BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. I. Abtheilung.

 

___________________________________________________________

 

 

 

Vierzehntes Capitel.

 

――――――

 

Sachsen.

 

Die Fürsten aus dem Hause Sachsen haben seit der Reformation den Wissenschaften die edelste Art der Beschützung, die Unabhängigkeit, zugestanden. Ohne die Wahrheit im mindesten zu verletzen, darf man behaupten, daß in keinem Lande der Erde so viel Aufklärung anzutreffen ist, als in Sachsen und dem Norden von Deutschland. Hier ist der Protestantismus geboren worden; hier hat sich der Geist der Untersuchung immer lebendig und frisch erhalten.

Während des letzten Jahrhunderts sind die Churfürsten von Sachsen katholisch gewesen; und obwohl sie dem Schwur, den Cultus ihrer Unterthanen zu respektiren, getreu geblieben sind, so hat doch diese Verschiedenheit kirchlicher Ansicht zwischen [110] dem Volke und seinen Gebietern dem Staate Manches von seiner politischen Einheit geraubt. Die Churfürsten, welche zugleich Könige von Polen waren, haben die Künste mehr geliebt, als die Literatur, die ihnen fremd blieb, wiewohl sie ihr keinen Zwang anthaten. Die Musik wird in Sachsen allgemein geliebt; die Gallerie von Dresden enthält Meisterstücke, die den Künstler beleben können; die Umgebung der Hauptstadt ist sehr mahlerisch: aber die Gesellschaft bietet keine lebhaften Vergnügungen dar. Die Eleganz des Hofes schlägt daselbst keine Wurzeln; nur die Etikette kann sich leicht feststellen.

Aus der Zahl der Bücher, die in Leipzig verkauft werden, kann man leicht auf die Zahl ihrer Leser schließen: Arbeitsleute aller Classen, Steinhauer sogar, ruhen sich aus, mit einem Buche in der Hand. In Frankreich kann man sich schwerlich eine Vorstellung davon machen, bis zu welchem Grade die Einsichten in Deutschland verbreitet sind. Ich habe Gasthalter und Thorschreiber kennen gelernt, welche die französische Literatur kannten. In Dörfern sogar findet man Leute, die im Griechischen und Lateinischen unterrichten könnten. Keine noch so kleine Stadt, die nicht eine beträchtliche Bibliothek hätte; und allenthalben kann man einige Männer nennen, die wegen ihrer Talente und Kenntnisse empfohlen zu werden verdienen. Wollte man Frankreich und Deutschland in dieser Hinsicht mit einander vergleichen, so würde man zuletzt glauben müssen, beide Länder seyen durch drejahrhundertlange Entfernung von einander geschieden. Indem Paris das Ausgesuchteste des Reichs in seinem Schooße vereinigt, nimmt es dem Uebrigen das Interesse.

Picard und Kotzebue haben zwei artige Stücke [111] geschrieben, welche die Kleinstädter betittelt sind. Picard stellt die Bewohner der Provinz als Leute dar, welche Paris unablässig nachahmen; Kotzebue die Bürger einer kleinen Stadt, bezaubert von ihrem Wohnort, den sie für unvergleichlich halten und stolz auf ihn. Der Unterschied des Lächerlichen führt immer auf den Unterschied in den Sitten. In Deutschland ist jeder Wohnort für den, der sich darin aufhält, ein Reich; seine Einbildungskraft, seine Studien und seine Treuherzigkeit vergrößern ihn in seinen Augen; jeder weiß ihn sich so vortheilhaft wie möglich zu machen. Die Wichtigkeit, die man auf alles legt, mag spaßhaft seyn; aber diese Wichtigkeit giebt kleinen Hülfsquellen einen Werth. In Frankreich interessirt man sich nur für Paris; und man thut Recht daran, denn Paris ist ganz Frankreich, und wer nur in der Provinz gelebt hätte, würde nicht die mindeste Vorstellung von dem haben, was das Eigenthümliche dieses herrlichen Landes ausmacht.

Da die ausgezeichnetsten Männer Deutschlands nicht in einer und derselben Stadt versammelt sind, so sehen sie sich beinahe gar nicht, und stehen nur durch ihre Schriften mit einander in Verbindung; jeder tummelt sich in der eigenen Bahn, und entdeckt in der großen Region des Alterthums, der Metaphysik und Wissenschaft unaufhörlich neue Gegenden. Was man in Deutschland Studiren nennt, ist etwas Bewundernswerthes. fünfzehn Stunden von Einsamkeit und Arbeit täglich scheinen eine ganz natürliche Art der Existenz, selbst ganze Jahre hindurch. Die Langeweile des Umgangs macht die Zurückgezogenheit liebenswerth.

In Sachsen gab es eine unbegränzte Preßfreiheit, aber sie war ohne alle Gefahr für die Regierung, weil der Geist der Schriftsteller nie zur [112] Untersuchung politischer Instruktionen hinleitete; die Einsamkeit bringt es mit sich, daß man sich der Speculation oder der Poesie hingiebt; man muß in dem Flammenquell menschlicher Leidenschaften leben, um ein Bedürfniß zu fühlen, sich ihrer zu bedienen oder sie zu leiten. Die deutschen Schriftsteller beschäftigen sich nur mit Theorieen, mit Gelehrsamkeit, mit literarischen und philosophischen Untersuchungen, und davon war für die Mächtigen dieser Welt nichts zu fürchten. Außerdem, obgleich die sächsische Regierung nicht von Rechtswegen frei, nehmlich repräsentativ, war, so war sie es doch durch die That, vermöge der Gewohnheiten des Landes und der Mäßigung der Fürsten.

Die Ehrlichkeit der Einwohner ist so groß, daß, als zu Leipzig ein Eigenthümer an einen von ihm am äußersten Ende des Spazierganges gepflanzten Apfelbaum einen Zettel geklebt hatte, worin er bat, daß man ihm doch die Früchte nicht rauben möchte, man ihm zehn Jahre hindurch keinen einzigen Apfel stahl. Mit dem Gefühl der innigsten Hochachtung habe ich diesen Apfelbaum gesehen. Und wäre es der Baum der Hesperiden gewesen, so würde man sein Gold eben so wenig berührt haben, als seine Blüthen.

Sachsen genoß einer tiefen Ruhe; bisweilen machte man Lärm mit einigen Ideen, ohne an ihre Anwendung zu denken. Man hatte sagen mögen: Denken und Handeln stehen in keiner Beziehung zu einander, und die Wahrheit gleiche bei den Deutschen den Hermessäulen, die weder Hände noch Füße hatten, um zu fassen und sich fortzubewegen. Bei dem allen ist nichts so achtungswerth, als diese friedlichen Eroberungen der Betrachtung und des Nachdenkens, welche diese vereinzelte Menschen ohne Glücksgüter, ohne Macht, ohne andere [113] Verbindung unter sich als die Bearbeitung des Gedankens, beschäftigen.

In Frankreich beschäftigt man sich mit abstracten Ideen nur in Beziehung auf die Praxis. Die Verwaltung verbessern, die Bevölkerung durch gute Staatswirthschaft aufmuntern, dies war der Gegenstand von den Arbeiten unserer Philosophen, vorzüglich im abgewichenen Jahrhundert. Auch diese Manier, seine Zeit anzuwenden, ist achtungswerth; aber auf der Gedanken-Skala steht die Würde des menschlichen Geschlechts höher, als sein Wohlseyn, vorzüglich, als sein Wachsthum. Geburten vervielfältigen, ohne die Bestimmung zu veredeln, heißt bloß, dem Tode ein reichlicheres Mahl bereiten.

Die literarischen Städte Sachsens sind die, wo man das meiste Wohlwollen, die meiste Einfachheit antrift. Anderwärts hat man allenthalben die Wissenschaften als eine Zugabe des Luxus betrachtet; in Deutschland scheinen sie ihn auszuschließen. Die Neigungen, welche sie einflößen, geben eine Art von Aufrichtigkeit und Furchtsamkeit, die das häusliche Leben anziehend macht, nicht daß die Autor-Eitelkeit nicht ihren bestimmten Character bei den Deutschen haben sollte, aber sie heftet sich nicht an gesellschaftlichen Beifall. Der kleinste Schriftsteller will etwas mit der Nachwelt zu schaffen haben; aber indem er sich nach seiner Bequemlichkeit, in den Raum gränzenloser Betrachtungen verliert, wird er minder von Menschen geklemmt, und ist daher weniger gegen sie aufgebracht. Indeß sind die Gelehrten und die Geschäftsmänner in Sachsen zu sehr von einander geschieden, als daß sich ein Gemeingeist offenbaren könnte. Die Folge davon ist, daß die Einen über alles, was Geschäft heißt, in einer allzu großen [114] Unwissenheit leben, um irgend einen Einfluß auf das Land zu haben, und daß die Andern sich einen gewissen Macchiavellismus zur Ehre rechnen, der hochherzigen Ideen ungefähr eben so zulächelt, wie Kindern, und ihnen zu verstehen giebt, daß sie nicht von dieser Welt sind.