BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Stefan Zweig

1881 - 1942

 

Reise nach Rußland

 

1928

 

________________________________________________________________

 

 

 

Grenze

 

――――――――――

 

Grenzbahnhof Negoreloje, Inschrift: Gruß den Werktätigen des Westens

 

In Niegoroloie erste russische Erde. Spät abends, so dunkel schon, daß man den berühmten roten Bahnhof mit der Überschrift „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ nicht mehr wahrnehmen kann. Aber auch die von fabulierenden Reisevorgängern so pittoresk und fradiavolesk geschilderten Rotgardisten, grimmig bis an die Zähne bewaffnet, kann ich mit bestem Willen nicht erblicken, einzig ein paar klug aussehende, durchaus freundlich Uniformierte, ohne Gewehr und blinkende Waffe. Die Holzgrenzhalle wie alle anderen, nur daß statt der Potentaten die Bilder Lenins, Engels', Marx' und einiger anderer Führer von den Wänden blicken. Die Revision exakt, genau und geschwind, mit aller erdenklichen Höflichkeit; schon beim ersten Schritt auf die russische Erde spürt man, wieviel Lüge und Übertreiblichkeit man noch totzutreten hat. Nichts ereignet sich härter, strenger, militärischer als an einer anderen Grenze; ohne jeden Übergang steht man plötzlich in einer neuen Welt.

Aber doch, ein erster Eindruck gräbt sich sofort ein, einer jener ersten Eindrücke, wie sie so oft eine erst später bewußt erkannte Situation divinatorisch umfassen. Wir sind im ganzen vielleicht dreißig oder vierzig Personen, die heute die Grenze Rußlands überschreiten, die Hälfte davon bloß Durchreisende, Japaner, Chinesen, Amerikaner, die ohne Aufenthalt mit der mandschurischen Bahn nach Hause sausen; das gibt mathematisch einen Rest von etwa fünfzehn bis zwanzig Personen, die mit diesem Zuge wirklich nur nach Rußland reisen. Dieser Zug wieder ist der einzige am Tage, der von London, Paris, Berlin, Wien, von der Schweiz, aus ganz Europa nach dem Herzen Rußlands, nach seiner Hauptstadt Moskau zielt. Unbewußt erinnert man sich an die letzten Grenzen, die man passierte, erinnert sich, wie viele Tausende und Zehntausende jeden Tag in unsere winzigen Länderchen einreisen, indes hier zwanzig Personen in allem ein Riesenreich, einen Kontinent beschreiten. Zwei oder drei geradelaufende Eisenbahnadern verbinden im ganzen Rußland mit unserer europäischen Welt, und jede von diesen pocht nur matt und zaghaft. Da erinnert man sich an die Grenzübergänge zur Zeit des Krieges, wo auch nur ein siebenmal gesiebtes Häufchen die unsichtbare Linie von Staat zu Staat überschritt, und begreift instinktiv etwas von der augenblicklichen Situation: Rußland ist eine umschlossene Festung, ein wirtschaftliches Kriegsgebiet, durch eine Art Kontinentalsperre, ähnlich jener, die Napoleon über England verhängte, von unserer anders eingestellten Welt abgeschlossen. Man hat eine unsichtbare Mauer überstiegen, sobald man die hundert Schritte vom Eingang zum Ausgang zwischen diesen beiden Türen getan.