BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Zwischen Himmel und Erde

 

1913

 

____________________________________________________

 

 

 

Der erste Akt

 

1.

Der Bau des neuen Schornsteins nahezu vollendet. Arbeiter sowohl hoch oben auf der Spitze als auch unten am Fuße des Neubaues bei ihrer Arbeit. Ingenieur Torstensson kommt, ehrerbietig begrüßt und er selber leutselig wiedergrüßend; überzeugt sich kurz von dem gegenwärtigen Stand der Dinge.

2.

Der Gutsverwalter legt seinem Gutsherrn Rechnung ab. Da sieht man vor allem ziemlich dicke Bücher, von denen man – offen gestanden – nichts versteht. Und über den Büchern die Köpfe dieser beiden Herren: Baron von Britz und Erdmann von Erdmannsdorf. In einem stilvollen Arbeitszimmer. Und außerdem gewahrt man dieses noch, daß der Gutsherr eben mit einer heftigen Neuralgie zu tun hat. So daß der Leidende schließlich die wohlgepflegte Hand auf die Schulter des andern legt:

«Wir müssen aufhören! – Diese meine ewigen neuralgischen Kopfschmerzen – und dabei kein Tröpfchen Chloroform mehr im Hause!» Die Miene des Herrn Erdmann von Erdmannsdorf drückt Teilnahme aus. Beim nächsten Abwenden seines Gesichtes aber bemerkt man, wie teuflisch-froh er ist, daß die totale Rechnungsablegung dadurch – wieder einmal! – verschoben wird ... auf wer weiß wie lange!

[Anmerkung: Durch das – geöffnete – Fenster muß man – in einiger Entfernung, auf einem gemalten Prospekt – den neuen Fabrikschornstein sehen, auf dessen Spitze noch der Galgen angebracht ist! – Der alte Schornstein, dahinter befindlich, im Gegensatz zum neuen, lichten, ungleich dunkler auf der Leinwand gehalten!]

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Gutsherr verabschiedet sich – apathisch schier – von seinem Gutsverwalter: Er kann es vor lauter Schmerzen kaum mehr aushalten. Gutsherr ab. Gutsverwalter klappt diabolisch die vielen Bücher zu und schmeißt sie übermütig durcheinander. Dann hört er etwas. Steht auf. Geht zur Tür. Und horcht. Das will sagen: Schämt sich nicht, zu horchen!

3.

Zimmer unweit dieses Zimmers. Und eine Tür weit offen gelassen. Mit allerlei Waffen ausgestattet, Gewehrschränken und – was die Hauptsache ist – einer in einem ziemlich geräumigen Kasten an der Wand angebrachten, verschließbaren und vom Hausherrn soeben aufgeschlossenen Hausapotheke. Herr von Britz bestätigt in ungebändigter Miene und losgelassener Geste nur seine Worte von zuvor, daß für sein neuralgisches Kopfleiden kein Tröpfchen Chloroform mehr vorhanden ist. Da kommen Bodo und Inge von Britz dazu; ersterer mit großem Papierdrachen und ach! sehr gerissener Drachenschnur. Ob Großpapa nicht helfen könne? Dies die erste Frage und Begehr. Dann erst Begrüßung, Erzählen und Erkundigen von Seiten Inges.

4.

Arbeitszimmer von Bild 2. Erdmannsdorf lauschend noch einmal gezeigt – und wie auf seinem Gesicht der Entschluß entsteht: «Ich geh hinüber, denn man kann der Frau, die man doch noch erringen will [brutal-sinnlich], gar nicht oft genug begegnen.» Und der Entschluß wird zur Tat: Er geht.

5.

Das Waffenzimmer von Bild 3. Erdmannsdorf hereinkommend und recht kavaliermäßig den drei Britzschen sich nähernd. Und es dabei vor allem auf Inge abgesehen habend, die aber reserviert, so wie immer ihm gegenüber, bleibt. Und noch viel weniger Glück hat er beim kleinen Bodo, der seine Abneigung gar unverhüllt zeigt. Da aber kommt noch etwer. Ingenieur Torstensson meldet, daß der neue Fabrikschornstein fertig sei. Torstensson – im Reitdreß – tritt ein. Begrüßt. Meldet. Alle sehen zum Fenster hinaus.

6.

Alle die fünf auf dem Weg vom Gute nach der Fabrik hinüber. Man sieht sie etwa eine Terrasse herabkommen. Stallbursche mit gesatteltem Pferd!

7.

Irgendwie schönes Gartenmotiv. Herr von Britz und Erdmannsdorf kommen als erste – groß! nah! – am Aufnahmeapparat vorüber. Herr von Britz wendet sich, stehenbleibend, zum Ingenieur zurück, der mit Inge und Bodo nachfolgt. «Sie reiten heute noch nach der Kreisstadt, lieber Torstensson? – Da bringen Sie bitte mir doch Chloroform und dem Jungen eine Drachenschnur mit!»

Ingenieur bejaht die Frage des Herrn von Britz, der sogleich in allen Taschen nach seinem Chloroformrezept sucht, es schließlich findet und Torstensson übergibt [und zwar den Fetzen Papier wie einen rechten Schatz übergibt]! Darauf springt Bodo bittend am Ingenieur empor und Inge, die den Drachen und die Schnur trägt, bittet nun ebenfalls um die kleine Liebe, neue Drachenschnur mitzubringen. Alle gehen weiter. Ihnen folgt der Stallbursche mit Reitpferd.

8.

Der neue Schornstein ... aus nicht allzu weiter Entfernung mehr. Aber diese Aufnahme muß wirken, als ob unsere Hauptpersonen bereits am Apparat vorübergegangen wären ... und man sieht nur noch das gesattelte Reitpferd mitsamt Stallburschen.

9.

Am Fuße des neuen Schornsteins. Und hier erst sehen wir unsere fünf Personen wieder. Und Torstensson erklärt – erstens einmal – den Neubau im allgemeinen und – zweitens – die [ganz nah aufzunehmende] große Welle, mittels welcher das Drahtseil hinauf zur Spitze in Funktion gesetzt wird, im besonderen. Dieser Erklärung aufmerksam folgend (während zwei, drei Arbeiter auf ein Zeichen Torstenssons die Welle zu drehen beginnen), sehen die Herrschaften alle miteinander sehr in die Höhe. Der Elevator bleibt noch bis morgen früh, da Ingenieur Torstensson – sogleich nach seiner Rückkehr aus der Kreisstadt – zur Schornsteinspitze hinauffahren will.

Und da – und man muß die Sorge Inges um den heimlich geliebten Mann merken! – und da sieht die geschiedene Gräfin von Gleichen erst noch einmal schwindlig in die schwindelnde Höhe und fragt dann, auf welche Art und Weise der Ingenieur denn an diesem bloßen dünnen Seil hinaufgelangen wolle.

Und da benimmt sich der gute Torstensson natürlich äußerst zuvorkommend und holt das bewußte einfache Förder-Trittbrett herbei, befestigt's am untern Ende des Seiles und tritt mit beiden Füßen hinein und hält sich in der Höhe seines Kragenknopfs mit beiden Händen am Seil fest, nickt den Bedienungsarbeitern an der Welle ein Zeichen zu und fängt auch bereits an, in die Höhe gehoben zu werden ...

Aber da erfaßt Inge ein tödlicher Schreck und sie schreit einfach laut auf! So daß ihr noch mehr erschrockener Papa sie in seinen Armen auffangen muß und die Arbeiter an der Welle von selber innehalten und Torstensson – der an dieses Glück gar nicht zu glauben vermag! – aus der bereits erreichten Höhe herunterspringt ... Und aber was Erdmann von Erdmannsdorf in diesem Augenblick fühlt – dieses Übermaß an Enttäuschung in seinen Hoffnungen, an unwillkürlicher Wut und Haß auf seinen glücklicheren Rivalen – das müssen wir sehr genau auf seinem Gesichte gewahren.

Übrigens der erste, der sich gleich darauf ganz wieder in der Gewalt hat, ist der nämliche Herr Erdmann von Erdmannsdorf. Und da er der Frau, die er ja trotz alledem doch noch zu erringen hofft, zumindest ebenso imponieren will, wie dieser Ingenieur Torstensson, fragt er nun, ein wenig malitiös lächelnd, drauf los:

«Sie haben wohl nichts dagegen, lieber Torstensson, wenn ich morgen früh – sogleich nach Ihrer Rückkehr aus der Kreisstadt – ein wenig mit Ihnen da hinauf gondele?!» Der gute Olaf Torstensson kann absolut nichts dagegen haben. Nur aus den Augen (den beredten) Inges sprichts wieder. Daß sie dagegen – instinktiv – noch viel mehr hat, als wenn Olaf alleine hinauffährt. Aber da verabschiedet sich der Ingenieur bereits von den Anwesenden.

10.

Als er schon aufgesessen ist, wird er nochmals an seine Kommissionen erinnert. Und dann reitet er fort.

11.

Und an einer recht malerischen Stelle – die beiden Schornsteine im Hintergrund – hält er an und sieht – träumerisch – noch einmal zurück. Dann aber weiter.

12.

Schöne Stelle irgendwo. Vielleicht am See. Erdmannsdorf steht da und wartet. Tut, als ob er in den Anblick der Landschaft versunken wäre. Und er soll nicht vergeblich geharrt haben – denn da kommt Inge. Vielleicht im Kahn. Er grüßt; spricht mit ihr. Sie verhält sich abweisend. Da arbeitet's in seinem Gesicht gar sehr und – Herr Erdmannsdorf bringt infame Verdächtigungen vor: Warum Herr Olaf wohl mit einer solchen Regelmäßigkeit in die so weit entfernte Kreisstadt ritte usw.

Aber da erhält er eine Abfuhr, wie sie schlimmer nicht ausfallen könnte. Und jeder andere wüßte aus den Mienen Inges nur noch das Eine zu lesen, daß er endgültig bei ihr ausgespielt habe. Nicht so Erdmannsdorf. Denn der wagt nun um so mehr eine regelrechte Liebeserklärung: «Und wenn Du hundertmal zu dem andern hinneigst – ich liebe Dich! hörst Du? (und er reißt sie an sich und sie kann sich nur mit Mühe befreien) und ich krieg dich entweder doch noch oder – oder ich sorge zum mindesten dafür, daß der andere dich auch nicht kriegt!» Man erkennt diese Drohung aus der Angst der zurückbleibenden Inge.

13.

Und in dieser ihrer Angst schleicht sie Erdmannsdorf nach. – Aber nur irgendwie eine Ecke gar groß aufgenommen mit Inge – und Erdmannsdorf selber gar nicht!

14.

Erdmannsdorf, von Inge aus der Ferne beobachtet, spricht mit den Arbeitern, die den Aufzug auf den Schornstein zu bedienen haben und soeben Feierabend machen und weggehen wollen.

15.

Erdmannsdorf fährt zur Schornsteinspitze hinauf. – Muß sehr abendliche Stimmung hier sein.

16.

Erdmannsdorf, an der Spitze des Schornsteins anlangend. Die Umrisse der Schornsteinmauer – Erdmannsdorfs Gestalt – der Galgen ... all die drei als schattenhafte Silhouetten. Und durchaus gespensterhaft nähert sich die Erdmannsdorfsche Gestalt dem Galgen.

17.

Das Innere des Schornsteins. Erdmannsdorf, an den an der Innenwand angebrachten Steigeisen herabsteigend. Daraus, daß noch etwas Licht von oben hereinfällt, mag man entnehmen, daß dieses etwa in vier Fünftel Schornsteinhöhe ist. Und außerdem ist noch diese besondere Praktik ganz deutlich zu sehen: wie Erdmannsdorf die Steigeisen, die er bereits passierte, durchfeilt oder durchsägt und infam zerstört und entfernt. Eins nach dem andern!

18.

Inge kommt, immer noch von tausend Ängsten gejagt, in ihrem Zimmer an. Und ringt ihrer Liebe ein Geständnis ab, ihrer fraulichen Zurückhaltung einen Brief...

19.

Inge kommt, den Brief in der Hand, so spät noch zu ihrem Vater, der bei der Lampe sitzt, leidend wie immer. Und Inge erzählt, dabei auf den Brief deutend: «Ich liebe Olaf! Die Angst um ihn hat mir das Geständnis erpreßt! ... Ich warne übrigens auch dich, Papa, vor diesem Erdmannsdorf! ...» – Vater: Besorgtes Spiel ...

20.

Erdmannsdorfs Kopf – ebenfalls bei einer Lampe – riesengroß. [Man sieht nur Kopf und Lampe.] Sein Entschluß steht fest.