BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Georg Heym

1887 - 1912

 

Zu den Wahlen

 

1912

 

Quelle:

di-lemmata-Projekt

 

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ZU DEN WAHLEN

 

[In Deutschland haben Wahlen stattgefunden, ein angeblicher schwarz-blauer Block sollte zerschmettert werden. Er wurde es aber nicht. Ja, er hatte überhaupt nicht existiert. Tagelang zerrauften sich die Zeitungen über das Rätsel die Haare. Kein besorgter Redakteur war mehr um Stoff verlegen.]

Wozu war denn dieser ganze Humbug, diese grandiose Barnu­misterei? Ein einigermaßen anständiger Mensch sollte doch an dem trüben Teich vorübergehen, um den herum die 397 «Vertreter des deutschen Volkes» mit Lügenködern traurig nach traurigen Mandaten fischen. Was soll das alles? Wird die Welt durch einen neuen Reichstag ein neues Gesicht bekommen, werden irgendwelche großen Taten geschehen, die nicht bloß das Golem-Dasein ihrer Vorgängerinnen aus den verflossenen Reichstagen führen? Nichts wird geschehen!

Große Reden werden gehalten werden, mächtige Interpellationen werden in dem Reichstag erschallen. Die Regierung wird antworten oder wird nicht antworten, wie es ihr beliebt. Die Presse wird schimpfen und sich beruhigen, ein paar kümmerliche Gesetzesvorlagen werden noch um einige Federn mehr zerrupft aus dem goldenen Reichs-Käfig echappieren. Der Reichskanzler wird den schwarzen Adler auf den dünnen Schulmeisterbauch kleben dürfen, vielleicht kann er sich auch von einem Klempner einige Zinken mehr an seine Freiherrnkrone löten lassen, er wird in Seligkeit schimmern und seine Söhne werden auf dem Gymnasium Carrière machen. – Oder vielleicht sitzen sie schon unter dem goldenen Fittich eines Regierungspräsidenten.

So sieht Deutschland 1912 aus, hundert Jahre nach dem ersten Wetterleuchten der Freiheitskriege oder vierundsechzig Jahre nach den Tagen der Märzrevolutionen und der Paulskirche.

Es ist dunkel geworden. Von starken äußeren Erregungen, die doch nun einmal einen großen Teil des fundus eines freien schönen und großartigen Lebens ausmachen, ist bis in die tiefsten Volksschichten herein absolut nicht ein Hauch mehr zu spüren.

Man muß doch zugeben, daß es sich immerhin gelohnt hätte, eine solche Nacht, wie die vom 4. August 1789, mitzuerleben, wo die Pairs von Frankreich ihre Privilegien, die Feudalrechte, die persönlichen Dienstbarkeiten, den Zehnten, das Jagdrecht, die Taubenhäuser, die Steuerfreiheit, die Stolgebühren und so vieles andere zu einem gewaltigen Autodafé aufeinanderschichteten. Bewundere man wenigstens die prachtvolle Geste, die diese Männer gehabt haben müssen. Und stelle man sich dann für eine Weile an dem Platze eines Marquis de Noailles oder eines Herzogs von Châtelet unsere Oldenbürger, Kröchere, Schwerine vor – und man wird ohne Brille sehen, wo das schönere war, die größeren Lebenswerte gelegen waren. Gut, wir bekämen einmal eine sozialdemokratische Mehrheit, glaubt ein Mensch, daß es dann irgendwie um einen Schatten besser würde. Dann muß er niemals in einer sozialdemokratischen Wahlversammlung gewesen sein, und noch nicht vor tödlicher Langeweile unter dem Phrasen-Schwall dieser Miniatur-Robespierrechen gestorben sein. Ja, Generalstreik, Marseillaise und ein paar Barrikaden – sie würden ja nicht lange stehen. – Es wäre immerhin etwas gewesen. – Man hätte doch wenigstens einmal etwas von dem Atem der Menschheit gerochen. Und der Tod hätte uns wieder einmal für eine kurze Zeit Menschen gegeben. Aber wer denkt heutzutage noch an solche Kindereien. Heinrich Mann hat einmal gesagt: «Der Deutsche will bloß leben.» Eben, wie er lebt, ist [ihm] gleichgiltig. Man kann das aber ganz ruhig verallgemeinern. Ganz Europa steckt heutzutage in demselben endlosen Winterschlafe.

Worauf kommt es an? Es kommt darauf an, daß Leute, wie meinet­wegen zum Beispiel Wedekind [oder Verhaeren] (irgendwelche Namen. Man versteht aber was ich will) auch die politische Macht bekommen.

Wird das möglich sein, wird man noch einmal dem Genie das Recht zuweisen, auch das Leben der Nationen zu bestimmen?

Wir werden also einen neuen Reichstag haben, es wird fünf Jahre lang viel geredet werden. Einige Mitglieder des Reichstages werden hof­fentlich sterben. Dann wird der Reichstag selbst sterben. Die macht­hungrigen Überlebenden werden die alten vergilbten [Wahlmoden] aus den Truhen und Schüben [ziehen]. Und ein neuer bleicher Bruder wird geisterhaft aus der Urne steigen.

Berlin sah in der Nacht nach den Wahlen besonders idiotisch aus. Auf der Friedrichsstraße schallte ein Volksgemurmel. Die armen Spaziergängerinnen warfen böse Blicke herum. Der Verdienst war schmal. Kein Mensch kümmerte sich um sie. Das gewaltig geschwollene politische Interesse hatte die unreinen Instinkte verdrängt.

 

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