BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Wronke (Posen)

 

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Wronke i. P., Festung 18. 2. 17.

 

Meine liebste Sonitschka!

 

Ich freute mich sehr über Ihren Brief, doch tat mir das zerquälte Gesichtchen, das aus jeder Zeile hervorguckt, sehr weh. Sie müssen fort! Warum trödeln Sie, weshalb fassen Sie keinen festen und klaren Entschluß? Jeder Tag ist eine Versündigung an Ihrem Zustand! Gehen Sie nach Aidenbach [in Niederbayern], wie Hans Diefenbach 1) rät, er war dort sehr gut aufgehoben.

Seit langem hat mich nichts so erschüttert, wie der kurze Bericht Martas 2) über Ihren Besuch bei Karl, wie Sie ihn hinter dem Gitter fanden und wie das auf Sie wirkte. Weshalb haben Sie mir das verschwiegen? Ich habe ein Anrecht, an allem, was Ihnen weh tut, teilzunehmen, und lasse meine Besitzrechte nicht kürzen! Die Sache hat mich übrigens lebhaft an mein erstes Wiedersehen mit den Geschwistern vor 10 Jahren in der Warschauer Zitadelle erinnert. Dort wird man in einem förmlichen Doppelkäfig aus Drahtgeflecht vorgeführt, d. h. ein kleinerer Käfig steht frei in einem größeren, und durch das flimmernde Geflecht der beiden muß man sich unterhalten. Da es dazu just nach einem 6tägigen Hungerstreik war, war ich so schwach, daß mich der Rittmeister (unser Festungskommandant) ins Sprechzimmer fast tragen mußte und ich mich im Käfig mit beiden Händen am Draht festhielt, was wohl den Eindruck eines wilden Tieres im Zoo verstärkte. Der Käfig stand in einem ziemlich dunklen Winkel des Zimmers und mein Bruder drückte sein Gesicht ziemlich dicht an den Draht. „Wo bist Du?“ frug er immer und wischte sich vom Zwicker die Tränen, die ihn am Sehen hinderten. – Wie gern und freudig würde ich jetzt dort im Luckauer Käfig sitzen, um es Karl abzunehmen!

Richten Sie an Pfemfert 3) meinen herzl. Dank für den Galsworthy aus. Ich habe ihn gestern zu Ende gelesen und freue mich sehr darüber. Dieser Roman hat mir freilich viel weniger gefallen als „Der reiche Mann“, nicht trotzdem, sondern weil die soziale Tendenz dort mehr überwiegt. Im Roman schaue ich nicht nach der Tendenz, sondern nach künstlerischem Wert. Und in dieser Beziehung stört mich in den „Weltbrüdern“, daß Galsworthy zu geistreich ist. Das wird Sie wundern. Aber es ist derselbe Typ wie Bernard Shaw und auch wie Oskar Wilde, ein jetzt in der englischen Intelligenz wohl stark verbreiteter Typus: eines sehr gescheiten, verfeinerten, aber blasierten Menschen, der alles in der Welt mit lächelnder Skepsis betrachtet. Die feinen ironischen Bemerkungen, die Galsworthy über seine eigenen personae dramatis 4) mit dem ernstesten Gesicht macht, lassen mich oft laut auflachen. Aber wie wirklich wohlerzogene und vornehme Menschen nie oder selten über ihre Umgebung spötteln, wenn sie auch alles Lächerliche bemerken, so ironisiert ein wirklicher Künstler nie über seine eigenen Geschöpfe. Wohlverstanden, Sonitschka, das schließt die Satyre großen Stils nicht aus! Zum Beispiel „Emanuel Quint“ 5) von Gerhart Hauptmann ist die blutigste Satyre auf die moderne Gesellschaft, die seit hundert Jahren geschrieben worden ist. Aber Hauptmann selbst grinst dabei nicht; er steht zum Schluß mit bebenden Lippen und weit offenen Augen, in denen Tränen schimmern. Galsworthy dagegen wirkt auf mich mit seinen geistreichen Zwischenbemerkungen wie ein Tischnachbar, der mir auf einer Soiree beim Eintreten jedes neuen Gastes in den Salon eine Malice über ihn ins Ohr flüstert.

Clara 6) schrieb mir sehr begeistert über den „Reichen Mann“. Aber wie puritanisch-herb ist ihr Urteil über unsere – Ihre und meine – Irene, dieses entzückende Geschöpf, das zu schwach ist, um sich mit den Ellbogen den Weg durch die Welt zu bahnen und wie eine zertretene Blume am Wege liegenbleibt. Für solche „Damen“, die nur „Geschlechts- und Verdauungsapparate“ seien, fehle ihr, Clara, das Verständnis. Als ob jede Frau eine „Agitatorin“ oder Stenotypistin oder Telephonistin oder sowas „Nützliches“ werden könnte! Und als ob schöne Frauen – zur Schönheit gehört freilich nicht nur eine gute Maske, sondern auch innere Feinheit und Grazie –, als ob schöne Frauen nicht schon deshalb ein Geschenk des Himmels wären, weil sie unsere Augen erfreuen! Wenn Clara als Cherub vor dem Tor des Zukunftsstaates mit flammendem Schwerte die Irenen vertreiben wird, so werde ich sie mit gefalteten Händen bitten: Laß uns die zarten Irenen, wenn sie auch zu nichts gut sind, als die Erde zu schmücken, wie die Kolibris und die Orchideen. Ich bin für Luxus in jeder Gestalt.

Und Sie, Sonitschka, werden sicher diese meine Fürsprache für holde Frauen, deren Liebenswürdigkeit ihr ausreichendes Daseinsrecht ist, unterstützen, denn bei Ihnen wird es ein Plädoyer pro domo sua 7) sein.

Heute ist wieder Sonntag, der tödlichste Tag für Gefangene und Einsame. Ich bin traurig, wünsche aber sehnlichst, daß Sie es nicht sind und Karl auch nicht. Schreiben Sie bald, wann und wohin Sie endlich zur Erholung gehen.

 

Ich umarme Sie herzlichst und grüße die Kinder

 

Ihre Rosa.

 

Kann Pf[emfert] mir nicht noch etwas Gutes schicken? Vielleicht etwas von Th. Mann? Ich kenne noch nichts von ihm. Noch eine Bitte: die Sonne fängt an, mich im Freien zu blenden; vielleicht schicken Sie mir im Briefcouvert 1 Meter dünnen schwarzen Schleier mit zerstreuten schwarzen Pünktchen! Vielen Dank im voraus.

 

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1) Einer der besten Freunde R. Ls, siehe In den Briefen erwähnte Personen 

2) Marta Rosenbaum, Freundin R. Ls, siehe In den Briefen erwähnte Personen 

3) Franz Pfemfert, Verleger, siehe In den Briefen erwähnte Personen 

4) Lat. – Personen der Handlung. 

5) „Der Narr in Christo Emanuel Quint“. 

6) Clara Zetkin, Freundin R. Ls, siehe In den Briefen erwähnte Personen 

7) Lat. – in eigener Sache.