BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Georg Simmel

1858 – 1918

 

Grundfragen der Soziologie

(Individuum und Gesellschaft)

 

1917

 

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III.

Die Geselligkeit

(Beispiel der Reinen oder Formalen Soziologie)

 

Das Grundmotiv, das, nach der Bezeichnung im einleitenden Kapitel, eine „reine Soziologie“ als besonderen Problemkreis konstituierte, muß jetzt im Übergang zu einer exemplifizierenden Anwendung noch einmal formuliert werden. Denn jenes Motiv bestimmt nicht nur als das allgemeine, mit vielen anderen geteilte Forschungsprinzip dieses Beispiel, sondern es gibt selbst unmittelbar den Stoff für den jetzt zu schildernden Anwendungsfall her.

Jenes entscheidende Motiv ist von zwei Begriffen her festgelegt: daß man von jeder menschlichen Gesellschaft zwischen ihrem Inhalt und ihrer Form unterscheiden kann, und daß sie selbst ganz allgemein die Wechselwirkung unter Individuen bedeutet. Diese Wechselwirkung entsteht immer aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke willen. Erotische Instinkte, sachliche Interessiertheiten, religiöse Impulse, Zwecke der Verteidigung wie des Angriffs, des Spieles wie des Erwerbes, der Hilfeleistung wie der Belehrung und unzählige andere bewirken es, daß der Mensch in ein Zusammensein, ein Füreinander-, Miteinander-, Gegeneinanderhandeln, in eine Korrelation der Zustände mit anderen tritt, d. h. Wirkungen auf sie ausübt und Wirkungen von ihnen empfängt. Diese Wechselwirkungen bedeuten, daß aus den individuellen Trägern jener veranlassenden Triebe und Zwecke eine Einheit, eben eine „Gesellschaft“, wird. Ich bezeichne nun alles das, was in den Individuen, den unmittelbar konkreten Orten aller historischen Wirklichkeit, als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, daß daraus oder daran die Wirkung auf andere und das Empfangen ihrer Wirkungen entsteht – dieses bezeichne ich als den Inhalt, gleichsam die Materie der Vergesellschaftung. An und für sich sind diese Stoffe, mit denen das Leben sich füllt, diese Motivierungen, die es treiben, noch nicht sozialen Wesens. Weder Hunger noch Liebe, weder Arbeit noch Religiosität, weder die Technik noch die Funktionen und Resultate der Intelligenz bedeuten ihrem unmittelbaren Sinne nach schon Vergesellschaftung; vielmehr, sie bilden diese erst, indem sie das isolierte Nebeneinander der Individuen zu bestimmten Formen des Miteinander und Füreinander gestalten, die unter den allgemeinen Begriff der Wechselwirkung gehören. Die Vergesellschaftung ist also die in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form, in der die Individuen auf Grund jener – sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden – Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb deren diese Interessen sich verwirklichen.

Auf diesen Sachverhalt nun wendet sich eine geistige Funktionsweise von höchst weitgreifender Bedeutung an. Wenn praktische Verhältnisse und Notwendigkeiten die Menschen dahin führen, das der Welt abzugewinnende Material des Lebens durch die Kräfte der Intelligenz, des Willens, des Gestaltungstriebes, der Gefühlsbewegungen zu bearbeiten, seinen Elementen um der Zwecke des Lebens willen bestimmte Formen zu geben, und wir es in diesen nun erst als Lebenselement betätigen und benutzen –, so entheben sich jene Kräfte und Interessen dann in eigentümlicher Weise dem Dienste des Lebens, der sie ursprünglich emporgezogen und verpflichtet hatte. Es findet eine Verselbständigung gewisser Energien derart statt, daß sie sich nicht mehr an den Gegenstand heften, den sie formten und damit den Zwecken des Lebens gefügig machten, sondern sie spielen nun gewissermaßen frei in sich selbst, um ihrer selbst willen, und schaffen oder ergreifen eine Materie, die ihnen jetzt eben nur zu ihrer eigenen Betätigung, Verwirklichung dient. So scheint alles Erkennen ursprünglich ein Mittel im Kampf ums Dasein zu sein; das wahre Verhalten der Dinge zu wissen, ist für die Erhaltung und Förderung des Lebens von unübersehlichem Nutzen. Wissenschaft aber bedeutet, daß sich das Erkennen nicht mehr zu dieser praktischen Leistung hergibt, sondern ein Eigenwert geworden ist, sich von sich aus seine Gegenstände wählt, sie nach seinen inneren Bedürfnissen gestaltet und über seine Selbstvollendung nicht hinausfragt. Weiter: Die Formung anschaulicher und unanschaulicher Realitäten nach räumlichen Geschlossenheiten, nach Rhythmus und Klang, nach Bedeutung und Organisation ist sicher zunächst den Forderungen unserer Praxis entsprungen. Sobald diese Formen aber Selbstzwecke werden, aus eigener Kraft und eigenem Recht heraus wirksam, von sich aus und nicht um der Verflechtung in das Leben willen auswählend und schöpferisch – steht die Kunst da, ganz vom Leben getrennt und ihm nur entnehmend, was ihr dient und durch sie gleichsam zum zweiten Male erzeugt wird, obgleich die Formen, in denen sie dies tut und in denen sie sozusagen besteht, sich an den Forderungen und der Dynamik des Lebens erzeugt haben. Dieselbe Drehung bestimmt das Recht in seinem Wesen. Aus den Erfordernissen für die Existenz der Gesellschaft heraus werden gewisse Verhaltungsweisen der Individuen erzwungen oder legitimiert – sie sind gültig und geschehen in diesem Stadium ausschließlich um solcher Zweckmäßigkeit willen. Das ist aber nicht mehr der Sinn ihrer Verwirklichung, sobald das „Recht“ dasteht; denn nun sollen sie nur geschehen, weil sie eben „Recht“ sind, gleichgültig gegen das sie ursprünglich zeugende und beherrschende Leben, bis zum „fiat justitia, pereat mundus“. Obgleich also das dem Recht gemäße Verhalten in dem sozialen Lebenszweck wurzelt, so hat doch das Recht in seiner Reinheit keinen „Zweck“, weil es nun nicht mehr Mittel ist, sondern, von sich aus und nicht erst auf Legitimation durch eine höhere Instanz hin, bestimmt, wie der Lebensstoff geformt werden soll. Und nun vollzieht sich vielleicht in der weitest greifenden Weise diese Achsendrehung – von der Bestimmtheit der Lebensformen durch seine Materie zu der Bestimmung seiner Materie durch die zu definitiven Werten erhobenen Formen – in alledem, was wir Spiel nennen. Die realen Kräfte, Nöte und Impulse des Lebens erzeugen die für dieses zweckmäßigen Formen unseres Verhaltens, die dann im Spiel oder vielmehr als Spiel zu selbständigen Inhalten und Reizen werden: das Jagen und Erlisten, die Bewährung der physischen und der geistigen Kräfte, den Wettbewerb und das Gestelltsein auf die Chance und die Gunst unbeeinflußbarer Mächte. Alles dieses ist jetzt dem Flusse des bloßen Lebens enthoben, von dessen Materie, an der sein Ernst haftet, entlastet und wählt oder schafft nun als das von sich aus Entscheidende die Gegenstände, an denen es sich bewähre und rein darstelle; damit gewinnt das Spiel seine Heiterkeit, aber auch jene symbolische Bedeutung, die es von allem bloßen Spaß unterscheidet. Hier liegt, was an der Analogie zwischen Kunst und Spiel gerechtfertigt ist. Mit beiden haben die Formen, die die Realität des Lebens entwickelte, dieser gegenüber autonome Reiche gegründet; es gibt ihnen ihre Tiefe und ihre Kraft, daß sie von ihrem Ursprung her immer noch mit Leben geladen sind, und wo sie dessen entleert sind, werden sie zu Künstelei und Spielerei – allein ihr Sinn und Wesen liegt eben in jener kompromißlosen Wendung, mit der die von der Lebenszweckmäßigkeit und der Lebensmaterie erzeugten Formen sich vor diesen lösen und selbst zu Zweck und Materie ihrer selbständigen Bewegtheit werden, von jenen Realitäten gerade nur aufnehmend, was sich der neuen Gerichtetheit fügen und in den Eigenleben jener Formen aufgehen kann. Dieser Prozeß vollzieht sich nun auch in der Trennung dessen, was ich an der gesellschaftlichen Existenz Inhalt und Form nannte. Die eigentliche „Gesellschaft“ an ihr ist jenes Miteinander, Füreinander, Gegeneinander, womit materielle oder individuelle Inhalte und Interessen durch Trieb oder Zweck eine Formung oder Förderung erfahren. Und diese Formen nun gewinnen Eigenleben, eine von allen Wurzeln an Inhalten befreite Ausübung rein um ihrer selbst und des in dieser Gelöstheit von ihnen ausstrahlenden Reizes willen; dies eben ist die Erscheinung Geselligkeit. Sicherlich ist es der Erfolg spezieller Notwendigkeiten und Interessen, wenn die Menschen sich in Wirtschaftsvereinigungen oder Blutsbrüderschaften, in Kultgenossenschaften oder Räuberbanden zusammentun. Allein jenseits dieser besonderen Inhalte werden alle diese Vergesellschaftungen von einem Gefühl dafür, von einer Befriedigung daran begleitet, daß man eben vergesellschaftet ist, für den Wert der Gesellschaftsbildung als solcher, ein Trieb, der auf diese Form der Existenz drängt und manchmal erst seinerseits jene realen Inhalte herbeiruft, die die einzelne Vergesellschaftung tragen. Und wie nun das, was man den Kunsttrieb nennen mag, aus den Ganzheiten der erscheinenden Dinge ihre Form gleichsam herauszieht und zu einem besonderen, eben diesem Trieb korrespondierenden Gebilde gestaltet, so löst der „Geselligkeitstrieb“ in seiner reinen Wirksamkeit aus den Realitäten des sozialen Lebens den bloßen Vergesellschaftungsprozeß als einen Wert und ein Glück heraus und konstituiert damit, was wir Geselligkeit im engeren Sinne nennen. Es ist kein bloßer Zufall des Sprachgebrauchs, daß alle Geselligkeit, auch die ganz naturalistische, wenn sie irgendwelchen Sinn und Bestand haben soll, einen so großen Wert auf die Form legt, auf die gute Form. Denn Form ist gegenseitiges Sich-Bestimmen, Wechselwirken der Elemente, wodurch sie eben eine Einheit bilden; und da nun für die Geselligkeit die konkreten, an die Zwecksetzungen des Lebens angeknüpiten Motivierungen der Vereinheitlichung in Wegfall kommen, so muß die reine Form, der sozusagen freischwebende, wechselwirkende Zusammenhang der Individuen um so stärker und mit um so größerer Wirksamkeit akzentuiert werden.

Ihre bloß formale Beziehung zur Realität erspart der Geselligkeit die Reibungswiderstände dieser; aber immerhin gewinnt sie aus ihr, je vollkommener sie gerade als Geselligkeit ist, auch für den tieferen Menschen eine symbolisch spielende Fülle des Lebens und eine Bedeutsamkeit, die ein oberflächlicher Rationalismus immer nur in den konkreten Inhalten sucht; so daß er, da er diese hier nicht findet, die Geselligkeit nur als eine hohle Läppischkeit abzutun weiß. Es ist doch nicht bedeutungslos, daß in vielen, vielleicht in allen europäischen Sprachen Gesellschaft schlechthin eben das gesellige Zusammensein bezeichnet. Die staatliche, die wirtschaftende, die durch irgendeinen Zweckgedanken zusammengehaltene Gesellschaft ist doch durchaus „Gesellschaft“. Aber nur die gesellige ist eben „eine Gesellschaft“ ohne weiteren Zusatz, weil sie die reine, prinzipiell über jeden spezifischen Inhalt erhobene Form all jener einseitig charakterisierten „Gesellschaften“ in einem gleichsam abstrakten, alle Inhalte in das bloße Spiel der Form auflösenden Bilde darstellt.

Von den soziologischen Kategorien her betrachtend, bezeichne ich also die Geselligkeit als die Spielform der Vergesellschaftung und als – mutatis mutandis – zu deren inhaltsbestimmter Konkretheit sich verhaltend wie das Kunstwerk zur Realität. Es kommt zunächst das große, wenn man will: das größte Problem der Gesellschaft innerhalb der Geselligkeit zu einer nur innerhalb ihrer möglichen Lösung: welches Maß von Bedeutung und Akzent dem Individuum als solchem in und gegenüber dem sozialen Umkreis zukomme? Indem die Geselligkeit in ihren reinen Gestaltungen keinen sachlichen Zweck hat, keinen Inhalt und kein Resultat, das sozusagen außerhalb des geselligen Augenblicks als solchen läge, ist sie gänzlich auf die Persönlichkeiten gestellt, nichts als die Befriedigtheit dieses Momentes – allenfalls noch mit einem Nachklang von ihr – soll erreicht werden, und so bleibt der Vorgang in seinen Bedingungen, wie in seinem Ertrage ausschließlich auf seine personalen Träger beschränkt; die persönlichen Eigenschaften der Liebenswürdigkeit, Bildung, Herzlichkeit, Anziehungskräfte jeder Art entscheiden über den Charakter des rein geselligen Beisammenseins. Aber gerade darum, weil hier alles auf die Persönlichkeiten gestellt ist, dürfen die Persönlichkeiten sich nicht gar zu individuell betonen. Wo reale Interessen, kooperierend oder kollidierend, die Sozialform bestimmen, sorgen sie schon, daß das Individuum seine Besonderheiten und Einzigkeiten nicht allzu unbeschränkt und eigengesetzlich präsentiere; wo aber diese Bedingtheit fortfällt, muß eine andere, nur aus der Form des Beisammenseins entspringende Herabsetzung der persönlichen Zugespitztheit und Selbstherrlichkeit stattfinden, damit ein Beisammensein überhaupt möglich sei. Darum ist in der Gesellschaft das Taktgefühl von so besonderer Bedeutung, weil dies die Selbstregulierung des Individuums in seinem persönlichen Verhältnis zu andern leitet, wo keine äußeren oder unmittelbar egoistischen Interessen die Regulative übernehmen. Und vielleicht ist es die spezifischste Leistung des Taktes, den individuellen Impulsivitäten, Betonungen des Ich, geistigen und äußeren Ansprüchen die Grenze zu ziehen, die das Recht des Andern fordert.

Eine sehr merkwürdige soziologische Struktur kommt hier auf. In die Geselligkeit hat nicht einzutreten, was die Persönlichkeit etwa an objektiven Bedeutungen besitzt, an solchen, die ihr Zentrum außerhalb des aktuellen Kreises haben; Reichtum und gesellschaftliche Stellung, Gelehrsamkeit und Berühmtheit, exzeptionelle Fähigkeiten und Verdienste des Individuums haben in der Geselligkeit keine Rolle zu spielen, höchstens als eine leichte Nuance von jener Immaterialität, mit der allein die Realität überhaupt in das soziale Kunstgebilde der Geselligkeit hineinragen darf. Ebenso aber wie dies Objektive, das um die Persönlichkeit herum ist, muß nun auch gerade das rein und zutiefst Persönliche aus ihrer Funktion als Element der Geselligkeit ausscheiden: das Allerpersönlichste des Lebens, des Charakters, der Stimmung, des Schicksals hat gleichfalls im Rahmen der Geselligkeit keinen Platz. Es ist taktlos – weil dem hier ausschließlich dominierenden Wechselwirkungsmoment widerstreitend – bloß persönliche Stimmung und Verstimmung, Aufgeregtheiten und Depressionen, Licht und Dunkelheit des tiefsten Lebens in die Geselligkeit mitzubringen. Bis in das Äußerlichste hinein reicht dieser Ausschluß des Persönlichen: eine Dame würde in einem wirklich persönlichen, intim freundschaftlichen Beisammensein mit einem oder wenigen Männern nicht so dekolletiert erscheinen mögen, wie sie es ganz unbefangen in einer großen Gesellschaft tut. Sie fühlt sich in dieser eben nicht in dem Maße wie dort als Individuum engagiert und kann sich deshalb wie unter der unpersönlichen Freiheit der Maske preisgeben, da sie ja zwar nur sie selbst, aber doch nicht ganz sie selbst ist, sondern nur ein Element in einer formal zusammengehaltenen Vereinigung.

Der Mensch als ganzer ist sozusagen ein noch ungeformter Komplex von Inhalten, Kräften, Möglichkeiten, und je nach den Motivierungen und Beziehungen des wechselnden Daseins gestaltet er sich daraus zu einem differenzierten, grenzbestimmten Gebilde. Als wirtschaftender und als politischer Mensch, als Familienmitglied und als Repräsentant eines Berufes ist er sozusagen je ein ad hoc konstruiertes Elaborat, sein Lebensmaterial ist jedesmal von einer besonderen Idee bestimmt, in eine besondere Form gegossen, deren relativ selbständiges Leben freilich von der gemeinsamen, unmittelbar aber nicht zu bezeichnenden Kraftquelle des Ich gespeist wird. In diesem Sinne nun ist auch der Mensch als geselliger ein eigentümliches, in keiner andern Beziehung so vorkommendes Gebilde. Er hat einerseits alle Sachbedeutungen der Persönlichkeit abgetan und tritt nur mit den Fähigkeiten, Reizen, Interessen seiner reinen Menschlichkeit in die Geselligkeitsform ein. Andrerseits aber macht dies Gebilde vor dem ganz und gar Subjektiven und rein Innerlichen der Persönlichkeit Halt. Die Diskretion, die dem andern gegenüber eine erste Bedingung der Geselligkeit ist, ist ebenso dem eigenen Ich gegenüber erforderlich, weil ihre Verletzung in beiden Fällen die soziologische Kunstform der Geselligkeit in einen soziologischen Naturalismus ausarten läßt. Man kann also von einer oberen und unteren „Geselligkeitsschwelle“ für die Individuen sprechen. Sowohl in dem Augenblick, in dem diese ihr Zusammensein auf einen objektiven Inhalt und Zweck stellen, wie in dem andern, wo das absolut Personale und Subjektive des Einzelnen rückhaltslos in die Erscheinung tritt, ist die Geselligkeit nicht mehr das zentrale und formende, sondern höchstens noch das formalistische und äußerlich vermittelnde Prinzip.

Zu dieser negativen Bestimmung des Geselligkeitswesens durch Grenzen und Schwellen aber kann man vielleicht das positive Formmotiv finden. Kant hat es als das Prinzip des Rechts aufgestellt, daß ein jeder dasjenige Maß von Freiheit haben solle, das mit der Freiheit jedes andern zusammen bestehen kann. Bleibt man einmal bei dem Geselligkeitstriebe als dem Quell oder auch der Substanz der Geselligkeit stehen, so ist nun das Prinzip, nach dem sie konstituiert ist: jeder solle so viel Befriedigung dieses Triebes haben, wie es mit der Befriedigung eben dieses für alle andern vereinbar ist. Drückt man dies, statt von dem Triebe, vielmehr von dem Erfolge her aus, so formuliert sich das Prinzip der Geselligkeit so: jeder soll dem andern dasjenige Maximum an geselligen Werten (von Freude, Entlastung, Lebendigkeit) gewähren, das mit dem Maximum der von ihm selbst empfangenen Werte vereinbar ist. Wie nun das Recht auf jener Kantischen Basis ein durchaus demokratisches ist, so zeigt dies Prinzip die demokratische Struktur aller Geselligkeit, die freilich jede Gesellschaftsschicht nur in sich selbst realisieren kann, und die eine Geselligkeit unter Angehörigen ganz verschiedener sozialer Klassen so oft zu etwas Widerspruchsvollem und Peinlichem macht. Solche Gleichheit entsteht hier durch den Wegfall einerseits des ganz Persönlichen, andrerseits des ganz Sachlichen, also dessen, was die Vergesellschaftung als ihr Material vorfindet und wovon sie in ihrer Gestaltung als Geselligkeit entkleidet ist. Aber auch innerhalb der gesellschaftlich Gleichstehenden ist die Demokratie ihrer Geselligkeit eine gespielte. Die Geselligkeit schafft, wenn man will, eine ideale soziologische Welt: denn in ihr ist – das sprechen jene Prinzipien aus – die Freude des Einzelnen durchaus daran gebunden, daß auch die andern froh sind, hier kann prinzipiell niemand auf Kosten ganz entgegengesetzter Empfindungen des Andern seine Befriedigung finden – wie viele andere Lebensgestaltungen es zwar durch über sie gestellte ethische Imperative, aber nicht durch ihr unmittelbar eigenes und inneres Prinzip ausschließen. Aber diese Welt der Geselligkeit, die einzige, in der eine Demokratie der Gleichberechtigten ohne Reibungen möglich ist, ist eine künstliche Welt, aufgebaut aus Wesen, die ausschließlich jene ganz reine, durch keinen gleichsam materialen Akzent debalancierte Wechselwirkung untereinander herzustellen wünschen. Wenn wir jetzt die Vorstellung haben, in die Geselligkeit kämen wir rein „als Menschen“, als das, was wir wirklich sind, unter Abwerfung all der Belastungen, der Hin- und Hergerissenheiten, des Zuviel und Zuwenig, womit das reale Leben die Reinheit unseres Bildes entstellt, so liegt das daran, daß das moderne Leben mit objektivem Inhalt und Sachforderungen überlastet ist. Diese im geselligen Kreise von uns abtuend, glauben wir zu unserem natürlich-persönlichen Sein zurückzukehren und übersehen dabei, daß auch dies Persönliche nicht in seiner ganzen Besonderheit und naturalistischen Vollständigkeit, sondern nur in einer gewissen Reserve und Stilisierung den geselligen Menschen ausmacht. In früheren Zeiten, als dieser Mensch noch nicht so vielem Sachlichen, objektiv Inhaltlichen abgewonnen werden mußte, machte sich sein Formgesetz mehr und deutlicher seinem persönlichen Sein gegenüber geltend: daher war das persönliche Benehmen in der Geselligkeit früherer Zeiten viel zeremonieller, steifer und strenger überindividuell reguliert als heute. Diese Reduktion der personalen Peripherie auf das Bedeutungsmaß, das die homogene Wechselwirkung mit andern dem Einzelnen einräumt, schwingt bis in das entgegengesetzte Extrem: ein spezifisches Verhalten in der Gesellschaft ist die Courtoisie, mit der der Starke, Hervorragende, nicht nur den Schwächeren sich gleichstellt, sondern sogar die Attitüde annimmt, als sei jener der Wertvollere und Überlegene. Wenn Vergesellschaftung überhaupt Wechselwirkung ist, so ist es deren reinster und sozusagen stilisiertester Fall, wenn sie unter Gleichen vor sich geht, wie Symmetrie und Gleichgewicht die einleuchtendsten künstlerischen Stilisierungsformen anschaulicher Elemente sind. Indem Geselligkeit also die mit dem Charakter der Kunst oder des Spieles vollzogene Abstraktion der Vergesellschaftung ist, fordert sie die reinste, durchsichtigste, am leichtesten ansprechende Art der Wechselwirkung, die unter Gleichen; sie muß sich, um ihrer fundamentalen Idee willen, Wesen fingieren, die von ihrem objektiven Inhalt so viel abgeben, die nach ihrer äußeren wie inneren Bedeutung so modifiziert werden, daß sie als gesellige gleich sind und ein jedes die Geselligkeitswerte für sich nur unter der Bedingung gewinnen kann, daß die andern, mit ihm wechselwirkenden, sie ebenso gewinnen. Sie ist das Spiel, in dem man „so tut“, als ob alle gleich wären, und zugleich, als ob man jeden besonders ehrte. Dies ist so wenig Lüge, wie das Spiel oder die Kunst mit all ihrer Abweichung von der Realität Lügen sind. Dazu wird es erst in dem Augenblick, in dem das Tun und die Rede der Geselligkeit in die Absichten und Geschehnisse der praktischen Realität eintritt – wie das Gemälde zur Lüge wird, wenn es panoramahaft die Realität vortäuschen will. Was innerhalb des eigengesetzlichen, nur in dem immanenten Spiel seiner Formen betätigten Lebens der Geselligkeit durchaus richtig und in der Ordnung ist, wird zur Lüge, wenn diese Erscheinung ein bloßer Schein ist, der in Wirklichkeit von Zwecken ganz anderer als geselliger Art gelenkt wird oder diese unsichtbar machen soll – wozu freilich die tatsächliche Verflechtung der Geselligkeit in die Reihen des realen Lebens leicht verführen mag.

Dieser Zusammenhang legt nahe, daß in der Geselligkeit alles das unterkommen wird, was man schon von sich aus als soziologische Spielform bezeichnen kann: vor allem das eigentliche Spiel selbst, das in der Geselligkeit aller Epochen einen breiten Raum einnimmt. Der Ausdruck des „Gesellschaftsspieles“ ist in dem tieferen Sinne bedeutsam, auf den ich vorher hinwies. Die ganzen Wechselwirkungs- oder Vergesellschaftungsformen zwischen den Menschen: das Übertreffenwollen und der Tausch, die Parteibildung und das Abgewinnenwollen, die Chancen der zufälligen Begegnung und Trennung, der Wechsel zwischen Gegnerschaft und Kooperation, das Überlisten und die Revanche – alles dieses, im Ernste der Wirklichkeit von Zweckinhalten erfüllt, führt im Spiel ein vom Reize dieser Funktionen selbst und allein getragenes Leben. Denn selbst wo das Spiel sich um einen Geldpreis dreht, ist nicht dieser, der doch auch auf viele andere Weisen zu erwerben wäre, das Spezifische des Spieles sondern dessen Attraktionen liegen für den richtigen Spieler in der Dynamik und dem Hazard jener soziologisch bedeutsamen Betätigungsformen selbst. Das Gesellschaftsspiel hat den tieferen Doppelsinn, daß es nicht nur in einer Gesellschaft als seinem äußeren Träger gespielt wird, sondern daß mit ihm tatsächlich „Gesellschaft“ „gespielt“ wird. Weiterhin hat, in der Soziologie der Geschlechter, die Erotik ihre Spielform ausgebildet: die Koketterie, die innerhalb der Geselligkeit ihre leichteste, spielendste, aber auch weiteste Realisierung findet 1). Dreht sich die erotische Frage zwischen den Geschlechtern um Gewähren und Versagen (deren Gegenstände natürlich unendlich mannigfaltig und abgestuft und keineswegs nur radikaler oder gar nur physiologischer Natur sind), so ist es das Wesen der weiblichen Koketterie, ein andeutendes Gewähren und ein andeutendes Versagen wechselnd gegeneinander zu spannen, den Mann anzuziehen, ohne es zu einer Entscheidung kommen zu lassen, ihn zurückzuweisen, ohne ihm alle Hoffnung zu nehmen. Die Kokette steigert ihren Reiz auf das Höchste, indem sie dem Manne die Gewährung sozusagen ganz nahe rückt, ohne daß es ihr schließlich damit Ernst wäre; ihr Verhalten pendelt zwischen dem Ja und dem Nein, ohne auf einem Halt zu machen. Sie zeichnet damit gleichsam spielend die bloße und reine Form der erotischen Entscheidungen und kannl deren polare Entgegengesetztheiten in einem ganz einheitlichen Benehmen zusammenbringen, da der entschiedene und entscheidende Inhalt, der sie auf einem von beiden festlegte, prinzipiell in die Koketterie nicht eintritt. Und diese Entlastung von aller Schwere fester Inhalte und bleibender Realitäten gibt der Koketterie jenen Charakter des Schwebenden, der Distanz, des Ideellen, dessentwegen man mit einem gewissen Recht von der „Kunst“ – nicht nur von den „Künsten“ – der Koketterie spricht. Damit sie sich aber auf dem Boden der Geselligkeit als ein so heimisches Gewächs ausbreiten könne, wie die Erfahrung es zeigt, muß ihr von seiten des Mannes ein ganz besonderes Verhalten begegnen. Solange der Mann sich dem Reize der Koketterie versagt, oder solange er umgekehrt ihr bloßes Opfer ist, das von ihren Schwingungen zwischen dem halben Ja und dem halben Nein willenlos mitgeschleift wird, – so lange hat die Koketterie noch nicht die der Geselligkeit eigentlich adäquate Gestalt. Es fehlt ihr jene freie Wechselwirkung und Äquivalenz der Elemente, die das Grundgesetz der Geselligkeit ist. Diese tritt erst dann ein, wenn der Mann nach nicht mehr als nach diesem frei schwebenden Spiele verlangt, in dem nur wie ein fernes Symbol irgendwelches erotische Definitivum anklingt, und wenn er nicht erst aus dem Begehren oder aus der Befürchtung eines solchen den Reiz jener Andeutungen und Präliminarien zieht. Die Koketterie, wie sie gerade auf den Höhen der geselligen Kultur ihre Anmut entfaltet, hat die Wirklichkeit des erotischen Begehrens, Gewährens oder Versagens hinter sich gelassen und ergeht sich in dem Wechselspiele der Silhouetten dieser Ernsthaftigkeiten. Wo diese letzteren eintreten oder dahinter stehen, wird das ganze Geschehen sozusagen zu einer Privatangelegenheit der beiden Personen, die nun in der Ebene der Realität abläuft; unter dem soziologischen Zeichen der Geselligkeit aber, in die die eigentliche, das volle Leben in sich bindende Zentralität der Personen überhaupt nicht eintritt, ist Koketterie das neckische oder auch ironische Spiel, mit dem die Erotik gleichsam die reinen Schemata ihrer Wechselwirkungen von ihrem stofflichen oder ganz individuellen Inhalt gelöst hat. Wie die Geselligkeit die Formen der Gesellschaft spielt, so spielt die Koketterie die Formen der Erotik – eine Wesensverwandtschaft, die diese eben gewissermaßen zu einem Element jener prädestiniert.

In welchem Maße die Geselligkeit so die Abstraktion der sonst durch ihren Inhalt bedeutsamen soziologischen Wechselwirkungsformen vollzieht und ihnen, die nun gleichsam um sich selbst kreisen, einen Schattenkörper leiht, dies offenbart sich schließlich an dem breitesten Träger aller menschlichen Gemeinsamkeit, am Gespräch. Das Entscheidende ist hier als die ganz banale Erfahrung auszudrücken: daß im Ernst des Lebens die Menschen um eines Inhaltes willen reden, den sie mitteilen oder über den sie sich verständigen wollen, in der Geselligkeit aber das Reden zum Selbstzweck wird, aber nicht im naturalistischen Sinne, wie im Geschwätz, sondern in dem der Kunst des Sich-Unterhaltens, mit deren eigenen artistischen Gesetzen; im rein geselligen Gespräch ist sein Stoff nur noch der unentbehrliche Träger der Reize, die der lebendige Wechseltausch der Rede als solcher entfaltet. Alle die Formen, mit denen dieser Tausch sich verwirklicht: der Streit und der Appell an die von beiden Parteien anerkannten Normen; der Friedensschluß durch Kompromiß und das Entdecken gemeinsamer Überzeugungen; das dankbare Aufnehmen des Neuen und das Ablenken von dem, worüber doch keine Verständigung zu hoffen ist – alle diese Formen gesprächhafter Wechselwirkung, sonst im Dienste unzähliger Inhalte und Zwecke des menschlichen Verkehrs, haben hier ihre Bedeutung in sich selbst, das heißt in dem Reize des Beziehungsspieles, das sie, bindend und lösend, siegend und unterliegend, gebend und nehmend, zwischen den Individuen stiften; der Doppelsinn des „Sich-Unterhaltens“ tritt in seine Rechte. Damit dieses Spiel sein Genügen an der bloßen Form bewahre, darf der Inhalt kein Eigengewicht bekommen: sobald die Diskussion sachlich wird, ist sie nicht mehr gesellig; sie dreht ihre teleologische Spitze um, sobald die Ergründung einer Wahrheit – die durchaus ihren Inhalt bilden kann – zu ihrem Zwecke wird. Damit zerstört sie ihren Charakter als gesellige Unterhaltung ebenso, wie wenn sie sich zu einem ernsthaften Streite zuspitzt. Die Form des gemeinsamen Suchens des Richtigen, die Form des Streites mag bestehen; aber sie darf den Ernst ihres jeweiligen Inhaltes so wenig zu ihrer Substanz werden lassen, wie man in ein perspektivisch wirkendes Gemälde ein Stück der dreidimensionalen Wirklichkeit seines Gegenstandes einfügen dürfte. Nicht als ob der Inhalt der gesellschaftlichen Unterhaltung gleichgültig sei: er soll durchaus interessant, fesselnd, ja bedeutend sein – nur daß er nicht an sich den Zweck der Unterhaltung bilde, daß diese nicht dem objektiven Resultat gelte, das sozusagen ideell außerhalb der Unterhaltung bestünde. Äußerlich mögen deshalb zwei Unterhaltungen ganz gleich verlaufen, gesellig, dem inneren Sinne nach, ist nur diejenige, in der jene Inhalte, mit all ihrem Werte und Reize, doch nur an dem funktionellen Spiele der Unterhaltung als solcher ihr Recht, ihren Platz, ihren Zweck finden, an der Form des Redetausches mit ihrer besonderen und sich selbst normierenden Bedeutsamkeit. Darum gehört zum Wesen der geselligen Unterhaltung, daß sie ihren Gegenstand leicht und rasch wechseln könne; denn da der Gegenstand hier nur Mittel ist, kommt ihm die ganze Austauschbarkeit und Zufälligkeit zu, die überhaupt den Mitteln gegenüber dem feststehenden Zwecke eignet. So also bietet, wie gesagt, die Geselligkeit den vielleicht einzigen Fall, in dem das Reden legitimer Selbstzweck ist. Denn dadurch, daß es schlechthin zweiseitig ist, ja vielleicht mit Ausnahme des „Sich-Ansehens“ die reinste und sublimierteste Zweiseitigkeitsform unter allen soziologischen Erscheinungen überhaupt, wird es zur Erfüllung einer Relation, die sozusagen nichts als Relation sein will, in der also das, was sonst bloße Form der Wechselwirkung ist, zu deren selbstgenugsamem Inhalt wird. Es ergibt sich aus diesen gesamten Zusammenhängen, daß auch das Erzählen von Geschichten, Witzen, Anekdoten, so oft es auch ein Lückenbüßer und Armutszeugnis sein mag, doch auch einen feinen Takt zeigen kann, in dem alle Motive der Geselligkeit anklingen. Denn zunächst wird damit die Unterhaltung auf einer Basis gehalten, die jenseits aller individuellen Intimität, jenseits jenes rein Personalen steht, das sich nicht in die Kategorien der Geselligkeit fügen will. Aber dennoch ist dieses Objektive nicht um seines Inhaltes, sondern um des Geselligkeitsinteresses willen vorgebracht; daß dieser gesagt und aufgenommen wird, ist kein Selbstzweck, sondern ein bloßes Mittel für die Lebendigkeit, das Sichverstehen, das Gemeinsamkeitsbewußtsein des Kreises. Es ist damit nicht nur ein Inhalt gegeben, an dem alle gleichmäßig teilhaben können, sondern es ist die Gabe eines einzelnen an die Gesamtheit, aber eine solche, hinter der der Gebende sozusagen unsichtbar wird: die feinste, gesellig erzählte Geschichte ist die, bei der der Erzählende seine Person völlig zurücktreten läßt; die ganz vollendete hält sich in dem glücklichen Gleichgewichtspunkt der sozusagen geselligen Ethik, in dem sowohl das subjektiv Individuelle wie das objektiv Inhaltliche sich völlig in den Dienst an der reinen Geselligkeitsform aufgelöst haben.

Es ist hiermit angedeutet, daß die Geselligkeit die Spielform auch für die ethischen Kräfte der konkreten Gesellschaft ist. Die großen, diesen Kräften gestellten Probleme: daß der Einzelne sich in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen und für ihn zu leben habe, daß ihm aber aus diesem wieder Werte und Erhöhungen zurückfließen müssen, daß das Leben des Individuums ein Umweg für die Zwecke des Ganzen, das Leben des Ganzen aber ein Umweg für die Zwecke des Individuums sei – den Ernst, ja die vielfache Tragik dieser Forderungen überträgt die Geselligkeit in das symbolische Spiel ihres Schattenreiches, in dem es keine Reibungen gibt, weil Schatten sich eben nicht aneinander stoßen können. Wenn es ferner die ethische Aufgabe der Vergesellschaftung ist, das Sichzusammenfinden und das Sichlösen ihrer Elemente zum genauen und aufrichtigen Ausdruck ihrer inneren, durch die Ganzheit ihres Lebens bestimmten Relationen zu machen, so löst sich innerhalb der Geselligkeit diese Freiheit und Adäquatheit von ihren konkreten und inhaltlich tieferen Bedingnissen ab; wie sich in einer „Gesellschaft“ Gruppen bilden und sich spalten, wie das Zwiegespräch in ihr sich rein nach Impuls und Gelegenheit entspinnt, vertieft, lockert, abschließt, dies ist ein Miniaturbild des Gesellschaftsideales, das man, die Freiheit der Bindung nennen könnte. Wenn alles Miteinander und Auseinander das streng angemessene Phänomen innerer Wirklichkeiten sein soll, so sind diese letzteren hier fortgefallen, und nur jene Erscheinung ist geblieben, deren den eigenen Formgesetzen gehorsames Spiel, deren in sich geschlossene Anmut jene Angemessenheit ästhetisch repräsentiert, die der Ernst der Realitäten sonst ethisch fordert.

Diese Gesamtdeutung der Geselligkeit wird von gewissen historischen Entwicklungen anschaulich realisiert. Im früheren deutschen Mittelalter finden wir ritterliche Bruderschaften, die von befreundeten Patrizierfamilien gebildet waren. Die religiösen und praktischen Zwecke dieser Einungen scheinen sich aber ziemlich früh verloren zu haben, und im 14. Jahrhundert sind die ritterlichen Interessen und Verhaltungsweisen ihr allein übriggebliebenes inhaltliches Spezifikum. Bald nachher aber verschwindet auch dieses, und es verbleiben nur noch rein gesellige Vereinigungen aristokratischer Schichten. Hier entwickelt sich also die Geselligkeit offensichtlich als das Residuum einer inhaltbestimmten Gesellschaft- als das Residuum, das, weil der Inhalt verloren gegangen ist, nur aus der Form und den Formen des Miteinander und Füreinander bestehen kann. Daß der Eigenbestand dieser Formen nur das innere Wesen des Spieles oder, tiefergreifend, der Kunst zeigen kann, tritt noch sichtbarer an der Hofgesellschaft des Ancien Regime hervor. Hier waren aus dem Wegfall der konkreten Lebensinhalte, die der französischen Aristokratie gewissermaßen durch das Königtum ausgesogen waren, freischwebende Formen entstanden, zu denen das Bewußtsein dieses Standes kristallisiert war- Formen, deren Kräfte, Bestimmtheiten, Relationen rein gesellig waren und keineswegs etwa Symbole oder Funktionen der realen Bedeutungen und Intensitäten der Personen und Institutionem Das Etikettenwesen der höfischen Geselligkeit war zum Selbstzweck geworden, es etikettierte keinen Inhalt mehr, sondern hatte immanente Gesetze ausgebildet, jenen der Kunst vergleichbar, die nur aus dem Gesichtspunkt der Kunst heraus gelten und durchaus nicht den Zweck haben, die Wirklichkeit der Modelle, der Dinge außerhalb der Kunst, in ihr nachzubilden.

Mit dieser Erscheinung erreicht die Geselligkeit zwar ihren souveränsten, aber zugleich in die Karikatur übergehenden Ausdruck. Gewiß ist es ihr Wesen, aus den realistischen Wechselbeziehungen der Menschen die Realität auszuscheiden und nach den Formgesetzen dieser in sich bewegten, jetzt keinen Zweck außerhalb ihrer anerkennenden Relationen ihr luftiges Reich zu errichtem Allein die tief strömende Quelle, aus der dieses Reich seine Bewegtheiten speist, ist dennoch nicht in jenen sich selbst bestimmenden Formen, sondern nur in der Lebendigkeit der realen Individuen, in ihren Empfindungen und Attraktionen, in der Fülle ihrer Impulse und Überzeugungen zu suchen. Alle Geselligkeit ist nur ein Symbol des Lebens, wie es sich in dem Flusse eines leicht beglückenden Spieles zeichnet, aber eben doch ein Symbol des Lebens, dessen Bild nur so weit verändernd, wie die hier zu ihm gewonnene Distanz es fordert; gerade wie auch die freieste und phantastischste, von aller Wirklichkeitskopie entfernteste Kunst sich von einem tiefen und treuen Verhältnis zur Wirklichkeit nährt, wenn sie nicht hohl und verlogen wirken soll. Auch die Kunst steht zwar über dem Leben, aber über dem Leben. Schneidet die Geselligkeit die Fäden, die sie mit der Lebenswirklichkeit verbinden und aus denen sie ihr freilich ganz anders stilisiertes Gewebe spinnt, völlig ab, so wird sie aus einem Spiele zu einer Spielerei mit leeren Formen, zu einem unlebendigen und auf seine Unlebendigkeit stolzen Schematismus.

Aus diesem Zusammenhange wird ersichtlich, daß die Menschen über die Oberflächlichkeit des gesellschaftlichen Verkehrs mit Recht und mit Unrecht klagen. Es gehört nämlich zu den wirkungsvollsten Tatsachen der geistigen Existenz, daß, wenn wir aus der Ganzheit des Seins irgendwelche Elemente zu einem eigenen Reich zusammenschließen, das nach eigenen Gesetzen und nicht nach denen des Ganzen verwaltet wird, dieses Reich freilich in einer völligen Abschnürung von dem Leben des Ganzen, bei aller inneren Vollendung, ein ausgehöhltes und in der Luft schwebendes Wesen zeigen kann: dann aber, oft nur durch Imponderabilien verändert, gerade in diesem Abstand von aller unmittelbaren Realität, deren tiefstes Wesen vollständiger, einheitlicher, sinngemäßer zeigen kann, als irgendein Versuch, es realistischer und ohne Distanznahme zu ergreifen. Je nachdem diese oder jene Empfindung vorliegt, wird das eigene und unter eigenen Normen ablaufende Leben, das die Oberflächen der gesellschaftlichen Wechselwirkungen in der Geselligkeit gewonnen haben, für uns eine formelhafte, bedeutungslose Unlebendigkeit sein – oder ein symbolisches Spiel, in dessen ästhetischen Reiz alle feinste, sublimierte Dynamik des gesellschaftlichen Daseins überhaupt und seines Reichtums gesammelt ist. Wir sind in der ganzen Kunst, in der ganzen Svmbolik des religiösen und kirchlichen Lebens, großenteils sogar in den Formulierungskomplexen der Wissenschaft, auf diesen Glauben, auf dieses Gefühl angewiesen, daß die Eigengesetzlichkeiten bloßer Erscheinungsteile, die Kombination ausgewählter Oberflächenelemente eine Beziehung zu der Tiefe und Ganzheit der vollen Realität besitzen, die, wenn auch oft nicht formulierbar, jene zum Träger und Vertreter des unmittelbar wirklichen und fundamentalen Daseins macht. Wir verstehen daraus die erlösende und beglückende Wirkung mancher dieser, aus den bloßen Formen des Daseins aufgebauten Reiche denn in ihnen sind wir zwar vom Leben erlöst, aber wir haben es doch. Wie uns der Anblick des Meeres innerlich befreit nicht obgleich, sondern weil in seinem Aufrauschen, um abzufließen, Abfließen, um wieder aufzurauschen, in dem Spielen und Gegenspielen seiner Wellen das ganze Leben zu dem einfachsten Ausdruck seiner Dynamik stilisiert ist, ganz frei von aller erlebbaren Wirklichkeit und aller Schwere der Einzelschicksale, deren letzter Sinn dennoch in dieses bloße Bild einzufließen scheint – so offenbart etwa die Kunst das Geheimnis des Lebens: daß wir uns nicht durch einfaches Wegsehen von ihm erlösen, sondern gerade indem wir in dem scheinbar ganz selbstherrlichen Spiel seiner Formen den Sinn und die Kräfte seiner tiefsten Wirklichkeit, aber ohne diese Wirklichkeit selbst, gestalten und erleben. Für so viel tiefe und den Druck des Lebens in jedem Augenblick fühlende Menschen würde die Geselligkeit nicht dies Befreiende, erlösend Heitere enthalten können, wenn sie wirklich nur das Sichflüchten vor diesem I.eben, die bloß momentane Aufhebung seines Ernstes wäre. Sie mag vielfach dies nur Negative sein, ein Konventionalismus und innerlich lebloser Austausch von Formeln; so vielleicht häufig im Ancien Regime, wo die dumpfe Angst vor einer bedrohlichen Wirklichkeit die Menschen in jenes bloße Wegsehen hineintrieb, in jene Abschnürung von den Mächten des tatsächlichen Lebens. Das Befreiende und Erleichternde aber, das gerade der tiefere Mensch in der Geselligkeit findet, ist: daß das Zusammensein und der Einwirkungstausch, in denen die ganzen Aufgaben und die ganze Schwere des Lebens sich darstellt, hier in gleichsam artistischem Spiel genossen werden, in jener gleichzeitigen Sublimierung und Verdünnung, in der die inhaltbegabten Kräfte der Wirklichkeit nur noch wie aus der Ferne anklingen, ihre Schwere in einen Reiz verflüchtigend.

 

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1) Das Wesen der Koketterie habe ich ausführlich in meinem Buche „Philosophische Kultur“ behandelt.