt sich durch die erregte Arbeitermenge zu Heinrich, der hört aber in seiner Betrunkenheit des Freundes leises Zusprechen nicht; Heinrich hebt ein Kalkstückchen vom Boden auf und zieht einen großen Kreis unterhalb seines Herzens.)

HEINRICH:

So Jüngsken, das Terrain darfst De nich überschreiten, sonst bin ich belämmert (alles lacht stürmisch, nur Lieschen umklammert Mutter Pius ängstlich.)

LIESCHEN:

(Sinnlich erweckt) Der macht den Heinrich tot. (v. Simon verblüfft; Heinrich wankt auf seine Freunde zu. v. Simon will die Flucht ergreifen, aber die Arbeiter packen ihn.)

DIE RIESENDAME:

(guckt aus ihrer Bude) Kommen Se bei mich, Herrchen! (v. Simon befreit sich einen Augenblick, die Arbeiter hinter ihm her. August springt wie ein Kater auf seinen Rücken. Aber es gelingt v. Simon, ihn abzuwerfen und sie rasen hintereinander über den Platz dem Ausgang zu.)

HEINRICH:

Steckt ihn in den Aussichtsturm, meinetwegen! (Die Herren nehmen den völlig erschöpften Heinrich in die Mitte, um mit ihm fort zu gehen.)

HEINRICH:

(zu Lieschen und zu Mutter Pius) Schlaf süß, Marze, gute Nacht, Mama Charlottchen.

DER GESCHÄFTSFREUND:

Das müßt sie hören. (Die Menge verläuft sich, die Buden werden geschlossen, die alte Pius rennt in ihre Bude. Lieschen steht ganz allein im Vordergrund, setzt sich noch einmal auf den Leoparden im Karussell, streichelt ihn und springt dann ab.)

DIE RIESENDAME:

(Steckt den Kopf durchs Fenster.) Wie heißt Dein charmanter Kavalier?

LIESCHEN:

Das geht Euch niks an. (Heinrich, in der Mitte der Herren, sieht man noch hinter dem Platz des Jahrmarktes auf einer Anhöhe heimwärts ziehen. Die drei Herumtreiber kommen langsam am Karussell vorbeigewandelt über den Jahrmarkt gehend.)

PENDELFREDERECH:

Wir wollen den Garten nu reinigen von de Sünde (murmelt böse).

LANGE ANNA:

(Macht die Bewegung des Kehrens. Er trägt eine lange rauschende Papierschürze und eine Frauennachthaube aus Papier mit flatternden Bändern auf dem Kopf und eine dicke Warzennase.)

AMADEUS:

(Auf Heinrich zeigend.) Da wandelt mein Todeskandidat.

MUTTER PIUS:

(kommt von ihrer Bude zurück, in der einen Hand einen Korb, in der andern die Kindermumie, ihr zweiter Kopf angefertigt aus Lumpen, baumelt am Rumpf herunter.)

MUTTER PIUS:

(zu Lieschen) Ich will mir hängen lassen, wenn es nicht Dein Krakehler von Vater gewesen war. (Lieschen läßt vor Müdigkeit den Kopf hängen; schauert auf, als Mutter Pius ihm die kleine Mumie reicht.)

MUTTER PIUS:

(zynisch) Halt ens Dein Zwilling fest; (Mutter Pius befestigt den Kopf wieder an dem Rumpf. Die Riesendame grinst aus dem Fenster.)

MUTTER PIUS:

Nu komm man rasch, sonst pumpt mir die Rosa (Auf die Riesendame weisend) wieder an, und de Mutter Pius kann nicht „Nä“ sagen.

(Sie wollen beide eilig über den Platz gehen, als Lieschen stehen bleibt, jäh Mutter Pius' Schoß umfassend.)

LIESCHEN:

Ich dank Dir auch vielmals für alles, liebe Mutter Pius. (Sie eilen weiter, die Riesendame läßt die grün und gelb gestreifte Jalousie ihrer Bude herunter, die fällt gleichzeitig wie der erste Vorhang über die ganze Bühne.)