BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

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6.

Der Ausbau

der bürgerlichen Demokratie.

 

Die Umwälzung von 510 stellte dem Bürgertum Athens die Aufgabe, sich selbst zu regieren. Und es hat die Aufgabe gelöst, in einem Umfang, der alles weit hinter sich läßt, was die Neuzeit in der Gestalt der bürgerlichen, parlamentarischen Demokratie geschaffen hat. Wenn die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Volkes eine gewisse Stufe erreicht, so daß gewisse Forderungen sich mit Notwendigkeit ergeben, dann finden sich in der Regel auch die Männer, die imstande sind, im Sinne dieser Forderungen zu handeln. So war es damals auch in Athen: ein Adliger, der sich auf die Seite des Bürgertums geschlagen hatte, Kleisthenes, schuf die Form, in der die Selbstregierung, zunächst der Besitzenden, in Athen möglich wurde.

Im Staate Athen besaß schon längst jedes Dorf eine gewisse Selbstverwaltung. Das Dorf hatte seinen Vorsteher, der die Kasse des Ortes verwaltete, die Liste der Einwohner führte und die Polizei unter sich hatte. Ebenso zerfiel die Stadt Athen in eine Anzahl kleiner Bezirke, von denen auch jeder seinen Vorsteher mit entsprechenden Befugnissen hatte. Diese Keimzellen des politischen und kommunalen Lebens von Athen, die Dörfer wie die Stadtbezirke, hießen Demen. Von den Demen ging Kleisthenes beim Aufbau der Staatsverfassung aus. Es waren dies ja Gemeinschaften von Leuten, die zusammen wohnten und sich [23] meistens persönlich kannten. Diese kleinen Bezirke sollten Vertreter in eine Körperschaft senden, die auf die Regierung des Staates bestimmenden Einfluß ausüben sollte, also eine Art von Parlament. Die Körperschaft, die Kleisthenes schuf, war der „Rat“ (griechisch: bule, betont wird das e, das lang ist!) der 500. In den Rat schickte jeder kleine Bezirk einen, zwei oder drei oder auch mehr Vertreter, immer im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl; im ganzen waren es 500. Aber nun kommt eine Bestimmung, die für den Menschen von heute, der sich an den Parlamentarismus gewöhnt hat, überaus seltsam ist: die Mitglieder des Rats der 500 wurden nicht gewählt, sondern erlost. Kleisthenes und die anderen maßgebenden Athener jener Zeit meinten nämlich, daß gar keine hohe, besondere Weisheit dazu nötig sei, um als Mitglied des Rates die Geschäfte der Allgemeinheit zu besorgen, sondern daß jeder verständige Durchschnittsbürger dazu fähig sei: deshalb nicht die Wahl, sondern das Los. Aber ganz so einfältig war dieser Grundsatz doch nicht, wie er auf den ersten Augenblick aussieht. Zunächst tagte der Rat oft und lange; die Zugehörigkeit zum Rat war aber ein Ehrenamt, das nichts einbrachte. Also konnten nur solche Leute Mitglieder des Rats werden, die nicht völlig von der Hand in den Mund lebten; die imstande waren, öfter einen halben Arbeitstag für die Allgemeinheit zu opfern, ohne daß ihre Familie dadurch gleich in Not geriet. Also war der Besitzlose, der Proletarier, tatsächlich vom Rat ausgeschlossen, obwohl nach dem Buchstaben der Verfassung jeder Athener, ohne Unterschied des Besitzes, in der Volksversammlung stimmen und im Rat sitzen durfte. Denn nur derjenige wurde in den Rat gelost, der es wollte und sich dazu meldete. Wenn sich aber einmal ein offenkundig unwürdiger und ungeeigneter Mensch, etwa ein bekannter Säufer, in seinem Bezirk zur Losung in den Rat meldete, und der Zufall wollte es, daß er auch erlost wurde, so gab es doch ein Mittel, um solche Elemente vom Rat fernzuhalten: ein richterliches Urteil konnte einem Unwürdigen den Eintritt in den Rat verwehren.

Dieser Rat der 500 sollte zusammen mit dem Präsidenten der Republik, den jährlich die Volksversammlung wählte, die Staatsgeschäfte erledigen. An die Volksversammlung selbst konnten naturgemäß nur die grundsätzlichen Entscheidungen gebracht werden, nachdem der Rat zuvor die Angelegenheit beraten hatte. Indessen, wäre Kleisthenes bei dieser Verfassung [24] stehen geblieben, so hätte der Präsident der Republik ein natürliches Übergewicht besessen. Er war, um modern zu sprechen, Staatspräsident und Ministerpräsident zugleich. Alle Staatsangelegenheiten gingen durch seine Hand, und auf der anderen Seite stand eine Körperschaft von 500 wenig geschäftskundigen Männern, die bestenfalls reden und schelten, aber doch nicht sachlich mitregieren konnte. Diese Hauptschwierigkeit hat Kleisthenes erkannt und überaus geistvoll gelöst.

Der Rat der 500 wird in zehn Teile geteilt und ebenso das Jahr in zehn Teile. Es ergeben sich dort 50 Ratsmitglieder, hier 36 Tage. Nun bestimmte die Verfassung des Kleisthenes, daß immer ⅟10 des Rats 36 Tage als vollziehender Ausschuß arbeiten sollte. Die Mitglieder dieses „Vollzugsrats“ hießen: Prytanen. Ihre Aufgabe war es, ständig mit dem Präsidenten der Republik bei der Erledigung aller laufenden Geschäfte zusammenzuarbeiten. Durch diese geistvolle Maßregel war die Schwerfälligkeit und Hilflosigkeit der Versammlung der 500 überwunden. Der Ausschuß der 50 war wirklich imstande, jede Frage eingehend und sachlich zu besprechen und dann die Durchführung des Beschlusses zu überwachen. So war die Selbstregierung des athenischen Bürger- und Bauernstandes zu einem erheblichen Teile verwirklicht worden.

Zugleich mit der politischen Macht wurde auch die Rechtspflege in die Hand des Bürgertums gelegt: es wurden Schwurgerichte gebildet, die das Urteil in den meisten kriminellen wie zivilen Prozessen zu sprechen hatten. Auf einige Ausnahmen von dieser Regel brauchen wir hier nicht einzugehen. Die Geschworenen wurden ganz in derselben Weise aus der Gesamtheit der Bürger erlost, wie dies bei den Ratsmitgliedern der Fall war. Da auch die Tätigkeit der Geschworenen ehrenamtlich war, waren die Besitzlosen, trotz ihrer scheinbaren Gleichberechtigung, von der Rechtsprechung ebenso ausgeschlossen wie von der politischen Tätigkeit. 1)

Das waren die leitenden Gedanken der Verfassung von 510. Die neuen Einrichtungen bewährten sich, und die Herrschaft des Mittelstandes blieb beständig. Versuche, wieder die Herrschaft eines einzelnen, in der Art des Peisistratos, in Athen aufzurichten, wurden mit leichter Mühe abgewehrt. Der Adel und [25] die Reichen fügten sich, wie bereits hervorgehoben wurde, notgedrungen der neuen Ordnung der Dinge, und auf der anderen Seite waren die Besitzlosen noch nicht zu klassenbewußtem Denken erwacht. Im Jahre 490 gelang es überdies den Athenern, den Angriff der stärksten Militärmacht der damaligen Welt, des Perserreichs, siegreich abzuschlagen, wodurch das Selbstbewußtsein des athenischen Bürgertums mächtig erhöht wurde. Aber eine Schwierigkeit stellte sich doch im politischen Leben des Staates immer deutlicher heraus: zum Präsidenten der Republik wählte die Volksversammlung alljährlich einen besonders angesehenen und einflußreichen Politiker. Es waren die stärksten Persönlichkeiten Athens, die den Posten des Präsidenten (Archon) in dieser Zeit ausgefüllt haben. Da ist es klar, daß es dauernd zu Reibungen zwischen dem Präsidenten und dem Vollzugsausschuß des Rats kam. Der Präsident konnte sich überdies darauf berufen, daß er in direkter Wahl von der gesamten Bürgerschaft bestimmt worden sei, daß er also das Vertrauen des Volkes genieße, während der Ratsausschuß einem indirekten und Zufallsverfahren sein Amt verdanke.

Das Bürgertum Athens sah allmählich ein, daß es seine Selbstregierung doch noch nicht ganz verwirklicht hatte. Der Klasse, die sich im Rat verkörperte, stand immer noch der einzelne in Gestalt des Präsidenten gegenüber. Es zeugt für die rücksichtslose Entschlossenheit, mit der das athenische Bürgertum sein Ziel verfolgte, daß man sich dazu aufraffte, den Präsidenten überhaupt zu beseitigen. Diese Umwälzung vollzog sich im Jahre 487. Zwar gab es auch danach noch einen Beamten des Titels Archon in Athen; aber er hatte sehr unbedeutende Befugnisse und mit der Regierung des Staates nichts mehr zu schaffen.

Der Präsident der Republik war beseitigt; der Vollzugsausschuß des Rats blieb allein als oberste Regierungsbehörde übrig. Die 50 wählten sich täglich einen anderen Obmann, damit auch hier die Einzelpersönlichkeit sich nicht ungebührlich vordrängen sollte. Sie hatten die Aufsicht über die Staatskasse, ihnen unterstand die Polizei, sie beriefen den Rat und die Volksversammlung. 36 Tage dauerte die Herrlichkeit; dann verschwanden die Prytanen wieder im Schoße der Gesamtkörperschaft des Rats. Man muß sagen, daß sowohl in der Zeit der bürgerlichen wie nachher der proletarischen Demokratie diese Selbstregierung des Volkes sich trefflich bewährt hat und sich glatt und reibungslos durchführen ließ. [26]

Das Landheer der Republik Athen bestand seit dem Sturz der Adelsherrschaft aus dem Aufgebot aller Besitzenden, die sich, wie wir oben gesehen haben, ihre Ausrüstungsgegenstände selbst kaufen mußten. Die Besitzlosen dienten als Ruderer auf der Flotte. Den Oberbefehl über die athenischen Streitkräfte zu Land wie zu Wasser erhielt ein General, der jährlich von der Gesamtheit des Volkes gewählt wurde. Er führte den Titel: strategos. „Stratege“, was heute den besonderen Meister der Kriegskunst bezeichnet, war damals einfach ein Ausdruck für „Oberst“ oder „General“. An sich hatte der General Athens mit der Staatsregierung oder überhaupt mit nichtmilitärischen Dingen nichts zu schaffen. Aber es bildete sich doch die Sitte heraus, daß das Volk den Politiker, zu dem es besonderes Vertrauen hatte, zum General wählte. Die Kriegskunst war damals noch nicht so schwierig und verwickelt wie heute, und die meisten Politiker Athens trauten es sich zu, zur Not auch eine Schlacht zu leiten oder die Flotte zu führen. Schlimmstenfalls gab es ja sachkundige Freunde, an die man sich halten konnte. So kam es, daß das Haupt der in Athen gerade regierenden politischen Richtung für die Außenwelt meistens als General hervortrat. Der General war befugt, in allen militärischen Dingen unmittelbar mit dem Rat zu verhandeln, und in der Volksversammlung durfte er, wie jeder andere Athener, zur Sprache bringen, was er wollte. Überdies konnte er seine politischen Freunde im Ausschuß der 50 und im Rat veranlassen, Anträge auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zu stellen. Aber trotz alledem wäre es ganz falsch, nun einfach in dem Strategen, dem General, den Erben des Präsidenten der Republik, des Archon, unter anderem Namen zu sehen. Denn die wirkliche Regierungsgewalt besaß der General ja nicht, und man darf doch nicht den Vorsitzenden der einflußreichsten politischen Partei einfach dem Präsidenten der Republik gleichsetzen. Ein Gegensatz zwischen Heer und Volk hat in Athen nie bestanden, weil das Heer und die Marine weiter nichts waren als das Aufgebot des wehrfähigen Volkes und weil es Offiziere oder Unteroffiziere von Beruf in Athen nie gegeben hat. Ein Mißbrauch seiner Stellung durch den General war auch nicht gut möglich; denn die Volksversammlung hatte das Recht, alle vier Wochen den General, wenn er ihr nicht mehr paßte, abzusetzen. Selbst ein als Politiker so einflußreicher General wie Perikles ist, als er das Vertrauen des Volkes verloren hatte, mitten in seinem Amtsjahr ohne weiteres von der Volksversammlung abgesetzt worden. [27]

Es muß freilich gesagt werden, daß sich diese Bestellung des mächtigsten Parteiführers zum General in Athen durchaus nicht immer bewährt hat. Der eben erwähnte Perikles ist z.B. ein sehr erfolgreicher Staatsmann, aber zugleich ein sehr unfähiger Militär gewesen und hat durch seine militärischen Fehler dem Staate schweren Schaden gebracht.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 6.

 

1. Welches waren die Ziele des Kleisthenes?

2. Wie setzte sich der Rat der 500 zusammen?

3. Wie entstand der Ausschuß der 50, und was hatte er zu tun?

4. Warum und wie wurde der Präsident der Republik in Athen abgeschafft?

5. Wodurch waren die Besitzlosen in der Verfassung in der Verfassung des Kleisthenes politisch ohne Macht?

6. Wie wurden die Schwurgerichte in Athen gebildet?

7. Welche Stellung hatte in Athen der General?

8. Wer waren die Offiziere in Athen?

 

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1) In dieser kurzen Übersicht über die Verfassung Athens sind nur die Tatsachen angeführt, die zur Beurteilung der politischen Machtverhältnisse der einzelnen Klassen von Bedeutung sind; alles andere, auch wenn es an sich wichtig ist, wurde fortgelassen, weil es über den Rahmen dieser Darstellung weit hinausführen würde.