BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

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13.

Der bürgerliche Staatsstreich

von 411.

 

Ungefähr seit der Mitte der vierziger Jahre gab es in Athen keine organisierte bürgerliche Partei mehr. Nur in ihren geselligen Kreisen und Klubs trafen sich die Angehörigen der Bourgeoisie, schalten und spotteten über die herrschenden Proletarier und hofften auf bessere Zeiten. Die Gegensätze innerhalb der ärmeren Bevölkerung wurden von ihnen aufmerksam verfolgt, und an den Abenteurer Alkibiades drängten sich manche reaktionäre Elemente heran. Dennoch kam es vorläufig noch zu keiner Auferstehung der bürgerlichen Partei. Erst eine furchtbare Katastrophe, von der die proletarische Demokratie in ihrer auswärtigen Politik betroffen wurde, brachte den Stein ins Rollen.

Im Jahre 415 begannen die Athener wieder einmal einen Raubkrieg. Diesmal sollte die reiche Insel Sizilien dem athenischen Reich zugefügt werden. Eine nähere Schilderung dieses Krieges würde hier zu weit führen. Es genügt zu betonen, daß die Athener auf militärischem Gebiet verhängnisvolle Fehler machten. Auch Nikias hatte, dank seiner politischen Stellung, ein wichtiges Kommando auf Sizilien erhalten und erwies sich dort seiner Vergangenheit würdig. Das Ende war, daß im Jahre 412 die athenische Streitmacht auf Sizilien restlos vernichtet wurde; unter den Toten befand sich auch Nikias. Athen verlor durch dieses Unternehmen 100 seiner besten Kriegsschiffe. Die Seeleute, die auf den Schiffen gewesen waren, müssen meistens geworbene Fremde gewesen sein. Sonst läßt es sich gar nicht verstehen, wie Athen einen solchen Menschenverlust überhaupt hätte ertragen können. Aber auch die allermäßigste Schätzung [58] muß doch daran festhalten, daß mindestens 6000 athenische Bürger in Sizilien zugrunde gegangen sind; das heißt, ungefähr jeder vierte erwachsene Athener war tot. Im ganzen hatten Krieg und Pest in den letzten 20 Jahren ungefähr die Hälfte der athenischen Männerzahl dahingerafft. Durch die Pest von 430 fiel die Bürgerzahl etwa von 35000 auf 24000, durch das sizilische Unglück von 412 auf 18000. Nur ein Volk mit der unverwüstlichen geistigen Spannkraft der Athener konnte unter diesen Umständen überhaupt noch weiterkämpfen. Dabei stand den Athenern, und besonders den Proletariern, die schwerste Belastungsprobe überhaupt noch bevor.

Seit dem Jahre 412 war die Furcht vor der athenischen Flotte beseitigt, weil ja die besten Schiffe Athens auf dem Meeresgrunde lagen, und nun schlossen sich alle anderen Mächte der damaligen Kulturwelt zusammen, um den Staat Athen endgültig zu vernichten. Die Sizilianer vereinigten sich zu diesem Zweck mit den Staaten des eigentlichen Griechenland, die Peloponnesier voran; und dazu kam noch das persische Riesenreich, das mit allen seinen Hilfsmitteln in den Kampf eintrat. Die meisten Reichsangehörigen der Athener fielen nun auch ab. Wie sollte sich ein Verband von 18000 Männern allein gegen diese Welt von Feinden behaupten? Von neuem brachen die feindlichen Heere in das Gebiet Athens ein; die Landbevölkerung verlor Haus und Hof und flüchtete wieder in die Hauptstadt, und zugleich kamen Handel und Industrie zum Stillstand, da ja die übrige Welt sich gegen Athen verschloß. Es ist begreiflich, daß das Bürgertum diesen Zusammenbruch als Folge der bestehenden Verfassung hinstellte und daß in weiten Kreisen der Gedanke an eine Verfassungsänderung auftrat. Es bildete sich eine bürgerliche Geheimorganisation, die auf einen gewaltsamen Staatsstreich hinzielte.

Die Umstände waren den Verschwörern günstig, denn die athenische Flotte befand sich, ungefähr 100 Schiffe stark, fern von der Heimat, drüben an der Küste Kleinasiens, und alle irgendwie entbehrlichen, kräftigen Proletarier taten auf der Flotte Dienst. Daheim waren von der besitzlosen Bevölkerung fast nur die Frauen und Kinder, die kranken und alten Männer zurückgeblieben, wozu noch die Ratsmitglieder und Staatsbeamten traten. Dagegen waren die Männer der besitzenden Klasse größtenteils in der Stadt Athen, weil sie ja als Landsoldaten deren Festungswerke zu verteidigen hatten. Die reaktionäre [59] Partei begann ihre Tätigkeit mit politischen Morden: die beiden tüchtigsten und angesehensten Führer des Proletariats, Androkles und Hyperbolos, wurden hinterlistig ermordet. Sie fielen als Opfer des Klassenkampfes wie ein halbes Jahrhundert zuvor Ephialtes. Nach diesem Vorspiel schritt man zur entscheidenden Tat (411). Es wurde eine Volksversammlung in Athen abgehalten, die unter dem Druck der Verschwörer die gewünschten Beschlüsse faßte. Es wurden zunächst die Tagegelder für die Ratsmitglieder, Geschworenen und Staatsbeamten abgeschafft, womit schon an sich die Herrschaft der Besitzlosen beseitigt war. Aber man wollte noch sicherer gehen und beschloß, daß künftig nur die 5000 wohlhabendsten Bürger Stimmrecht in der Volksversammlung und Zutritt zu den Staatsstellungen haben sollten. Mit diesen 5000 Leuten wollte man die Besitzenden überhaupt erfassen, das heißt, nach der üblichen griechischen Denkweise, die Männer, die imstande waren, sich die Ausrüstung als Infanterist anzuschaffen. Unter normalen Umständen waren die Besitzenden in Athen etwa 3/7 der gesamten Bürgerzahl; also von 18000 Bürgern 7000 – 8000. Wenn diesmal nur mit 5000 Besitzenden gerechnet wurde, so erklärt sich dies aus der Verarmung von Tausenden von Familien durch die Kriegsnot. Soweit hatte die bürgerliche Partei alles erreicht, was sie wollte. Jetzt fehlte noch, daß sie sogleich die tatsächliche Regierungsgewalt in die Hand nahm. Auch dies geschah: eine Anzahl Bewaffneter sprengte den Rat der 500 auseinander, und sofort bildete sich ein neuer Rat von 400 Besitzenden, der die nötigen Regierungsbehörden aus sich heraus bestellte.

Mit kühnem Handstreich hatte das Bürgertum die proletarische Demokratie über den Haufen gerannt und die Macht in Athen an sich gerissen. Aber man hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und das war in diesem Fall die Flotte. Als die Nachricht von dem Staatsstreich in Samos eintraf, wo die athenische Flotte lag, weigerten sich die Matrosen durchweg, die neue bürgerliche Regierung anzuerkennen. Sie beschlossen, den Kampf für die Freiheit aufzunehmen, so verzweifelt die Umstände auch waren. In der Tat ist die Haltung der athenischen Proletarier und Seeleute im Jahre 411 der höchsten Bewunderung wert. Sie lagen im Krieg gegen eine Welt von Feinden, und zugleich ließ sie das eigene Vaterland im Stich, das in die Hand der reaktionären Regierung geraten war. Von allen verlassen, stand die athenische Flotte ganz allein, und dennoch [60] schwankten die Seeleute nicht. Sie waren entschlossen, eher unterzugehen als irgend etwas aufzugeben, weder die Großmachtstellung nach außen noch die Machtstellung der armen Bevölkerung im Innern. An die Spitze der revolutionären Regierung, die sich auf der Flotte bildete, trat Thrasybulos, ein kühner und geschickter Mann. Das Schicksal wollte es, daß er auch später noch ein zweites Mal die proletarische Demokratie Athens retten sollte.

Während auf Samos alles einmütig und entschlossen war – die Gegensätze, die bisher innerhalb des athenischen Proletariats geherrscht hatten, verschwanden angesichts der gemeinsamen Not –, hatte sich in Athen die siegreiche bürgerliche Partei ihrerseits gespalten. Innerhalb des Bürgertums traten zwei Richtungen hervor; die eine führte Theramenes, ein an sich ehrlicher und einsichtiger Politiker. Er dachte sich, daß die besitzlose Klasse nicht imstande sei, den Staat zu regieren, und daß die Macht dem Bürgertum gegeben werden müsse. Aber diese Umwälzung sollte sich ohne Gewalttätigkeit vollziehen, und die große Mehrheit der Besitzenden, nämlich der städtische und ländliche Mittelstand, sollte auch tatsächlich zur Regierung kommen. Ganz anders dachte die zweite Richtung; an ihrer Spitze standen Antiphon, einer der angesehensten Rechtsanwälte Athens und zugleich der scharfsinnigste und entschlossenste Feind des Proletariats, und ferner Peisandros, ein politischer Abenteurer, der erst der Kleonpartei, also der äußersten Linken, angehört hatte. Als aber der Wind umschlug, ging er zur äußersten Rechten über. Diese Partei war der Meinung und hatte damit auch gar nicht unrecht, daß das Proletariat seine Entrechtung nicht gutwillig hinnehmen werde. Deshalb könne man nicht mit Milde und Gesetzlichkeit auskommen, wie Theramenes es vorschlug, sondern nur mit einer straffen Diktatur. Ferner könne man zumindest für die Übergangszeit auch dem besitzenden Mittelstand nicht trauen; denn auch die kleinen Handwerker und die Bauern seien schon vielfach von dem Gift der proletarischen Demokratie erfüllt, und es sei sehr zweifelhaft, ob sie sich zu einer Gewaltpolitik gegen die Besitzlosen würden benutzen lassen. Darum dürfe man, so erklärten Peisandros und Antiphon, auch die neue Volksversammlung der 5000 nicht berufen, die man bei Beginn des Staatsstreichs in Aussicht genommen hatte, sondern die Regierung sollte vorläufig in der Hand des Rats der 400 bleiben, in dem die äußerste Rechte die Mehrheit hatte. Zur Richtung [61] Antiphons bekannten sich die reichen Kaufleute, Fabrikanten, Gutsbesitzer usw., ferner Fanatiker der Reaktion und allerhand politische Abenteurer. Hinter Theramenes aber stand die breite Schicht des Mittelstandes.

Es ist sehr bezeichnend, daß der scheinbare Sieg des Bürgertums im Jahre 411 tatsächlich die politische Entrechtung für den größten Teil dieses selben Bürgertums bedeutete. Auf die Diktatur von links, wie Perikles und Kleon sie geübt hatten, antwortete jetzt die Diktatur von rechts, und die Mittelpartei wurde erbarmungslos von den beiden Extremen zerrieben. Der Gedanke einer maßvollen Mittelstandspolitik, wie Theramenes ihn vertrat, erwies sich auf die Dauer als unausführbar. Zunächst hatte die Richtung Antiphons die Oberhand, weil sie den Rat der 400 beherrschte, und die Berufung der 5000 wurde hintertrieben. Aber der Mittelstand ließ sich die Zurücksetzung nicht gefallen. Theramenes wandte sich an die Soldaten, welche die Stadt verteidigten, denn sie rekrutierten sich meistens aus dem kleinen Bürgertum. Die Truppen kündigten der reaktionären Regierung den Gehorsam, und damit brach die Herrschaft des Antiphon glatt zusammen, nachdem sie erst ein paar Monate gedauert hatte (September 411). Theramenes beherrschte zunächst die Lage. Er ließ die Versammlung der Besitzenden zusammentreten und erteilte sogar, um sein System zu sichern, 9000 Athenern, also der Hälfte aller Bürger, das Stimmrecht. Ursprünglich hatte man ja nur 5000 Wähler in Aussicht genommen; aber inzwischen hatte Theramenes sich davon überzeugt, daß dies zu wenig sei, und er wollte jetzt nur noch die ganz arme Hälfte der Bevölkerung von der Ausübung der politischen Rechte ausschließen. Aber diese ganze Herrschaft des Mittelstandes war tatsächlich ein Kartenhaus. Denn von den 9000 des Theramenes bestand ein sehr erheblicher Teil aus direkten Anhängern der proletarischen Demokratie, und der Rest war meistens auch nicht geneigt, sich mit der Waffe in der Hand gegen die Erneuerung der Verfassung des Perikles und Kleon zur Wehr zu setzen.

Inzwischen hatte die Flotte das Richtige getan; sie beachtete zunächst die Vorgänge in der Heimat nicht, sondern setzte alle Kraft ein, um den äußeren Feind zu schlagen. Wenn das athenische Proletariat zeigte, daß es immer noch die alte Kraft hatte, wenn es die Seeherrschaft zurückeroberte, dann konnte man gewiß sein, daß auch zu Hause die Herrschaft der bürgerlichen Politiker [62] mit ihrem mehr oder minder unklaren Anhang zusammenfallen würde. Im Jahre 410 siegte tatsächlich die athenische Flotte über die Marine der Peloponnesier und Sizilianer, die von Persien finanziert worden war. Und wie der militärische Umschwung in Athen bekannt wurde, gab es kein Halten mehr: ohne Widerstand zu versuchen, trat die bürgerliche Regierung ab, und die reine proletarische Demokratie wurde wieder hergestellt.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 13.

 

1. Welches Ereignis bot den Anlaß zu der bürgerlichen Verschwörung in Athen?

2. Mit welchen äußeren Feinden hatte Athen im Jahre 412 zu tun?

3. Welche Ziele hate die bürgerliche Parei in Athen 411?

4. Welche Haltung nahm die Flotte gegeüber dem Staatsstreich ein?

5. Welche Gegensätze taten sich innerhalb des athenischen Bürgertums auf?

6. Was wollte die Mittelstandspartei und wer führte sie?

7. Was wollte die äußerste Rechte?

8. Wie wurde die Herrschaft des Proletariats in Athen wiederhergestellt?

9. Aus welchen Gründen ist der bürgerliche Staatsstreich gescheitert?