BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Adolf von Düring

1880

 

Die Canterbury-Erzählungen

 

Fragment IX

 

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Erzählung des Tafelmeisters.

Vers 105 - 362

 

 

Als Phöbus hier auf Erden hat geweilt,

War, wie in alten Büchern mitgetheilt,

Kein bess'rer Bogenschütze ringsumher,

Und kein vergnügterer Gesell, als er.

Die Schlange Python schlug er einstmals nieder,

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Als in der Sonne schlafen lag die Hyder,

Und manche Heldenthat ward mit dem Bogen

Von ihm noch, wie man lesen kann, vollzogen.

In jeder Spielmannskunst und im Gesange

War er erfahren, und dem hellen Klange

Von seiner Stimme lauschte Jeder gern.

Selbst von Amphion, Thebens Königsherrn,

Der durch sein Singen jene Stadt umwallte,

Ward nie gesungen, wie sein Lied erschallte.

Ein Mann von edlerm Anstand und Betragen

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Lebt nicht, noch lebte seit den Schöpfungstagen.

Was soll sein Aeuß'res lang beschrieben werden?

An Schönheit glich ihm Keiner rings auf Erden;

Und dabei war er die Vollkommenheit

An Ehre, Zartgefühl und Würdigkeit.

Auch führte Phöbus, diese Zier und Blume

An Kraft und Freimuth rings im Ritterthume,

Zur Kurzweil und zum Zeichen seiner Glorie,

Weil er den Python schlug – sagt die Historie –

In seiner Hand beständig einen Bogen.

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Von ihm war eine Krähe aufgezogen,

Die er zu Haus in einem Käfig nährte,

Und auch zu sprechen, wie die Elstern lehrte.

Weiß war die Krähe, gleich dem Schwan schneeweiß,

Und machte von den Leuten auf Geheiß

Den Ton und Klang der Stimme täuschend nach;

Auch konnte von ihr hunderttausendfach

Im Singen jede Nachtigall auf Erden

An Schmelz und Wohlklang übertroffen werden.

Nun hatte Phöbus auch daheim ein Weib,

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Für welches freudig Leben er und Leib

Geopfert hätte. Er war Tag und Nacht

Auf ihre Lust und Ehre nur bedacht.

Doch war er, wie ich nicht verschweigen darf,

Voll Eifersucht, und pflegte daher scharf

Aus Furcht vor Hörnern sie zu überwachen,

Wie's Männer oft in gleicher Lage machen.

Es hilft zu Nichts. Umsonst ist ihr Beginnen.

Ein gutes Weib von reinem Thun und Sinnen

Braucht nicht bewacht zu werden, das ist klar.

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Dagegen wird die Arbeit offenbar

Verschwendet bei dem bösen Frauenzimmer.

Und d'rum halt' ich's für reine Thorheit immer,

Ein Weib zu hüten. Denn vergebens bleiben

Wird alle Müh' – wie die Gelehrten schreiben.

Doch laßt zur Sache mich zurück nun kehren.

In jeder Hinsicht suchte sie zu ehren

Der würd'ge Phöbus, der sich männlich klug

Und stets gefällig gegen sie betrug,

Damit kein Andrer ihre Gunst ihm raube.

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Jedoch kann Niemand – wie, bei Gott, ich glaube –

Das jemals ändern, was von der Natur

Selbst eingepflanzt ward einer Kreatur.

Setzt einen Vogel in den Käfig man,

Und wendet allen Fleiß und Eifer an,

Ihn liebevoll zu füttern und zu tränken

Mit allen Leckerei'n, die zu erdenken,

Hält man ihn mit der größten Sorgfalt rein,

Mag noch so schön sein gold'ner Käfig sein,

Wird doch zehntausendmal so gern im Wald

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Der Vogel, sei's auch noch so rauh und kalt,

Von Würmern und von Ungeziefer leben;

Und durch Instinkt wird er sich stets bestreben,

Sobald er kann, dem Käfig zu entflieh'n;

Denn Freiheit bleibt der höchste Wunsch für ihn.

Nehmt eine Katze, nährt sie noch so reich

Mit Milch und zartem Fleisch, macht seidenweich

Ihr Lager – und dann zeigt ihr eine Maus,

Sofort ist Milch und Fleisch und was im Haus

Es sonst an Leckerbissen giebt, vergessen

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Aus Gier und Sehnsucht, diese Maus zu fressen.

Seht, unsre Neigung hat die Oberhand,

Und unsre Lust bewältigt den Verstand.

So wird von einer Wölfin von Natur

Der schlechteste, gemeinste Wolf, der nur

Zu finden ist, zum Gatten angenommen,

Ist über sie die Zeit der Brunst gekommen.

All' diese Beispiele betreffen Herr'n,

Die treulos sind, nicht Damen, insofern

Ein Mann mit viel mehr Gier und Appetit

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Den Lustact mit gemeinem Pack vollzieht,

Als mit der eignen Gattin, einerlei

Wie schön, wie gut, wie freundlich sie auch sei.

Ach! schlimmer Weise liebt das Fleisch so sehr

Den Wechsel, daß uns kein Vergnügen mehr,

Wenn es nach Tugend schmeckt, zu munden pflegt.

Trug hatte Phöbus nie im Sinn gehegt;

Und doch trotz aller seiner Zärtlichkeiten

Betrog sein Weib ihn, das sich einen zweiten

Geliebten hielt, der sich an Werth indessen

200

Wohl schwerlich je mit Phöbus konnte messen.

Nun, um so schlimmer! doch geschieht es, ach!

Nur allzu oft, und Leid und Weh folgt nach.

So kam's, daß, wenn den Rücken Phöbus wandte,

Sein Weib sofort zu ihrem Buhlen sandte.

Zum Buhlen? – Pfui! Der Ausdruck ist nicht Sitte!

Verzeiht mir gütigst dieses Wort, ich bitte.

In Einklang steh'n muß Wort und Thun – so sprach

Der weise Plato – lest es selber nach.

Will man genau erzählen, darf allein

210

Das Wort der Vetter von der That nur sein.

Ich geb' es zu, ich bin ein grober Mann,

Doch keinen Unterschied, auf Ehre, kann

Ich zwischen einem Weib aus hohem Stande,

Das ihren Körper überläßt der Schande,

Und einer armen Dirne, deren Sünden

Die gleichen sind, als etwa diesen finden:

Ist man von edler Abkunft heißt der Name

Für solche Frau'n Geliebte oder Dame;

Dagegen wird ein Weib aus niederm Stand

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Beischläferin und Hure nur genannt.

Doch, lieber Freund, beim Gott im Himmelreich!

Das eine wie das andre bleibt sich gleich.

So sind ein unrechtmäßiger Tyrann,

Ein Räuber oder vogelfreier Mann

Nur dadurch unterschieden von einander

– Wie vorgehalten ward dem Alexander –

Daß den Tyrannen, dem Gewalt geworden,

Durch Heeresmacht die Leute zu ermorden

Und rings umher zu plündern und zu brennen,

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Wir einen Feldherrn dieserhalb benennen;

Indeß der Führer einer kleinen Bande,

Der weniger gefährlich einem Lande

Und harmloser als jener sich erweist,

Man einen Räuber und Banditen heißt.

Doch ich bin kein citatereicher Mann,

Und führe drum kein weit'res Beispiel an,

Nein, halte mich an der Erzählung Faden.

Als Phöbus' Weib den Buhlen eingeladen,

Begann auch bald der lust'ge Liebesspaß.

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Die weiße Krähe, die im Käfig saß,

Sah ihrem Treiben zu und sprach kein Wort.

Jedoch, als Phöbus eintrat, sang sofort

Die Krähe laut: „Kucku, Kucku, Kucku!“

„Was?“ – fragte Phöbus – „Vogel, was sagst Du?

Sonst tönte stets so lieblich Dein Gesang,

Daß Wonne mir das ganze Herz durchdrang,

Wenn ich Dich hörte. – Ach! was singst Du jetzt?“

Und von dem Vogel ward darauf versetzt:

„Nichts Falsches sing' ich, Phöbus; Gott verhüte!

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Indeß trotz Deiner Schönheit, Würde, Güte,

Trotz Deiner Freundlichkeit, trotz Deiner Kunst

In Spiel und Sang, entwandte Dir die Gunst

Von Deinem Weib ein ganz gemeiner Mann,

Der sich mit Dir durchaus nicht messen kann,

Denn er ist wahrlich keine Fliege werth;

Und doch im Bett hat er Dein Weib entehrt.“

Was wollt Ihr mehr? Durch manches kühne Wort,

Durch manches ernste Zeichen gab sofort

Der Vogel kund, wie sich sein Weib befleckte,

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Und schamlos ihn mit Schimpf und Schmach bedeckte.

„Ich sah es selbst“ rief wiederholt die Krähe.

Das Herz zu brechen schien vor Leid und Wehe

Dem armen Phöbus, der sich seitwärts wendend,

Den Bogen spannt und einen Pfeil entsendend,

In seinem Zorn das falsche Weib erschlug.

So war der Schluß und damit sei's genug.

In seinem Jammer er in Stücke haute

Den Psalter nebst Ginterne, Harfe, Laute,

Die Pfeile sammt dem Bogen er zerbrach;

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Worauf zum Vogel er die Worte sprach:

„Scorpionenzunge und Verrätherin!

Du stießest mich ins Elend! Warum bin

Ich auf der Welt? was athmet noch die Brust?

O, theures Weib, Du Kleinod meiner Lust,

So ernsten Sinnes und so treu zugleich,

Jetzt liegst Du todt am Boden, starr und bleich!

Und trägst – ich möchte schwören – keine Schuld!

O, Frevelthat! o, Hand voll Ungeduld,

O, hirnverbrannter, zorn'ger Narre du,

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Was schlägst du jählings auf die Unschuld zu?!

O, Zweifelmuth voll Argwohn und Verdacht,

Wie ward um Witz ich und Verstand gebracht?!

O, hüte Jeder sich vor blinder Hast!

Verlangt Beweis, bevor Ihr Glauben faßt;

Schlagt nicht gleich zu, bevor Ihr wißt, weßwegen?

Nehmt willig Rath an, lernt zu überlegen,

Und zwar zuvor, eh' Ihr in Zorn und Wuth

Aus falschem Argwohn Uebereiltes thut.

Ach! tausend Leute sind vom Zorn verblendet,

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In Schmutz gesunken und darin verendet.

Ach! tödten möcht ich mich vor Gram und Wehe!

O, falsche Diebin!“ – sprach er zu der Krähe –

„Dir soll die Falschheit nun vergolten werden!

Wie Du sang keine Nachtigall auf Erden;

Von nun an sei Dir Dein Gesang genommen,

Um Deine weißen Federn sollst Du kommen,

Und lebenslang kein einz'ges Wort mehr sprechen.

So soll ein Mann sich am Verräther rächen!

Sammt Deiner Brut sei schwarz für alle Zeit!

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Statt süß zu singen, krächzt fortan und schreit

In Sturm und Regen, daß ein Zeichen bleibe,

Du trugst die Schuld am Tod von meinem Weibe!“

Und damit stürzt' er auf die Krähe nieder,

Rupft' ihr vom Leib das weiße Glanzgefieder,

Färbt kohlenschwarz die Federn und entreißt

Ihr Sprache und Gesang zugleich und schmeißt

Sie aus der Thür dem Teufel zu als Beute.

Und schwarz deswegen sind die Kräh'n noch heute.

Ihr Herr'n, ich bitte, nehmt ein Beispiel dran.

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Behalte, was ich sagte, Jedermann.

Erzählt im ganzen Leben nie den Leuten,

Wenn Andre sich mit ihren Frau'n erfreuten;

Sonst habt Ihr schwer an ihrem Haß zu tragen.

Seht! Salamo und andre Weise sagen:

Die Zunge lehret Jeden zu regieren.

Doch – wie gesagt – ich mag nicht gern citiren;

Indeß mich lehrte die Frau Mutter immer:

„Mein Sohn, bei Gott, vergiß die Krähe nimmer!

Mein Sohn in Obacht Freund und Zunge nimm!

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Kein Teufel ist wie dieses Glied so schlimm.

Mein Sohn, vorm Satan durch Gebet Dich hüte!

Mein Sohn, die Zunge hat in seiner Güte

Mit Zähnen und mit Lippen Gott umschränkt,

Damit sein Wort der Mensch zuvor bedenkt.

Mein Sohn, gar Manchen in den Tod getrieben

Hat vieles Schwatzen – wie Gelehrte schrieben.

Doch wenn man wenig und bedächtig spricht,

So schadet es im Allgemeinen nicht.

Mein Sohn, die Zunge laß behutsam sein

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Zu jeder Zeit und brauche sie allein

Zu Gott zu beten und ihn zu verehren.

Die erste Tugend ist – laß Dich belehren

Sich vor Geschwätz zu hüten und zu wahren;

Das lehrt man Kindern schon in jungen Jahren.

Mein Sohn, zu vieles unbedachtes Reden,

Wo weniges genügt, hat einem Jeden

– Wie mir gelehrt ward – nichts als Harm gebracht.

Es sündigt leicht, wer viele Worte macht.

Weißt Du, wohin uns führt die böse Zunge?

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Gleich wie das scharfe Schwert in raschem Schwunge

Den Arm durchschneidet, ebenso, mein Sohn,

Durchschnitt die Zunge manche Freundschaft schon.

Verhaßt vor Gott sind Schwätzer stets gewesen.

Du magst den weisen Salamo nur lesen,

Die Psalmen Davids und den Seneka.

Drum schweig', mein Sohn, und nicke Nein und Ja

Mit Deinem Kopf, als hörtest Du beschwerlich,

Erscheint Dir, was ein Schwätzer spricht, gefährlich.

Auf vlämisch sagt man – das behalte Du! –

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Wer wenig schwatzt, genießt die meiste Ruh'.

Mein Sohn, hast Du kein böses Wort gesagt,

Wirst Du von Furcht nicht vor Verrath geplagt.

Doch wer sein Wort mißbraucht, macht nimmerdar

Das ungesprochen, was gesprochen war.

Ein Wort bleibt Wort und geht in alle Winde,

Wie sehr man Gram und Scham darob empfinde.

Wer etwas weiterschwatzt, macht sich zum Knecht

Des Hörers, und vergolten wird's ihm schlecht.

Mein Sohn, versuche niemals Neuigkeiten,

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Ob wahre oder falsche, zu verbreiten.

Bei Reich und Arm, wohin Dein Weg auch gehe,

Halt' Deinen Mund – und denke an die Krähe!“