BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

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9.

Das Proletariat

kommt zur Macht.

 

Das mehrjährige Ringen zwischen den Besitzenden und Besitzlosen in Athen kam im Jahre 461 zur Entscheidung: das Bürgertum gab auf der ganzen Linie nach, und die Proletarier nahmen die Macht in die Hand, ohne daß es zu einem blutigen Kampf gekommen wäre. Die Besitzenden sahen eben ein, daß sie gegen die geschlossene Übermacht der Ärmeren nichts ausrichten konnten, und fügten sich. Indessen traf doch die Rache der gestürzten Klasse den Mann, der mehr als jeder andere dazu beigetragen hatte, das Bürgertum politisch niederzuwerfen: Ephialtes wurde hinterlistig ermordet. Es ehrt die athenischen Prole­tarier, daß sie sich durch diese Schandtat zu keinen Gewalttätigkeiten hinreißen ließen; die Ruhe blieb erhalten, und an Stelle des toten Führers traten neue Männer.

Die entscheidende Neuerung des Jahres 461 war die Einführung von Tagegeldern für die Mitglieder des Rats und der Schwurgerichte. Aber der Staat zahlte nicht mehr als den Tagelohn des ungelernten Arbeiters: 2 Obolen, das sind ungefähr 30 Pfennig. Mit diesem Betrag konnte man damals in Athen existieren. So groß ist der Unterschied des Geldwertes zwischen jener Zeit und der Gegenwart! Die Existenz mit Hilfe der 30 Pfennig am Tag war freilich nur knapp und bescheiden; aber der Staat wollte mit seiner Zahlung auch keine faulen Pensionäre heranzüchten.

Wie sah nun nach der Reform, oder besser gesagt Revolution von 461, der Rat der 500 aus? In jedem kleinen Bezirk bestimmen die dort wohnenden Proletarier einen oder mehrere aus ihrer Mitte als Ratsmitglieder. Diese Männer sind nur ein Jahr tätig; sie beziehen als Entgelt für ihr öffentliches Wirken einen Arbeiterlohn; sie haben endlich zugleich beratende und ausführende [37] Gewalt. Denn der „Rat der 500“ als Ganzes beratet, und sein Ausschuß der 50 regiert, immer für 36 Tage. Die Staatsmaschine, welche schon die bürgerliche Republik geschaffen hatte, war eben so vortrefflich und so geeignet, die Selbstregierung des Volkes zu verwirklichen, daß die Proletarier, wie sie selbst zur Macht gelangten, einfach die vorhandene Staatsorganisation zu übernehmen hatten. Es besteht die größte Ähnlichkeit zwischen der Verfassung Athens in der Zeit der proletarischen Demokratie und den Einrichtungen der Pariser Kommune von 1871: hier wie dort die kleinen Bezirke, aus denen heraus die arme Bevölkerung ihre Vertreter schickt; hier wie dort die Besoldung der Staatswürdenträger mit Arbeiterlohn; hier wie dort die zentrale Körperschaft, die sich aus den Vertretern der kleinen Bezirke zusammensetzt und die zugleich die beratende und ausführende Gewalt hat. Soweit die Gedanken der Pariser Kommune auf das heutige Rätesystem in Rußland usw. eingewirkt haben, besteht auch eine Ähnlichkeit zwischen diesem und der athenischen Verfassung.

Auf der anderen Seite darf man wieder die Unterschiede zwischen den drei erwähnten Verfassungen nicht übersehen. Eigentümlich athenisch ist zunächst die Existenz der Volksversammlung selbst neben dem Rat. Alle wichtigen Angelegenheiten wurden zunächst im Rat besprochen; dann faßte der Rat den Beschluß und brachte ihn zur Bestätigung oder Verwerfung vor die Volksversammlung. Meistens wurde ja so entschieden, wie der Rat es vorgeschlagen hatte; aber den maßgebenden Willen behielt sich doch die Gesamtheit des Volkes in ihrer leibhaftigen Erscheinung vor. Dieses Mitwirken der Versammlung aller Bürger ist in modernen Zeiten durch die Größenverhältnisse der Staaten unmöglich geworden. Eigentümlich athenisch ist zweitens die Anwendung des Loses zur Zusammensetzung des Rats. Athen und die Kommune hatten kein Betriebswahlrecht, weil der industrielle Großbetrieb im Jahre 1871 nach Christus noch ebensowenig vorherrschte wie 461 vor Christus. Die Formen des Wirtschaftslebens haben sich eben in den letzten 50 Jahren mehr geändert als in den vorhergehenden drei Jahrtausenden. Athen hatte auch, so wenig wie die Kommune, eine Stimmrechts-Einschränkung zugunsten der ärmeren Bevölkerung. In Athen wie in Paris verließ man sich darauf, daß das Klassenbewußtsein der Arbeiter und Kleinbürger stark genug sein würde, um ihrer größeren Zahl die nötige Geltung zu verschaffen. Alle drei [38] Verfassungen hatten aber denselben Grundgedanken: es sollte versucht werden, die Selbstregierung der ärmeren, arbeitenden Bevölkerung so vollständig wie nur möglich durchzuführen.

Die Besitzlosen hatten in Athen seit 461 die Mehrheit im Rat, schon durch das Mittel der gleichen Losung. Sie beherrschten durch den Rat auch den regierenden Ausschuß der 50 sowie die anderen Kommissionen, die der Rat für die verschiedensten Verwaltungszwecke aus sich heraus bildete. Die Besitzlosen hatten naturgemäß die Mehrheit in der Volksversammlung, die auch alle Jahre den General der athenischen Streitmacht wählte. Sie beherrschten endlich die Gerichte. So war die politische Herrschaft der Proletarier oder Theten restlos durchgeführt. Welchen wirtschaftlichen Nutzen zog nun die ärmere Bevölkerung Athens aus ihrer politischen Macht? Zunächst wurde es so eingerichtet, daß jährlich ein erheblicher Teil der Proletarier statt in der Lohnarbeit oder sonstiger Handarbeit im leichteren öffentlichen Dienst stehen konnte. Aus diesem Grunde machte man z. B. die Schwur­gerichte sehr groß. Alljährlich wurden in Athen 6000 Geschworene ausgelost, die ja auch viele Prozesse aus dem Reich zu erledigen hatten. Dazu kamen die 500 Ratsmitglieder und noch ein paar hundert andere Leute, die sonstige kleine Staatsämter erhielten. Man kann wohl sagen, daß ständig ein Drittel aller Besitzlosen zwar nicht jeden Tag, aber doch viele Tage im Jahr von öffentlicher Tätigkeit lebte. Die Kosten für diese Tagegelder mußten naturgemäß die Besitzenden aufbringen, denen überhaupt die Staatslasten, soweit es irgend ging, auferlegt wurden. Es war üblich, daß z. B. ein einzelner reicher Bürger ein Kriegsschiff aus­rüsten mußte oder die Unkosten einer Theater- oder Musikaufführung für das Volk zu tragen hatte. Weiter erfahren wir, daß z. B. ein gelernter Maurer im damaligen Athen einen Tagelohn von 1 Drachme = ⅘ Goldmark bezog. Das ist verhältnismäßig sehr viel, das Dreifache des Betrages, von dem man schon existieren konnte und den z. B. der Staat den Geschworenen zahlte. Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese hohe Bezahlung der gelernten Arbeit wenigstens indirekt auf den Einfluß des Staates zurückgeht. Der Staat zahlte, wenn er selbst als Arbeitgeber auftrat, wie bei den öffentlichen Bauten, diese hohen Löhne und nötigte damit auch die privaten Unternehmer, das gleiche zu zahlen. Alten und arbeitsunfähigen Bürgern wurde eine, wenn auch nur bescheidene Unterstützung aus öffentlichen Mitteln gezahlt. Am [39] klarsten tritt jedoch der Charakter der Republik Athen in ihrer Kulturpolitik hervor, wo wirklich mit der Forderung Ernst gemacht worden ist, auch der armen Bevölkerung die Annehmlichkeiten des Lebens zu erschließen. Die Theateraufführungen in Athen waren sämtlichen Bürgern unent­geltlich zugänglich. Die Vorstellungen fanden vor vielen Tausenden von Zuschauern statt. Es ist klar, daß die Dichter der Stücke sich auf diese Verhältnisse einrichten mußten, daß ihre Werke sich in großen, starken Linien bewegten und auf die Massenwirkung zugeschnitten waren. In neuerer Zeit hat man diese wesentliche Eigenart des Theaters von Athen lange verkannt, und die altgriechischen Stücke haben in unserer Zeit erst dann wieder ihre volle Wirkung ausgeübt, als man begann, sie vor Massen zu spielen; wenn auch nicht vor Zehntausenden wie im Altertum, so doch vor Tausenden. Das Hauptverdienst an dieser Rückeroberung der griechischen Theaterstücke für unsere Kultur hat Max Reinhardt. Ebenso wie das Theater waren in Athen auch alle musikalischen Aufführungen unentgeltlich und den breitesten Massen zugänglich. Die modernen Leichenkammern der Kunst, Museen genannt, kannten die Athener noch nicht. Die zahlreichen Schöpfungen der Bildhauerkunst und Malerei waren alle öffentlich zugänglich; in den Tempeln, auf den Plätzen usw. Private Kunstsammlungen, wie das spätere Altertum sie schon kennt, waren in Athen damals noch nicht vorhanden. Jeder Athener, auch der ärmste, war also in der Lage, alles in sich aufzunehmen, was Theater und Musik, Bildhauerkunst und Malerei zu bieten hatten. Dazu kam noch der unentgeltliche Zutritt zu den zahlreichen und sorgfältig ausgestatteten Sportplätzen. Sport wie Kunst waren ursprünglich Sache des Adels gewesen, dann waren sie auch dem Bürgertum zugänglich geworden, und nun ergriff das Proletariat von ihnen Besitz.

Indessen blieb in Athen eine Reform aus, die man heutzutage ohne weiteres erwarten würde: es geschah nichts, um etwa den Kindern der armen Bevölkerung die höhere Schulbildung zugänglich zu machen. Das einfache Bildungsbedürfnis der Masse, Schreiben, Lesen, Rechnen usw., befriedigten nämlich die schon oben erwähnten, sehr billigen pri­vaten Volksschulen. Und irgendeinem Menschen eine Fachausbildung zu verschaffen, galt erst recht nicht als Sache der Allgemeinheit. Die mußte sich jeder in seinem Beruf als Lehrling oder Gehilfe besorgen. Der Wunsch nach einer höheren, allgemeinmenschlichen [40] Jugendbildung auf wissenschaftlicher Grundlage ist zwar auch im 5. Jahrhundert in Griechenland aufgetaucht, aber solche Bestrebungen hatten nur enge Kreise; die breite Masse wollte davon nichts wissen. Das spätere Altertum ist auf diesem Gebiet viel weiter gekommen als die Athener des 5. Jahrhunderts.

Nun noch die Frage: Wie standen die Proletarier Athens zu Kirche und Religion? Die Priester Griechenlands haben niemals einen politischen Einfluß ausgeübt, und die griechische Religion verwies den Menschen auf kein Jenseits, sondern billigte durchaus ein kräftiges Drauflosleben in dieser Welt. Man empfand ja die griechischen Götter vielfach als die Verkörperung all der Kräfte und Mächte, die im menschlichen Leben und in der Natur hervortreten. So ist es begreiflich, daß die Besitzlosen Athens bei ihrem Kampf um die politische Macht in keinerlei Gegensatz zur damaligen Kirche traten. Vielmehr sind die Massen Athens fromm und gläubig geblieben. Die kleinen wissenschaftlich aufgeklärten Kreise, die schon oben erwähnt wurden, glaubten freilich an die Götter nicht mehr und hielten mit dieser Meinung auch nicht zurück. Im allgemeinen hat man sie deswegen nicht behelligt; denn im Altertum hatte man den verständigen Grundsatz, daß die Götter ihre Beleidiger selbst strafen müßten. Einige wenige Ausnahmen von dieser Regel, die in Athen vorgekommen sind, hatten stets besondere politische Gründe. So hat man in Sokrates nicht, wie gewöhnlich behauptet wird, den Freigeist, sondern den geistigen Vater der Gegenrevolution treffen wollen.

Mit dem Sieg der Besitzlosen in Athen bekam das Wort „Demokratie“ einen neuen Inhalt. Früher hatte man die „Herrschaft der ärmeren Mehrheit“ nur im Gegensatz zum Adel und zu der kleinen Oberschicht der Reichen gedacht. In diesem Sinne war die Verfassung des Kleisthenes mit ihrer Herrschaft des Mittelstandes, wobei auch der Arme das Stimmrecht in der Volksversammlung hatte, eine Demokratie. Seit dem Jahre 461 jedoch gilt nur der Zustand in Athen und überhaupt bei den politisch fortgeschrittenen Griechen als wahre Demokratie, wo tatsächlich die Mehrheit der Armen im Besitz der Gewalt ist. Einen politischen Zustand, wobei der Mittelstand regierte, bezeichnete man jetzt einfach als „Herrschaft der Minderheit“ oder „Oligarchie“. Freilich war es jetzt nicht mehr möglich, die tatsächliche Gewalt des Mittelstandes mit dem Schein des allgemeinen Stimmrechts zu umkleiden. Dazu waren die Massen [41] der Armen schon zu klassenbewußt geworden. Wenn man nunmehr den Zustand, wie er tatsächlich in Athen in der Zeit des Kleisthenes, Themistokles und Aristides bestanden hatte, erneuern wollte, so ging dies nicht ohne gewaltsame Niederhaltung der Besitzlosen und ohne offene Einschränkung des Stimmrechts.

Das menschlich schönste Ergebnis, das die Durchführung der proletarischen Demokratie in Athen hatte, war die Steigerung des Selbstbewußtseins des einzelnen. Der athenische Handwerker, Seemann und sonstige arme, arbeitende Mensch hatte das klare Bewußtsein, daß er niemand auf Erden Untertan war als höchstens sich selbst. Und in diesem Sinne trat er auch auf. In der Gesellschaft Athens verschwanden die Abstufungen; der Arbeiter verkehrte mit dem Edelmann und Bankier ganz wie gleich und gleich. Das Bewußtsein seiner Macht gab dem armen Athener aber auch die entsprechende Würde und Selbstbeherrschung. Solch ein Athener war kein gebildeter Mann in unserem Sinne, aber er wußte alles, was er im Leben nötig hatte. Er tat seine Arbeit in der Werkstatt, verfolgte aufmerksam die politischen Tagesereignisse und hatte auch ein einfaches, gesundes Gefühl für die Kunst. Wie er seinen Hausstand vernünftig in Ordnung hielt, ohne viel zu grübeln, so tat er auch seine Pflicht, wenn man ihn auf einen öffentlichen Posten stellte. Er arbeitete als Geschworener und im Rat, schlecht und recht, wie es sich gehörte; ohne viel Fachwissen, aber im Vertrauen auf seinen gesunden Menschenverstand. Und wenn ihn das Schicksal gar in den regierenden Ausschuß der Republik versetzte, so verhandelte er mit dem fremden Gesandten genauso sicher wie sonst mit dem Kunden, der bei ihm ein paar Schuhe bestellte. Und wenn Athen wieder einmal Krieg hatte, ging er brav auf das Schiff, in das man ihn wies, und ruderte kräftig mit, bis der Feind geschlagen war. Sonst, wenn er freie Zeit hatte, ging er auf den Sport- und Spielplatz, wo er sich mit seinen Freunden traf. Und überhaupt versäumte er keine Gelegenheit, es sich wohl sein zu lassen. Wenn er dann gestorben war, setzte seine Familie, wenn sie es sich nur irgend leisten konnte, ihm einen Grabstein, auf dem der Steinmetz ein Reliefbild des Toten anbrachte. Solche Grabbilder sind uns von den Friedhöfen Athens in Menge erhalten; nicht jedes Stück ein Kunstwerk, aber dafür tüchtiges, kräftiges Handwerk wie alles, was damals in Athen gemacht wurde. Da stehen sie nun leibhaftig vor uns: die Athener aus der Zeit, da das Proletariat [42] regierte, Männer aller Klassen und Altersstufen, fest und stolz, klar und sicher, wie sie durchs Leben gegangen waren.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 9.

 

1. Welches war die wichtigste Reform des Jahres 461?

2. Wie sah der Rat der 500 unter der Herrschaft der Besitzlosen aus?

3. Welchen wirtschaftlichen Nutzen hatte das Proletariat Athens von der politischen Macht?

4. Wie stand es mit der Kulturpolitik Athens?

5. Welches ist der Unterschied zwischen dem Theater Athens und dem modernen?

6. Warum tat die Republik Athen nichts für die Schulen?

7. Spielte die Religion in Athen eine politische Rolle?