BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Emerenz Meier

1874 - 1928

 

Aus dem bayrischen Wald

 

Aus dem Elend

 

____________________________________________________

 

 

[8]

2. Kapitel.

 

――――――――――――

 

Sie hatten in einer kleinen, halbverfallenen Hütte außerhalb des Elends gewohnt.

Die Mutter holte im Sommer Gras und Laubspreu aus dem Staats­wald für ihre einzige Ziege, ging in den Taglohn und kochte nie etwas anderes als Erdäpfel zur Milchsuppe. Sie war immer blaß und traurig, besonders, wenn ein Brief aus Amerika kam. Dann weinte sie tagelang und betete am Abend vor einem Christusbild:

„Lieber Herr Jesus, verzeih' ihm's, o verzeih' ihm und laß's ihm guat gehn!“

Wen sie damit meinte, wußte Itta nicht, welche dies alles erzählte, während Burgl sie aus ihren Lumpen schälte.

„Hat sie dir nie was von dein'm Vatern g'sagt?“ forschte die Witwe.

„J – ja. Sie hat g'sagt, i hab' koan' mehr. Er is g'storb'n, eh' i auf d'Welt kemma bin.“

„Dann muaßt alle Tag für ihn bet'n und für dei Mutter auch. Kannst du's Bet'n?“ [9]

Itta nickte vergnügt.

„Freili, den böhmisch'n Vaterunser kann i; den hat mir der Elendmüllnerbua g'lernt“.

„So bet' ihn amal vor.“

Itta rutschte von dem Stuhl, auf welchen Burgl sie gesetzt hatte, legte beide Fäustchen aufeinander und begann, den „böhmischen Vaterunser“ zu beten.

Aber was war das für ein sonderbares Gebet!

Eine Reihe gemeiner Witze mit böhmischen Worten gespickt, eine Verhöhnung alles Ehrbaren und Heiligen, die aus diesem unschuldigen Munde doppelt häßlich klang. Burgl verschloß ihn entsetzt mit der Hand und nahm eine strafende Miene an, vor der die Kleine erschrocken zurücktrat.

„Das is ja fürchterlich, is a Sünd, so zu bet'n!“ rief sie. „Daß i dich so nimmer hör', oder du muaßt furt, muaßt wieder hin, wo du herg'kommen bist.“

Itta zitterte und blickte mit rührender Angst auf.

„I kann's halt net anders“, sagte sie weinerlich.

„I lern dir's schon noch. So viel seh i vorläufig ein, daß d' auswendig und inwendig vernachlässigt bist, du arm's Kind. Z'erst aber woll'n wir auswendig sauber wer'n, gelt?“

Es war keine leichte Arbeit, diese an sich zarte Haut von monatealtem Schmutz zu reinigen und das ungewöhnlich lange blonde Haar zu entwirren. Doch sie lohnte sich reichlich durch den hübschen Anblick, den das Kind nachher bot.

Burgl freute sich innig daran und verglich es im Stillen mit dem süßen, kleinen Engel auf einem über der Kommode hängenden Bild. Die gleichen lichtblonden Locken und vergißmeinnichtblauen Augen hatte es, und irgend etwas in dem schmalen, blassen Gesicht erinnerte sie sogar an ihren verstorbenen Gatten. Es hatte sie schon oft wehmütig gestimmt, daß sie kein Kind von ihm besaß und nun war es ihr, als hätte ihr Gott in diesem heimat- und elternlosen Wesen einen Ersatz geschickt. Mit plötzlich aufwallender Zärtlichkeit [10] schlang sie ihre Arme um die zierliche, nackte Gestalt und drückte sie an sich.

„Von heut' an g'hörst mein, Itta“, sagte sie leise. „Kannst mi aber auch gern hab'n?“

„J – ja“, war die nachdrücklich gesprochene Antwort.

„Und du mußt dir denka, i bin dei' Muatter, gelt?“

„Ja. – Du bist aber noch braver wie mei' Mutter, die jetzt im Freithof draußt liegt.“

Burgl küßte sie und legte sie in das auf einer mächtigen Truhe hergerichtete Bett. Nachdem sie das Kreuzzeichen über die Kleine gemacht und ihr rasches Einschlummern überwacht hatte, begann sie eifrig in Kisten und Kasten zu kramen. Was sie fand, war ein Hemd, das sie einst als Kind getragen, ein buntes Jäckchen mit hohen Bauschärmeln und ein Rock, dem sie durch Einschlagen des Saumes die nötige Kürze verlieh.

Mit diesen Kleidern angetan, wurde Itta am nächsten Morgen in das Vorderhaus geführt, wo infolge des abendlichen Zwistes noch eine ziemlich gedrückte Stimmung herrschte.

Der Bauer ging rastlos in der Stube auf und ab und warf von Zeit zu Zeit einen unruhigen Blick durch das Fenster auf den Hof, den meterhoher Schnee überdeckte.

Er hatte in der Nacht den Sturm um das Haus wüten hören und es war ihm bange zu Mute geworden.

Wenn das fremde Kind das Nachbardorf nicht mehr erreicht hätte und auf freiem Feld geblieben – erfroren wäre? Bis zum Tod würde er keine ruhige Stunde mehr haben, immer würde ihm das furchtbare Wort: „Du hast es hinausgetrieben!“ das vorhin der bekümmerten Bäuerin entfahren war, im Ohr wiederhallen.

Am liebsten wäre er jetzt noch auf die Suche gegangen, wenn sich nicht sein Stolz gegen eine solche Selbstdemütigung gesträubt hätte.

Die Dienstboten saßen bei der Morgensuppe und Gottfried [11] arbeitete anscheinend an seiner Schulaufgabe, als Burgl mit ihrem Schützling eintrat.

„Gut'n Morg'n, Sepp“, sagte sie freundlich. „Was ist's, hast dir den Ärger ausgschlaf'n heut Nacht oder is dei Sinn noch immer so hart?“

Er starrte sie keines Wortes mächtig an, während die Bäuerin einen Ruf der höchsten Überraschung ausstieß.

„Na, i moan', koa stoaners Herz hast doch net im Leib und wenn's so wär', der Anblick müaßt 's derwoacha“, fuhr Burgl fort, indem sie Itta, die in kindlicher Angst beide Hände an die Augen drückte, vor sich herschob.

„Schau her, was des für an Elend is: Koan Vater, koa Mutter, koa Hoamat. – Und a Maul mehr, zudem so a kloan's wie dies, macht dich net arm, bringt dir vielmehr Glück und Seg'n ins Haus. – Geh her da, Itta, heb' d' Handerl auf und bitt' recht schön, daß d' bei mir bleib'n derfst.“

Itta that wie ihr geheißen und ihre blauen Augen strahlten in feuchtem Glanz aus dem purpurroten Gesicht.

Der Bauer wandte sich schnell ab.

„Mach' koane solchen G'schicht'n“, sagte er mit etwas rauhklingender Stimme. „I hätt' ohnehin nix dageg'n g'habt, wenn's gestern da'blieb'n wär', aber Ös 1) Mordsweiberleut' kunnts unsern Herrgott'n aus der Schanier 2) bringen.“

Ein allgemeines Aufatmen ward in der Stube hörbar.

„Und was sagst denn du dazu, Gottfried, daß d' jetzt so a sauber's Schwesterl kriagst?“ fragte Burgl den Knaben, welcher ruhig in seinem Winkel sitzen geblieben war.

„Schwesterl?“ fuhr er fast heftig auf. „Nein, das net, – es is vom Elend – aber sunst ist's mir schon recht, wenn's dableib'n kann. Es macht uns ja net ärmer.“

Damit wandte er sich wieder seinen Schulbüchern zu. [12]

Erst als sich alle entfernt hatten und auch Burgl für kurze Zeit hinausgegangen war, näherte er sich der regungslos dastehenden Itta mit neugierigen Blicken.

„Hm, du bist ja ganz a hübsch' Katzerl“, meinte er nach einer gründlichen Musterung. „Und außaputzt hat dich d' Burgl wie a Docka 3). Wennst nur koa Böhmin net wär'st, – es is wirkli schad'.“

Daß sie stumm blieb und ihn nur mit ungemein ernsten Augen ansah, machte ihn etwas unsicher und nach einer Pause griff er in die Tasche, einen rotbackigen, appetitlich aussehenden Apfel hervorziehend.

„Da beiß drein“, sagte er.

Sie trat zurück und schüttelte den Kopf.

„Ei magst denn koane Äpfel, du g'spaßig's Ding?“

„J – ja.“

„Na, so nimm ihn halt.“

„N – na.“

„Warum denn net?“

Nach langem Zögern stieß sie fast wild hervor:

„I bin net brav, iß'n du selber!“

Diese Worte sollten ihrem verletzten Stolz zum Ausdruck dienen, fanden aber kein Verständnis bei dem Knaben, welcher sich ärgerlich abwandte.

Er hatte sich schon vorgenommen, Itta gegenüber liebenswürdiger zu sein, ihr Spielzeug anzufertigen, sie auf den Schlitten zu setzen, wenn er mit dem Vater in den Wald fuhr, doch das war nun alles vorbei. Die Sprödigkeit, mit welcher sie ihn von sich gewiesen, verdroß ihn dermaßen, daß er beschloß, sich nie mehr um das böhmische Mädchen zu kümmern, es keines Blickes mehr zu würdigen. Das that er in den nächsten Tagen wirklich und auch Itta ging [13] dem dunkeläugigen, hochmütigen Jungen geflissentlich aus dem Weg.

Burgl hatte schon am ersten Abend mit Schrecken die geistige Verwahrlosung ihrer Kleinen erkannt und eifrig war sie bestrebt, ihr die ersten Begriffe von Religion beizubringen. Auch sonst lehrte sie Itta manches ihrem Alter angemessene, erzählte ihr biblische Begebenheiten und Märchen und hatte die Freude, wahrnehmen zu können, wie richtig Itta alles auffaßte, wie empfänglich ihr Gemüt, wie treu ihr Gedächtnis war. Und rührend war der Eifer, mit welchem sie sich im Hause nützlich zu machen und sich Zuneigung zu erwerben suchte. Der Bäuerin trug sie Holz und Späne an den Herd, dem Bauern stellte sie Stiefel und Schneereifen bereit, wenn er ausgehen wollte und auch den Dienstboten erwies sie nach bestem Können ähnliche kleine Gefälligkeiten, die ihr manche Liebkosung einbrachten. Als ob die kleine Kluge bereute, es mit einem der einflußreichsten Familienmitglieder verdorben zu haben, näherte sie sich endlich auch Gottfried in solcher Weise, fand aber, daß es vergeblich geworden war. Er wies sie mit fast gehässigen Blicken von sich und ließ sie seine Verachtung auch für ihr Kinderherz deutlich genug fühlen. Daß Burgl sich der Kleinen mit so großer Liebe annahm und in der Sorge für sie völlig aufging, stimmte den Knaben durchaus nicht freundlicher, weckte vielmehr ein bitteres Gefühl des Neides in ihm, das er aber unter trotziger Gleichgültigkeit verbarg.

Als die unter ihrem Leide fast zusammengebrochene Witwe vor fünf Jahren zum Reutbauernhof zurückgekehrt war, war er, der hübsche Bub, es gewesen, der ihr das erste Lächeln abgelockt, sie durch sein kindliches Geplauder aufgeheitert hatte. Er wurde dafür von ihr verhätschelt, ihr Liebling genannt, bis – bis das böhmische Kind kam und ihn aus seiner bevorzugten Stellung verdrängte. [14] Wie sonst er, so durfte jetzt Itta in der warmen Stube Burgls, in der es besonders des Abends so traulich und gemütlich aussah, herumspielen, durfte das Ofenrohr nach gebratenen Äpfeln, die Schubladen nach Süßigkeiten durchsuchen und dann zu Füßen der Frau wunderbaren Geschichten und Märchen lauschen. Freilich hätte ihn niemand daran gehindert, an dem allen teilzunehmen, aber er verschmähte es und hielt sich eifersüchtig grollend fern.

Nur manchmal, wenn er sich unbeobachtet wußte, schlich er heimlich in das Hinterhaus, um an Burgls Thür zu horchen und sehnsüchtig durch das Schlüsselloch zu gucken.

 

――――――――

 

1) Ihr 

2) Fassung 

3) Puppe