BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Schubartgymnasium Aalen

gegründet 1912

 

Abiturjahrgang 1957

 

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Ulrich Harsch

Lebt in Augsburg

Abiturjahrgang 1957

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Süße Nudeln, auch Ludus latinus

Erinnerungen an eine Oberschulzeit

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S.O.S. konnte ich im Herbst 1948 zum erstenmal voller Stolz auf meine neuen Schulhefte schreiben (du gehaßte Schiefertafel der Volksschulzeit, ade!). Diese Abkürzung war mir bis dahin nur aus Seefahrergeschichten geläufig. Von nun an hieß das nicht mehr einfach „save our souls“, sondern Schubartoberschule. Ein herrliches Wort, das man richtig auf der Zunge zergehen lassen konnte. Mit der späteren Umtaufe „Schubart-Gymnasium“ konnte ich mich nie mehr anfreunden. Ja, die Namen. In Aalener Schulkreisen war damals nie die Rede von Sextanern, Sekundanern oder Oberprimanern. Die letzteren hießen z. B. schlicht „Naintkläßleroberschul“.

Es war auch die Zeit der Schulspeisung: Die Frauen mit den großen Schöpfern und den riesigen Aluminiumtöpfen. Man stand in langer Schlange mit dem grünen „Märkle“ in der Hand und wartete, bis man seinen Schöpfer in das mitgebrachte „Häfele“ bekam. Es gab da Köstlichkeiten: eine Art Minestrone oder Reisbrei mit Aprikosen. Das einzige, was selbst damals nicht so leicht über schwäbische Lippen ging: Süße(!) Nudeln mit aufgeweichten Dörrpflaumen. Seinen Löffel zum Essen hatte man im Schulranzen, zusammen mit dem Griffelkasten, einem bei Streitigkeiten beliebten Holzschlaginstrument. Darin lagen jetzt keine Griffel mehr, sondern Federhalter und Federn. Die Tinte gab's gratis. An jedem Pult waren Tintenfässer eingebaut und mit einem laut tönenden Schieber verschlossen. Der Hausmeister Unfried füllte die Gläser pünktlich aus seiner großen Tintenflasche nach, oft erbost über die Unsitte der Schüler, mit Hilfe von Fließpapier in den Tintenfässern Sümpfe anzulegen, die nur mühsam trockenzulegen waren. Später, als die Tintenfässer ausgedient hatten, gähnte hier ein Loch in den Pulten, durch das man jedoch in idealer Weise z. B. englische Vokabeln bei der Klassenarbeit „abspicken“ konnte: „What is this? Is this an inkpot? No, this is not an ink-pot! This is a pen-case!“ (aus dem Englischbuch „Learning English“).

Es muß 1952 gewesen sein, in dem Schuljahr, das nur ein halbes war, „zur Vereinheitlichung des Schulbeginns bundesweit“, wie es hieß, da gab uns „Lupus“ Dr. Wolf – seiner Zeit weit voraus – Aufklärungs­unterricht. Mit hochroten Köpfen und klopfenden Herzen saßen wir da. Gebannt hörten wir Dinge, über die zu sprechen verboten war, die aber die jugendliche Phantasie in tausend Ängsten hielten. Obwohl wir wie erstarrt waren, war es wie eine Erlösung von schrecklicher Last. Da gab es einen Erwachsenen, der darüber ganz ruhig mit einem reden konnte. Unvergeßlich! Ich meine, mich zu erinnern, daß „Lupus“ sich damit große Schwierigkeiten einhandelte. Es war wohl im gleichen Jahr. Rudi hieß, glaube ich, der Klassenkamerad. Er kam häufig mit seinem blauen FDJ-Hemd in die Schule. Man wußte: die Eltern waren Kommunisten, und die FDJ, die Freie Deutsche Jugend, das war die Jugendorganisation der KPD. Er war sehr gut in der Schule, aber ein Stiller und saß immer allein in seiner Bank. Eines Tages kam er dann plötzlich nicht mehr. Später hörte man, daß nach dem Verbot der FDJ im Jahre 1951 die Familie in die DDR gegangen sei.

Zeichnen war mein Lieblingsfach – bei A. O. F. Mayer, einem richtigen Künstler, wie man ehrfurchtsvoll sagte. Im Flur vor dem Zeichensaal hatte er eine Glasvitrine aufgestellt, das – wie er es nannte – „Kitschkäschtle“. Wenn ich mich recht erinnere, war es ein wunder­schönes Jugendstilmöbel. Darin hatte er eine Sammlung von allen möglichen ‚kitschigen‘ Gegenständen zusammengetragen. Ab und zu stellten wir uns davor, und er prangerte mit wehender Mähne diese scheußlichen Objekte aus der Zeit des Historismus und vor allem des Jugendstils an, all dies schwülstige, unehrliche „Geschlinge“ und „Gewurschtel“, das außerdem für den Gebrauch, für die Funktion einer Teekanne oder eines Leuchters ohne jeden Nutzen sei. Vehement konnte er so gegen den „Kitsch“ zu Felde ziehen, und ich war begeistert: ein solcher Jugendstilleuchter käme mir nie und nimmer auf den Tisch! (Heute steht einer da – lieber Pinsel-Mayer, erbarme dich meiner Sünden!) Ich weiß nicht, was aus dem „Kitschkäschtle“ geworden ist – es wäre heute sicher ein Vermögen wert. Es war der Zeitgeist damals, Funktionalismus im Geiste von Bauhaus und Adolf Loos. Noch beim Studium später in Berlin war's eine Freude für mich, wenn wieder einer der „kitschigen“ Historismusbauten des 19. Jahrhunderts durch einen schlichten, ehrlichen Quaderbau aus Beton ersetzt wurde. Hatten wir nicht bei den Klassikern gelesen: stille Einfalt, edle Größe... Heute ist die Geschichte vom „Kitschkäschtle“ immer das Paradebeispiel, wenn ich meinen Studenten im Fach Designtheorie den ständigen Wechsel der Stile und Moden zu verdeutlichen suche. Dabei hatte uns schon in der Schule unser geliebter „Jambus“ Heintzeler eine Erklärung dieses Phänomens beim emphatischen Vortrag lateinischer Lebensweisheit angeboten: „Tempora mutantur et nos mutamur in illis“. Doch im Dickicht grammatischer Exempelsätze aus dem „Ludus latinus“ ist dieser tröstliche Hexameter – wie so mancher andere – seinerzeit untergegangen. Die Scholaren damals, sie konnten ihn ja auch noch nicht verstehen.

Doch das Schöne ist: Untergegangenes ist nicht verloren. Es kann wieder gehoben werden. Manchmal sind es sogar Schätze. Aber das habe ich nicht in der Schule gelernt, sondern aus Seefahrer­geschichten, S.O.S.!

 

[aus: 75 Jahre Abitur am Schubart-Gymnasium Aalen

Hrsg.: Dr. Hans Biedert u. a., Aalen: Schubart-Gymnasium, 1989, S. 52/53.]