BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

August Dühr

1806 - 1896

 

Ilias

 

Vorwort

 

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[VII]

Vorwort.

 

Die „Niederdeutsche Ilias“, die ich den Freunden der plattdeutschen Litteratur, nicht ihren Feinden, die sie hat, vorzulegen im Begriff stehe, kann ich nicht in die Lande hinausgehen lassen, ohne ihr ein Geleit- und Begleitwort mit auf ihren mir und ihr unbekannten Weg zu geben.

Daß die Ilias Homers ein ernstes Lied ist, weiß jeder, der den großen Namen des alten griechischen Sängers kennt. Es wird sich also jeder Leser dieses niederdeutschen Werkes von Anfang an klar machen müssen, daß die Lektüre desselben ihm nur dann ein Genuß werden kann, wenn er den ernsten, großen Motiven des Leides, des Kriegsleides, auf langer Bahn zu folgen bereit ist. Denn nicht heiter ist die Muse, die dem Homer das Herz zu diesem „Hohenliede des Heroismus“ stimmte, das wir, in rhythmischen griechischen Zeilen festgebannt, aus den Anfangszeiten der Geschichte unseres Planeten besitzen.

Zum Gedächtnis großer Heldenthaten ist Homers Ilias gesungen; wir haben es hier also mit Dingen zu thun, die an historischer Stätte von tapferen Männern wirklich durchgerungen und ausgelebt sind. Die in diesem Heldenliede auftretenden Personen glauben selber an eine große allgemeine menschliche Teilnahme; ja, die Frau, die den furchtbaren trojanischen Krieg durch ihre Verblendung heraufbeschworen hat, sagt von dem Anlaß desselben, indem sie dem trojanischen Prinzen und sich selbst alle Schuld beimißt: [VIII]

 

„D't is so schlimm, dat in de Welt rin warden bös uns' Namen klingen,

Dat en Leed von uns de Minschen noch Johrdusend lang wardn singen.“

 

Das furchtbare Kriegsleid des Jahres, in dem Troja fiel, kann unsere Zeit erinnern an die Kriegszeit von 1870/71, welche die Franzosen nach ihren blutigen Niederlagen nennen: „l'année terrible“. Der Gedanke an die grausige Todessaat stimmt auch Homers Lied besonders düster, der Gedanke an das „kostbare Material“, das hingeopfert werden mußte, mildert den starren Heroismus; diese innige, warme Teilnahme Homers für die „Söhne der Achäer“ macht uns sein Lied so menschlich sympathisch.

Daß aber bei so gestellten Motiven die Anforderungen an die schildernde Sprache sehr hoch gehen, ist einleuchtend. Da bedarf es einer Sprache, die vor allem befähigt ist, dem großen heroischen Pathos gerecht zu werden, um das zu können, was der Originaldichter leistete: „rêver l'heroïsme“, wie es mit einem unnachahmlich schönen Ausdruck der Franzose nennt.

Nun entsteht, wo es sich um eine niederdeutsche Übersetzung des homerischen Liedes handelt, die eine große Frage: „Ist das Plattdeutsche einer so großen Aufgabe gewachsen und in diesem Sinne der homerischen Sprache kongenial?“

Man ist allerdings vielfach geneigt, dem Plattdeutschen die Fähigkeit für das heroische Pathos abzusprechen. Während ich mit der Übertragung des Originalwerkes in das Niederdeutsche beschäftigt war, habe ich von sonst verständnisvoller Seite die Meinung vernehmen müssen, und zwar nach innigster Überzeugung der Verfechter solcher Ansicht, daß das Plattdeutsche sich nicht zu einer den Geist und die Seele der alten Heroendichtung atmenden Wiedergabe eigne.

Diese Ansicht hängt zusammen mit einem Zuge der Zeit, der das Plattdeutsche überhaupt geringschätzt, ja verachtet. Es giebt genug Menschen, denen das plattdeutsche Idiom gradezu unsympathisch und unangenehm ist, ja, es giebt Litteraturkenner, [IX] die da wünschen, das Plattdeutsche möge unterdrückt werden, da es jedem feineren Tone abhold sei. Für Leute, die solcher Ansicht huldigen, ist allerdings die „Niederdeutsche Ilias“ nicht geschrieben.

Zunächst erhebt sich hier die scharf den oben vorgeführten Standpunkt angreifende Frage: Wieso darf einem Sprachkenner überhaupt irgend ein Dialekt, von tüchtigen Leuten gesprochen, unangenehm sein? Als Goethe sich vor die Frage nach dem Werte der Dialekte gestellt sah, und als man ihn in Leipzig wegen seines oberdeutschen Dialektes angriff, sagte er ganz allgemein: „Jede Provinz liebt ihren Dialekt; denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft.“ Das ist denn doch wohl ein Wort unseres Altmeisters, das über dieses ganze Fragegebiet ein überraschend helles Licht wirft. Also, wenn es sich um die elementarsten Regungen der Menschenseele und um ihren innigsten Anteil am Geschehen handelt, dann spricht die in Schwingungen versetzte Seele in ihren wahrsten Tönen und greift zum Dialekt. Ja, was sollte ich denn diesen Gedanken noch hinzufügen?

Aber allerdings, es kann nicht oft genug betont werden, was den Kennern ja freilich altbekannt ist, daß das Niederdeutsche in allen seinen Mundarten nicht eine Entartung des Hochdeutschen ist, sondern die vielgegliederte Grundlage, aus der das Hochdeutsche erwachsen ist. Das Hochdeutsche ist die jüngere, allerdings sehr gebildete und feine, aber konventionelle und förmliche Schwester des Niederdeutschen, das „im alten Hauskleide,“ wie Klaus Groth sehr schön sagt, „ihr zur Seite wandelt, ein Bild ihrer selbst aus früheren einfacheren Zuständen, eine stille Mahnerin zu Schlichtheit und Einsachheit.“

Im ganzen deutschen Norden wird nun dieser niederdeutsche Dialekt auch „das Plattdeutsche“ genannt, wie es auf dem platten Lande gesprochen wird. Dieses Platt ist aber mundartlich selbst wieder verschieden. Die vorliegende Übertragung ist im mecklenburg-strelitzer Dialekt verfaßt, der von der schweriner Mundart [X] fast nur durch das Beibehalten des vollen Zischlautes (sch) verschieden ist.

Was nun die bisherigen poetischen hochdeutschen Übersetzungen des homerischen Liedes betrifft, so haben wir nach Johann Heinrich Voß namentlich zwei wohlgelungene hochdeutsche Übersetzungen zu verzeichnen, die von Wilhelm Jordan, und ganz neuerdings die von Oskar Hubatsch. Beide letztgenannten Übersetzungen sind sehr wertvolle Denkmäler hochdeutscher Übersetzungskunst und werden kaum jemals überboten werden können.

Die Prosa-Übersetzung von Minckwitz, die für das Sinnverständnis gute Dienste geleistet hat, kann wegen ihrer stilistischen Härten und ungeheuerlichen Wortaccumulationen, die einen ästhetischen Genuß nicht zulassen, hier füglich übergangen werden.

Die vorliegende Übersetzung geht in gereimten Trochäen. Den Hexameter, der schon in hochdeutscher Prosa auf die Dauer lästig, ja unerträglich wirkt, habe ich bei der plattdeutschen Übertragung gar nicht in Betracht gezogen. Ichglaube, daß der hier gewählte Vers uns den homerischen Inhalt annehmbarer macht; der trochäische Takt wird uns heimischer erscheinen, als der antike hexametrische Tanzschritt.

Da die Übersetzung oft eine ganz freie ist, nenne ich dieselbe lieber eine poetische Übertragung Homers in das Niederdeutsche. Es kam mir alles ganz allein darauf an, den homerischen warmen Ton zu treffen und das poetische Gold des unvergleichlichen griechischen Sängers leuchten zu lassen.

Wenn es den oben genannten hochdeutschen poetischen Übersetzungen nicht vergönnt ist, uns Homer populär zu machen, so ist das nicht die Schuld der Übersetzer. Das Hochdeutsche besitzt nicht die Gabe, neben dem feinen, konventionellen, modernen Tone auch noch den ursprünglichen, epischen, patriarchalischen, herzhaft derben Typus auszugestalten. Das Hochdeutsche ist zu modern für den alten Homer. Das ist der Grund, daß eine Homer-Übersetzung, die in einem unserer Dialekte nicht verfaßt ist, die homerische Dialektdichtung - denn das ist sie - nicht kongenial wiedergeben konnte. Das ist nicht wunderbar und befremdlich, sondern sehr [XI] natürlich. Homer hätte in der feinen attischen Sprache auch keinen Eindruck gemacht. So mußte es denn kommen, daß der volkstümliche epische Ton, den wir für Homer fordern und erwarten, in hochdeutschen Übersetzungen unterging.

Meine Ansicht ist demgemäß die, daß, wenn es ein Mittel giebt, einer Homer-Übersetzung einen populären Anstrich zu geben und dadurch der für Griechenland bekannten großartigen Wirkung des Homerischen Volksepos nahezukommen, dies nur durch eine mundartliche Übertragung möglich sein wird. Ein Versuch einer solchen Übertragung mußte gemacht werden. Hier ist einer. Wie dieser Versuch gelungen ist, ist eine Sache für sich. Jedenfalls stelle ich dem Satze, daß das Plattdeutsche dem großen homerischen Pathos nicht gewachsen sei, diametral den andern Satz entgegen, daß das Hochdeutsche für diese Art des Pathos ungeeignet sei, und daß allein das Niederdeutsche, als archaistisches und ursprüngliches Idiom, sich für eine der homerischen Empfindung durchaus ähnliche, stimmungsvolle Wiedergabe des antiken Heldenliedes eignet.

Ich darf hier die Bemerkung nicht unterdrücken, daß die erste Anregung zu der vorliegenden „Niederdeutschen Ilias“ mir das Kapitel „Plattdeutsches“ in dem Buche des ungenannten Verfassers „Rembrandt als Erzieher“ (pg. 144 ff.) geboten hat. Namentlich unterzog ich jenes sein Wort der eingehendsten Erwägung: „Das Plattdeutsche ist dem griechischen (Homerischen) Idiom seelisch verwandt.“ Da ich dieses Wort für wahr und richtig hielt, wurde es für mich zur unabweisbaren Notwendigkeit, dem gewaltigen Impulse desselben zu folgen und den Homer in das Plattdeutsche zu übertragen.

Was mich dann noch besonders ermutigt hat, das begonnene Werk bis zu dem nunmehrigen Abschluß der „Ilias“ zu fördern, ist der Umstand, daß in den Kreisen Klaus Groth's ein plattdeutscher Homer seit Jahren erwartet worden ist. Klaus Groth selbst giebt diesem Wunsche in seiner Vorrede, die er zu Robert Dorr's plattdeutscher Übersetzung von Shakespeare's „Lostgen Wiwer von Windsor“ geschrieben hat, einen sehr anmutigen, ja [XII] rührenden Ausdruck. Wenn ein Meister wie Klaus Groth das Plattdeutsche zur Übertragung Homers für außerordentlich geeignet hält, so haben die Stimmen derer, die sich gegen jeden Versuch einer niederdeutschen Homer-Übersetzung prinzipiell aussprechen oder aussprechen werden, keine Bedeutung mehr.

Eine Übertragung der Odyssee in das Plattdeutsche wird nachfolgen, wenn die Muse und die Muße es gestatten. Der Herr Verleger, der die hochideale Aufgabe bisher in dankenswertester Weise gefördert hat, will auch dieses jüngere Heldenlied Homers in seinem Verlage in plattdeutscher Zunge erscheinen lassen.

Nunmehr wird es die Aufgabe der Kritik und der Leser sein, ihr Urteil über dies erste homerische plattdeutsche Lied abzugeben. Jede die Sache fördernde Mitteilung wird mir außerordentlich wertvoll sein; einer nur negativ sich verhaltenden Kritik indessen würde ich nach den obigen Auseinandersetzungen keine neuen Widerlegungen bieten wollen.

 

Sangerhausen, am 3. Oktober 1895.

Dr. Dühr, Oberlehrer.

 

 

Druckfehler.

Seite 32 Vers 273 statt Achilles zu lesen: Odysseus.

Seite 235 Vers 657 statt Irdenborn zu lesen: Irdborn.

Seite 562 Vers 113 statt an d' Gesteen zu lesen: an de Steen.

 

Bemerkung.

Einige orthographische Ungleichheiten im plattdeutschen Text bitte ich zunächst zu entschuldigen.