BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Erotische Votiftafeln

 

1919

 

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Das Korsett

 

I

 

Als die wunderschöne Bürgermeisterstochter von Kalteneck – im vierten Monat – auf einem Spaziergange von den andern etwas abseit ging.

 

Weh! könnt' ich mein Mieder lüften!

Wer ist elender als ich?

Alle Lust versperrt in Grüften.

Alle Ketten wider mich.

Wider Brust und wider Lenden.

Oh ich unglücksel'ges Weib!

Dreimal eingesperrter Leib

zwischen unbarmherz'gen Wänden!

 

Wie mir's unterm Herzen schwillt

wild und wilder wie Verlangen,

das ich einstmals blind erfüllt

in wahnsinnigem Umfangen:

In dem Maße wie es drängt,

wilder drängt und wilder dränget,

wird es stärker eingezwängt,

schmerzlicher nur eingezwänget.

 

Drüben singen meine Freunde.

Wenn sie ahnten, wo ich blieb!

Wenn sie sähen, daß ich weinte!

Wenn sie wüßten, was mich trieb,

einmal – wenn nur in Gedanken! -

aufzuatmen aus den Schranken,

aus dem würgenden Geschling,

das die Lust wie Tod umring! -

 

Wenn sie wüßten, was ich ach!

unbesonnen ach! verschuldet.

Trat ein Jüngling ins Gemach

und ich hab es ach! geduldet!

Einmal einem hingegeben

und schon büß' ich meine Lust:

Unterm Herzen keimend Leben

und so weh ach! weh die Brust!

 

Doch – in Ketten wachs und werde,

Kind, du Mein Kind, trübste Lust:

Einmal schaust du Licht und Erde,

einmal trinkst du meine Brust,

einmal -: Und dann laß ich nicht,

läßt die Mutter nicht vom Kinde,

Kind, dann sterben wir: Die Sünde

ist's, die unsre Blüten bricht....

 

 

II

 

Als die wunderschöne Bürgermeisterstochter von Kalteneck – im siebten Monat – ein zweites und letztes Zusammentreffen einging.

 

Unsere Stadt ist klein.

Die wenigen alten Häuser

sehen so ernsthaft drein.

 

Und kommt die dunkle Nacht:

Hinter Fenstern und in Herzen

nicht Licht noch Liebe wacht.

 

Dunkel löscht alles aus,

Es ist wie ein großes Sterben

nächtens in jedem Haus.

 

Und mußt' ich zu dieser Stund

um alles dir hier begegnen:

ich schloß dem Tod den Mund.

 

Der blies kein Lichtlein an,

das uns verraten hätte,

eh' wir uns g'nug getan.

 

Doch länger verzieht er nicht.

Sieh dort: in meinem Hause

weckt er das erste Licht!

 

Nun weiß ich meiner Wege.

Ein Kuß noch deinem Mund.

Bald schauen hoch vom Stege

viel Lichter in schwarzen Schlund....

 

Entstanden 1901/02, Erstdruck 1911