BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Wronke (Posen)

 

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Wronke, 19. 5. 17.

 

Meine liebste Sonitschka,

 

ich schrieb Ihnen gestern eine Postkarte, will Ihnen aber heute noch in einer Angelegenheit schreiben, die ziemlich dringend ist, und hoffe, daß Sie diese Zeilen noch rechtzeitig kriegen. Mathilde [Jacob] schrieb mir nämlich beiläufig, daß Sie Ende dieses Monats nach Berlin zurückkehren wollen. Sollte dies stimmen, dann protestiere ich dagegen mit aller mir zu Gebote stehenden Kraft und bitte Sie um alles, was ich Ihnen wert und lieb bin, davon abzustehen. Es wäre wirklich heller Wahnsinn, wenn Sie jetzt schon nach Hause wollten. Ihr Zustand war derart, daß nur eine lange, andauernde Kur irgendeinen Erfolg verspricht. Ihr letzter Brief verriet, wenn mich mein Ohr nicht trügt, eine kleine, leise Besserung, ein klein wenig Frische und Munterkeit, und ich freute mich darüber herzlich. Aber das ist ja jedenfalls ein erster schwacher Anfang. Sobald Sie jetzt nach Berlin zurückkehren, geht auch dieser kleine Erfolg in zwei Wochen dahin, und alles ist beim alten. Sie brauchen Monate zu Ihrer Erholung, um so mehr, da Sie leider so viel Zeit im Hotel in Stuttgart verloren haben. Für diesen kurzen Aufenthalt verlohnte [es] sich wirklich nicht zu fahren! Und wenn es zu Hause mit den Kindern so lange ging, dann wird es auch noch zwei Monate gehen. Ich bestehe darauf daß Sie noch über Juni und Juli fortbleiben. Auch wegen eines Besuchs bei Karl hat es keinen Zweck, die so wichtige Kur zu unterbrechen, richtiger: zunichte zu machen! Also bitte, Sonjuscha, hören Sie auf mich und bleiben Sie, wo Sie sind, Sie wissen, ich meine es gut mit Ihnen und ebenso mit Karl und den Kindern, Sie können sich auf meinen Rat verlassen. Schreiben Sie mir bald, wie Sie sich entschließen, die Frage läßt mir keine Ruhe.

Wie schön ist es jetzt hier! Alles grünt und blüht. Die Kastanienbäume sind in frischem herrlichen Laubschmuck, die Zierjohannisbeeren haben gelbe Sternchen, die Zierkirsche mit dem rötlichen Laub blüht auch schon und der Faulbaum wird nächstens blühen. Ich habe heute von Luise Kautsky 1), die mich besucht hat, zum Abschied einen Haufen Vergißmeinnicht und Stiefmütterchen gekriegt und sie selbst eingepflanzt! Zwei runde Klümbchen 2) und eine gerade Linie dazwischen, immer abwechselnd Vergißmeinnicht und Stiefmütterchen, – alles steht so fest; ich traue kaum meinen Augen, denn ich habe zum ersten Mal im Leben gepflanzt und alles ist gleich so gelungen. Gerade zu Pfingsten werde ich so viel Blumen vor dem Fenster haben!

Vögel gibt es jetzt hier eine Menge neue, jeden Tag lerne ich wieder einen kennen, den ich nie gesehen hatte. Ach, wissen Sie noch, damals im Botanischen mit Karl in der Frühe, als wir die Nachtigall hörten, da sahen wir auch einen so großen Baum, der noch ganz ohne Laub, aber massenhaft mit kleinen leuchtend weißen Blüten bedeckt war; wir zerbrachen uns den Kopf, was denn das sei, denn es war klar, daß es kein Obstbaum war und die Blüten waren auch etwas seltsam. Jetzt weiß ich! Das ist eine Silberpappel und diese Blüten sind keine Blüten, sondern junge Blättchen. Das erwachsene Blatt der Silberpappel ist nämlich nur unten weiß, oben dunkelgrün, die jungen aber sind noch beiderseits mit weißem Flaum bedeckt und leuchten in der Sonne wie weiße Blüten. Solch eine große Pappel steht hier in meinem Gärtlein und auf ihr sitzen mit Vorliebe alle Singvögel. Damals, am gleichen Tage, wart Ihr Beide bei mir abends, erinnern Sie sich noch? Es war so schön; wir lasen uns etwas vor, und um Mitternacht, als wir stehend Abschied nahmen – durch die offene Balkontür floß himmlische Luft mit Jasminduft herein –, trug ich Euch noch jenes spanische Lied vor, das ich so gern habe:

 

Gepriesen sei, durch wen die Welt entstund,

Wie trefflich schuf er sie nach allen Seiten,

Er schuf das Meer mit endlos tiefem Grund,

Er schuf die Schiffe, die hinübergleiten.

Er schuf das Paradies mit ewigem Licht,

Er schuf die Erde – und Dein Angesicht!. ... 3)

 

Ach Sonitschka, wenn Sie das nicht in Wolfscher Musik gehört haben, dann wissen Sie nicht, wieviel glühende Leidenschaft in diesen schlichten zwei Schlußworten liegt.

Jetzt, während ich das schreibe, ist eine große Hummel ins Zimmer geflogen und füllt es mit tiefem Brummen. Wie schön das ist, welche tiefe Lebensfreude liegt in diesem satten Ton, der von Fleiß und Sommerhitze und Blumenduft vibriert.

Sonitschka, seien Sie heiter und schreiben Sie bald, bald, ich habe Sehnsucht.

 

Ihre Rosa.

 

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1) Luise Kautsky, die Frau von Karl Kautsky und enge Freundin R. Ls, siehe In den Briefen erwähnte Personen 

2) Abgeleitet von „klomb“ (poln.) – Blumenbeet. 

3) aus: Italienisches Liederbuch nach Paul Heyse für eine Singstimme und Klavier von Hugo Wolf, 1. Bd., Mannheim o. J.