BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kurt Tucholsky

1890 - 1935

 

Lerne lachen ohne zu weinen

 

Seite 14-18 der Erstausgabe

 

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Pariser Tage

 

 

Vorgestern. Vorgestern ist das Töchterchen meines Freundes Albert L. zu Papa ins Schlafzimmer gekommen, am frühen Morgen, im Nachthemd und furchtbar eilig. «Papa! wir wollen Theater spielen!» Papa hatte am Abend vorher mit mir gearbeitet, bis drei Uhr morgens, im Louvre, und er war noch sehr verschlafen. «Theater . . . ? Wie denn?» – «Also paß mal auf: Du mußt hier sitzen. Und dann muß ich reinkommen, und dann muß ich dir was erzählen, was ganz Langes!» – «Ja, aber was?» – «Das weiß ich noch nicht. Ich komme also da rein und erzähle dir was, und du mußt gut zuhören. Und dann mußt du sagen: ‹Trop tard! Rideau!›» Vier Silben . . . und das ganze französische Boulevard-Theater.

Gestern. Auch in Frankreich gibt es so etwas wie eine neofaschistische Literatur. Alles, was um Charles Maurras herumwimmelt, der zur großen Wut der ‹Action Française› nicht in die Akademie gekommen ist; alle jüngeren Herren, die da in Firma Barrès Nachfolger auftreten – sie alle sind für eine Erneuerung Frankreichs von Grund auf. Es gibt eine Parallelerscheinung in allen Ländern Europas, und überall schneidet die Sozialdemokratie in dieser Bewegung sehr schlecht ab. Man schilt sie kleinbürgerlich. Es sind nicht nur die Kommunisten, die der Partei diesen Vorwurf machen. «On est», steht geschrieben, «on est toujours le réactionnaire de quelqu'un.» Das ist sehr wahr. Es muß übrigens gesagt werden, daß diese neue französische Literatur durchaus nichts mit dem Sonnenwendkultus der Teutschen zu tun hat, und daß sie sich gar nicht im Chauvinismus gefällt. Obgleich es den auch gibt. Aber ein Buch wie ‹Explication de notre Temps› von Lucien Romier ist eine bemerkenswerte Erscheinung, die man auch vom andern Ufer her durchaus ernst nehmen kann.

Heute war es in der zweiten Klasse der Métro genau so voll wie abends um sieben zwischen Nollendorfplatz und Zoo. Eng aneinandergepreßt stehen die Leute, es geht liebenswürdig und ohne Krach ab. Nur kommt es in der Enge manchmal vor, daß mancher ein bißchen galant wird . . . Alles ist ganz still. Auf einmal sagt eine feine Mädchenstimme in der Stille: «Germaine, tu vas prêter tes fesses à monsieur – car moi j'en ai assez!» Jetzt werden Sie nachsehen, was ‹fesses› heißt, und dann ist das Unglück fertig.

Morgen. Morgen kommen die letzten dreißig Seiten von ‹Chacun son tour› daran. Das ist der dicke Angriff des dicken Karls, Charles Humbert, des ehemaligen Senators, der sich dafür rächt, daß Poincaré ihn einmal vors Kriegsgericht geschleift hat. Was ich bis jetzt zu mir genommen habe, ist so munter, daß man sich voller Freuden nach dem nächsten Krieg sehnt. Also so sieht es hinter den Kulissen der Fronten aus! Geschäfte, Spionage, Gegenspionage, Intrigen, daß die Akten wackeln; du hast gewußt, daß sie eine Spionin ist, wir haben nicht gewußt, daß du einer bist, ihr habt nicht wissen können, daß er einer gewesen sein muß. Allmächtiger Himmel! Bolo war offenbar wirklich einer, vielleicht weiß darüber der Oberst Nicolai besser Bescheid als ich. Und man ahnt bei diesem Geschäft nie, wo das Geschäft aufhört und wo der Kintopp anfängt. Da haben sie mutmaßlich – so stehts bei Humbert mit viel Dokumenten, dafür und dagegen – die kleinen Anzeigen des ‹Journal› dazu ausgenutzt, dem deutschen Nachrichtendienst in der Schweiz nützliche Winke zu geben. Die Rubrik ‹Pour se retrouver› war für die Flüchtlinge aus den besetzten Provinzen ein gutes Mittel, um die Familienmitglieder wieder zusammenzuholen, und das soll nach den Behauptungen des französischen Generalstabs zu Spionagezwecken verwendet worden sein. Also etwa so:

«Franz ist gesund. Georgette ist in Valmy, Mama in St. Quentin, angekommen am 8. 3. mit viel Mobiliar.»

Jeder geübte Spion sieht sofort, daß das nur heißen kann:

«Schwere Artillerie im Anmarsch. Bei Valmy nichts Neues, Ablösung in St. Quentin. Das VIII. Armeekorps ist mit drei Divisionen und Tanks angriffsfertig.»

Ja, heute lachen wir darüber. Aber als die Humbertschen Geschichten spielten, war der allgemeine Geisteszustand mehr zum Weinen, und es soll ja heute noch in allen Ländern Europas Gerichte geben, die den Spionagedienst sehr ernst nehmen. Lebenslänglich ernst.

Übermorgen. Da hätten wir Dienstag, und da habe ich mir aufgeschrieben: Vormittag Quais. Ich suche nämlich etwas. Ich suche eine Zeitschrift.

Auf den Quais ist es nicht mehr dasselbe wir früher, und wenn Ihnen jemand mit dieser falschen Feinschmeckermiene erzählt: «Ich habe gestern bouquinisiert», dann lachen Sie ihn nur ruhig aus. Denn die Automobile, die neue Schnelligkeit, die neuen Leute haben das bißchen Romantik an den Quais ratzekahl abrasiert, man findet hier und da noch ganz hübsche Sachen, manchmal sogar etwas wie eine billige Seltenheit . . . aber gar so arg ist das alles nicht mehr. Trotzdem: ich suche. Ich suche die alte ‹Assiette au Beurre›.

So etwas wie dieses Blatt haben wir nie gehabt. Es erschien lange Jahre hindurch, war in Deutschland selbstverständlich immer, durch direkte Verfügung des Reichskanzlers stets auf zwei weitere Jahre, verboten, und enthielt das Kostbarste an Gesellschaftssatire, was man sich denken kann. Gewöhnlich war jede Nummer nur von einem Künstler gezeichnet: Hermann-Paul und Jossot und Calanis und Vadasz haben da mitgetan, und jeder behandelte in der ganzen Nummer immer nur ein Thema. ‹Der Selbstmord›, ‹Die Autorität›, ‹Die Rekruten›, ‹Rußland› (das war ein Lieblingsstoff des Blattes), die Stützen von Bank, Thron und Altar – es war ganz herrlich. Man könnte heute noch ein Album zusammenstellen, es blinkte nur so von Aktualität. Von der dicken Concierge, die das große Los gewonnen hat und sagt: «Die Sache hat nur einen Haken – jetzt kann ich die Post von den Mietern nicht mehr lesen!» bis zu dem Skelett, das sich mit den andern auf dem Kirchhof unterhält: «Warum ich heute abend im Frack bin? Ich bin zu einer spiritistischen Sitzung eingeladen!» – es ist alles da. Ich will mir zusammenkaufen, was es noch gibt, und dann will ich davon träumen . . . Den unmöglichen Gedanken zu Ende träumen: Ein deutsches Witzblatt.

 

 

Zuerst erschienen in: Vossische Zeitung, 15.03.1925

unter dem Pseudonym Peter Panter