BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Feuerbach

1804 -1872

 

Das Wesen des Christentums

 

Erster Theil

Die Religion in ihrer Uebereinstimmung

mit dem Wesen des Menschen.

 

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Das Geheimniß der Incarnation

oder Gott als Liebe, als Herzenswesen.

 

Das Bewußtsein der Liebe ist es, wodurch sich der Mensch mit Gott oder vielmehr mit sich, mit seinem Wesen, welches er im Gesetz als ein andres Wesen sich gegenüberstellt, versöhnt. Die Anschauung, das Bewußtsein der göttlichen Liebe, oder, was eins ist, Gottes als eines selbst menschlichen Wesens – diese Anschauung ist das Geheimniß der [49] Incarnation. Die Incarnation ist nichts andres als die thatsächliche sinnliche Erscheinung von der menschlichen Natur Gottes. Die Incarnation war nur eine Folge der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit. Seinetwegen ist Gott nicht Mensch geworden. Die Noth, das Bedürfniß des Menschen – ein Bedürfniß, das übrigens heute noch ein Bedürfniß des religiösen Gemüths – war der Grund der Incarnation. Aus Barmherzigkeit wurde er Mensch – er war also schon in sich selbst ein menschlicher Gott, ehe er wirklicher Mensch wurde; denn er fühlte das menschliche Bedürfniß; es ging ihm das menschliche Elend zu Herzen. Die Incarnation war eine Thräne des göttlichen Mitleids, also nur eine Erscheinung eines menschlich fühlenden, darum wesentlich menschlichen Wesens.

Wenn der menschgewordne Gott in der Incarnation als das Erste gesetzt und betrachtet wird, so erscheint freilich die Menschwer­dung Gottes als ein unerwartetes, frappirendes, wunderbares, geheimnißvolles Ereigniß. Allein der menschgewordne Gott ist nur die Erscheinung des gottgewordnen Menschen, was freilich im Rücken des religiösen Bewußtseins liegt; denn der Herablassung Gottes zum Menschen geht nothwendig die Erhebung des Menschen zu Gott vorher. Der Mensch war schon in Gott, war schon Gott selbst, ehe Gott Mensch wurde. Wie hätte sonst Gott Mensch werden können? Ex nihilo nil fit. Ein Gott, der sich nicht um Menschliches kümmert, wird nicht um des Menschen willen Mensch werden. Ein König, der nicht auf seinem Herzen das Wohl seiner Unterthanen trägt, der nicht schon auf dem Throne mit seinem Geiste in den Wohnungen derselben weilt, nicht schon in seiner Gesinnung, wie das Volk spricht, ein gemeiner [50] Mann ist, ein solcher König wird auch nicht körperlich von seinem Throne herabsteigen, um seine Untergebenen zu beglücken mit seiner persönlichen Gegenwart. Ist also nicht schon der Unterthan zum König emporgestiegen, ehe der König zum Unterthan herabsteigt? Und wenn sich der Unterthan durch die persönliche Gegenwart seines Königs geehrt und beglückt findet, bezieht sich dieses Gefühl nur auf diese sichtbare Erscheinung als solche, oder nicht vielmehr auf die Erscheinung der Gesinnung, des menschenfreundlichen Wesens, welches der Grund dieser Erscheinung ist?

Das Tiefe, d. h. das Widersprechende, das Unbegreifliche, welches man in dem Satze: Gott ist oder wird Mensch, findet, kommt nur daher, daß man den Begriff oder die Bestimmungen des allgemeinen, uneingeschränkten, d. i. lediglich metaphysischen Wesens mit dem Begriffe oder den Bestimmungen des religiösen Gottes unmittelbar verbindet oder vielmehr vermischt – eine Vermischung, die überhaupt die Einsicht in das Wesen der Religion erschwert. Aber es handelt sich in der That nur um die menschliche Gestalt eines Gottes, der schon ein Wesen, im tiefsten Grunde seiner Seele ein barmherziger, d. i. menschlicher Gott ist.

In der kirchlichen Lehre wird dieß so ausgedrückt, daß es nicht die erste Person der Gottheit, sondern die zweite ist, welche sich incarnirt – die zweite Person, welche die Welt geschaffen, welche der zum Menschen redende Gott ist, welche den Menschen in und vor Gott vertritt  1), kurz nichts andres als der göttliche Mensch ist – die zweite Person, die aber fürwahr, wie sich zeigen wird, der eigentliche Gott, die wahre, [51] erste Person der Religion ist. Und nur ohne diesen Terminus medius, welcher aber der Terminus a quo der Incarnation, erscheint die Incarnation unbegreiflich, mysteriös, „speculativ,“ während sie im Zusammenhang mit demselben eine sich von selbst verstehende Folge ist. Die Behauptung daher, daß die Incarnation eine rein empirische Thatsache sei, von der man nur aus der Offenbarung Kunde erhalte, ist eine Aeußerung des stupidesten religiösen Materialismus, denn die Incarnation ist ein Schlußsatz, der auf einer sehr begreiflichen Prämisse beruht. Aber eben so verkehrt ist es, wenn man aus puren speculativen, d. i. metaphysischen Gründen die Incarnation der kirchlichen, orthodoxen Theologie deduciren will, denn die Metaphysik gehört nur der ersten Person an, welche sich nicht incarnirt, keine dramatische Person ist.

Aus diesem Exempel erhellt, wie sich die genetisch-kritische, die speculativ-rationelle oder speculativ-empirische Methode, die Methode der pneumatischen Wasserheilkunde, von der purlautern speculativen Methode unterscheidet. Die genetisch-kritische oder speculativ-rationelle Methode philosophirt nicht über die Menschwerdung als ein besonderes, stupendes Mysterium, wie die vom mystischen Schein verblendete Speculation; sie zerstört vielmehr die Illusion, als stecke ein ganz besondres Geheimniß dahinter, sie kritisirt das Dogma und reducirt es auf seine natürlichen Elemente, auf seinen innern Ursprung – auf die Liebe. Der Mittelpunkt der Incarnationslehre, des mystischen „Gottmenschen“ ist die Liebe Gottes zum Menschen; inwiefern Gott den Menschen liebt, Gott an den Menschen denkt, Gott für den Menschen fürsorgt, ist er schon Mensch; Gott begibt schon in sich seiner Gottheit, entäußert, anthropomorphirt sich, indem er liebt. [52] Die wirkliche Incarnation ist nun das geistliche Argument ad hominem von dieser innerlichen wesentlichen Menschheit Gottes.

Das Dogma aber oder die Religion stellt uns zweierlei dar: Gott und die Liebe. Gott ist die Liebe; was heißt aber das? Ist Gott noch Etwas außer der Liebe? ein von der Liebe unterschiedenes Wesen? Ist es so viel, als wie ich auch von einer menschlichen Person im Affect ausrufe: sie ist die Liebe selbst? Allerdings; sonst müßte ich den Namen: Gott, der ein besondres persönliches Wesen, ein Subject im Unterschiede von Prädicat ausdrückt, fahren lassen. Also wird die Liebe zu etwas Besondren gemacht. Gott hat aus Liebe seinen eingebornen Sohn gesandt. Die Liebe wird so zurück und herabgesetzt, verfinstert durch den dunkeln Hintergrund: Gott. Sie wird nur zu einer persönlichen, wenn auch wesenbestimmenden Eigenschaft; sie behält daher im Geiste und Gemüthe, objectiv und subjectiv, den Rang nur eines Prädicats, nicht des Subjects, nicht der Substanz; sie verschiebt sich mir als eine Nebensache, ein Accidenz aus den Augen; bald tritt sie als etwas Wesentliches vor mich hin; bald verschwindet sie mir wieder. Gott erscheint mir auch noch in andrer Gestalt, als in der der Liebe, auch in der Gestalt der Allmacht, einer finstern, nicht durch die Liebe gebundnen Macht, einer Macht, an der auch, wenn gleich in geringerem Maaße, die Dämone, die Teufel participiren.

So lange die Liebe nicht zur Substanz, zum Wesen selbst erhoben wird, so lange lauert im Hintergrunde der Liebe ein Subject, das auch ohne Liebe noch Etwas für sich ist, ein liebloses Ungeheuer, ein dämonisches Wesen, dessen von der Liebe unterscheidbare und wirklich unterschiedene Persönlichkeit [53] an dem Blute der Ketzer und Ungläubigen sich ergötzt – das Phantom des religiösen Fanatismus. Aber gleichwohl ist das Wesentliche in der Incarnation, obwohl noch gebunden an die Nacht des religiösen Bewußtseins, die Liebe. Die Liebe bestimmte Gott zur Entäußerung seiner Gottheit  2). Nicht aus seiner Gottheit als solcher, nach welcher er das Subject ist in dem Satze: Gott ist die Liebe, sondern aus der Liebe, dem Prädicat kam die Verläugnung seiner Gottheit; also ist die Liebe eine höhere Macht als die Macht der Gottheit. Die Liebe überwindet Gott. Die Liebe war es, der Gott seine göttliche Majestät aufopferte. Und was war das für eine Liebe? eine andere als die unsrige? als die, der wir Gut und Blut opfern? War es die Liebe zu sich? zu sich als Gott? Nein! die Liebe zum Menschen. Aber ist die Liebe zum Menschen nicht menschliche Liebe? Kann ich den Menschen lieben, ohne ihn menschlich zu lieben, ohne ihn so zu lieben, wie er selbst liebt, wenn er in Wahrheit liebt? Wäre sonst nicht die Liebe vielleicht teuflische Liebe? Der Teufel liebt ja auch die Menschen, aber nicht um des Menschen, sondern um seinet willen, also aus Egoismus, um sich [54] zu vergrößern, seine Macht auszubreiten. Aber Gott liebt, indem er den Menfchen liebt, den Menschen um des Menschen willen, um ihn gut, glücklich, selig zu machen. Liebt er also nicht so den Menschen, wie der wahre Mensch den Menschen liebt? Hat die Liebe überhaupt einen Plural? Ist sie nicht überall sich selbst gleich? Was ist also der wahre, reine Text der Incarnation als der Text der Liebe schlechtweg, ohne Beisatz, ohne Differenz von göttlicher und menschlicher Liebe; denn wenn es auch eine eigennützige Liebe unter den Menschen gibt, so ist doch die wahre menschliche Liebe, die allein dieses Namens würdige diejenige, welche dem Andern zu Liebe das Eigne opfert. Wer ist also unser Erlöser und Versöhner? Gott oder die Liebe? Die Liebe, denn Gott als Gott hat uns nicht erlöst, sondern die Liebe, welche über die Differenz von göttlicher und menschlicher Persönlichkeit erhaben ist. Wie Gott sich selbst aufgegeben aus Liebe, so sollen wir auch der Liebe Gott aufopfern; denn opfern wir nicht Gott der Liebe auf, so opfern wir die Liebe Gott auf, und wir haben trotz des Prädicats der Liebe den Gott, das böse Wesen des religiösen Fanatismus.

Indem wir nun aber diesen Text aus der Incarnation gewonnen, so haben wir zugleich das Dogma in seiner Unwahrheit und Nichtigkeit dargestellt, die Illusion aufgehoben, als stecke ein ganz besondres Geheimniß dahinter, das scheinbar übernatürliche und überverständige Mysterium auf eine einfache, dem Menschen natürliche Wahrheit reducirt – eine Wahrheit, die nicht der christlichen Religion allein, sondern jeder Religion als Religion mehr oder minder angehört. Jede Religion setzt nämlich voraus, daß Gott nicht gleichgültig ist gegen die Wesen, die ihn verehren, daß also Menschliches [55] ihm nicht fremd, daß er als ein Gegenstand menschlicher Verehrung selbst ein menschlicher Gott ist. Jedes Gebet enthüllt das Geheimniß der Incarnation, jedes Gebet ist in der That eine Incarnation Gottes. Im Gebete ziehe ich Gott in das menschliche Elend herein; ich lasse ihn Theil nehmen an meinen Leiden und Schwächen. Gott ist nicht taub gegen meine Klagen; er erbarmt sich meiner; er verläugnet also seine göttliche Majestät, seine Erhabenheit über alles Menschliche und Endliche; er wird Mensch mit dem Menschen; denn erhört er mich, erbarmt er sich meiner, so wird er afficirt von meinem Leiden.

Die Theologie freilich, welche die metaphysischen Verstandes­bestimmungen der Apathie, der Immutabilität, Ewigkeit und andere dergleichen abstracte Wesensbestimmungen im Kopfe hat und festhält, die Theologie freilich läugnet die Passibilität Gottes, läugnet aber eben damit auch die Wahrheit der Religion  3). Denn die Religion, der religiöse Mensch glaubt im Acte der Andacht des Gebets an eine wirkliche Theilnahme des göttlichen Wesens an seinen Leiden und Bedürfnissen, glaubt an einen durch die Innigkeit des Gebets, d. h. durch die Kraft des Gemüths bestimmbaren Willen Gottes, glaubt an eine wirkliche, gegenwärtige, durch das Gebet bewirkte Erhörung. Der wahrhaft religiöse Mensch legt unbedenklich sein Herz in Gott; Gott ist ihm ein Herz, [56] ein Gemüth, das für alles Menschliche empfänglich ist. Das Herz kann nur zum Herzen sich wenden; das Gemüth findet nur in sich selbst, in seinem Wesen, nur in einem Gotte, der ist, wie und was das Gemüth, seine Befriedigung. „Wir bedürfen einen willkührlichen Gott.“

Die Behauptung, daß die Erfüllung des Gebetes von Ewigkeit her schon bestimmt, schon in den Plan der Weltschöpfung ursprünglich mit aufgenommen sei, ist eine leere abgeschmackte Fiction einer mechanischen Denkart, die absolut dem Wesen der Religion widerspricht. Ueberdem ist ja auch in dieser Fiction Gott eben so ein vom Menschen bestimmbares Wesen, als in der wirklichen, gegenwärtig auf die Kraft des Gebets erfolgten Erhörung; nur daß der Widerspruch mit der Immutabilität und Unbestimmbarkeit Gottes, d. h. die Schwierigkeit in die täuschende Ferne der Vergangenheit oder Ewigkeit hinausgeschoben wird. Ob Gott jetzt auf mein Gebet hin sich zur Erfüllung meines Gebets entschließt oder sich einst dazu entschlossen hat, das ist im Grunde ganz eins.

Es ist die größte Inconsequenz, die Vorstellung eines durch das Gebet, d. h. die Kraft des Gemüths bestimmbaren Gottes als eine unwürdige anthropomorphistische Vorstellung zu verwerfen. Glaubt man einmal ein Wesen, welches Gegenstand der Verehrung, Gegenstand des Gebetes, Gegenstand des Gemüthes ist, ein Wesen, welches ein vorsehendes, fürsorgendes ist – eine Vorsehung, welche nicht ohne Liebe denkbar – ein Wesen also, welches ein liebendes ist, die Liebe zum Bestimmungsgrunde seiner Handlungen hat, so glaubt man auch ein Wesen, welches, wenn auch nicht ein anatomisches, doch ein psychisches menschliches Herz hat. Das [57] religiöse Gemüth legt überhaupt Alles in Gott – Das ausgenommen, was es selbst verschmäht. Die Christen gaben ihrem Gotte zwar keine ihren moralischen Begriffen widersprechende Affecte, aber die Empfindungen und Gemüthsaffecte der Liebe, der Barmherzigkeit gaben sie ihm ohne Anstand und mußten sie ihm geben. Und die Liebe, die das religiöse Gemüth in Gott setzt, ist eine eigentliche, nicht nur so vorgespiegelte, vorgestellte, eine wirkliche, wahrhafte Liebe – Gott wird geliebt und liebt wieder; in der göttlichen Liebe vergegenständlicht, bejaht sich nur die menschliche Liebe. In Gott vertieft sich nur die Liebe in sich als die Wahrheit ihrer selbst.

Gegen die eben entwickelte Bedeutung der Incarnation kann man erwidern, daß es mit der christlichen Incarnation doch eine ganz besondre, wenigstens andre Bewandtniß habe – was allerdings auch in gewisser Hinsicht wahr ist, wie selbst später gezeigt werden wird – als mit den Menschwerdungen der heidnischen, etwa griechischen oder indischen Götter. Diese seien bloße Menschenproducte oder vergötterte Menschen; aber im Christenthum sei die Idee des wahren Gottes gegeben; hier werde die Vereinigung des göttlichen Wesens mit dem menschlichen erst bedeutungsvoll und „speculativ.“ Jupiter verwandle sich auch in einen Stier; die heidnischen Menschwerdungen seien bloße Phantasien. Im Heidenthum sei nicht mehr in dem Wesen Gottes als in der Erscheinung Gottes; im Christenthum dagegen sei es Gott, sei es ein andres, übermenschliches Wesen, welches als Mensch erscheine. Aber dieser Einwurf widerlegt sich durch die bereits gemachte Bemerkung, daß auch die Prämisse der christlichen Incarnation schon das menschliche Wesen enthält. Gott liebt den Menschen; Gott hat überdem einen Sohn in sich; Gott ist Vater; die Verhältnisse der [58] Menschlichkeit sind von Gott nicht ausgeschlossen; Menschliches ist Gott nicht unbekannt, nicht ferne. Es ist daher auch hier nicht mehr im Wesen Gottes als in der Erscheinung. In der Incarnation gesteht die Religion nur ein, was sie außerdem nicht Wort haben will, daß Gott ein durchaus menschliches Wesen ist. Die Incarnation, das Geheimniß des Gottmenschen, ist daher keine mysteriöse Composition von Gegensätzen, kein synthetisches Factum, wofür es der speculativen Religionsphilosophie gilt, weil sie eine besondere Freude am Widerspruch hat; sie ist ein analytisches Factum – ein menschliches Wort mit menschlichem Sinne. Wäre ein Widerspruch vorhanden, so läge dieser schon vor und außer der Incarnation; der Widerspruch läge schon in der Verbindung der Vorsehung, der Liebe mit der Gottheit; denn ist diese eine wirkliche, so ist sie keine von unsrer Liebe wesentlich unterschiedene – es sind nur die Schranken zu beseitigen – und so ist die Incarnation nur der kräftigste, intensivste, offenherzigste Ausdruck dieser Vorsehung, dieser Liebe. Die Liebe weiß ihren Gegenstand nicht mehr zu beglücken, als daß sie ihn mit ihrer persönlichen Gegenwart erfreut, daß sie sich sehen läßt. Den unsichtbaren Wohlthäter von Angesicht zu Angesicht zu schauen, ist das heißeste Verlangen der Liebe. Seligkeit liegt im bloßen Anblick des Geliebten. Der Blick ist die Gewißheit der Liebe. Und die Incarnation soll nichts sein, nichts bedeuten, nichts wirken als die zweifellose Gewißheit an der Liebe Gottes zum Menschen. Die Liebe bleibt, aber die Incarnation auf der Erde geht vorüber; die Erscheinung war eine zeitlich und räumlich beschränkte, Wenigen zugängliche; aber das Wesen der Erscheinung ist ewig und allgemein. Wir sollen noch glauben an die Erscheinung, aber [59] nicht um der Erscheinung, sondern um des Wesens willen; denn uns ist nur geblieben – die Anschauung der Liebe.

Der klarste, unwidersprechlichste Beweis, daß der Mensch in der Religion sich als göttlicher Gegenstand, als göttlicher Zweck Object ist, daß er also in der Religion nur zu seinem eignen Wesen, nur zu Sich selbst sich verhält – ist die Liebe Gottes zum Menschen: der Grund und Mittelpunkt der Religion. Gott entäußert sich um des Menschen willen selbst seiner Gottheit. Hierin liegt der erhebende Eindruck der Incarnation: das höchste, das bedürfnißlose Wesen demüthigt, erniedrigt sich um meinetwillen. In Gott kommt daher mein eignes Wesen mir zur Anschauung; ich habe für Gott Werth; die göttliche Bedeutung meines Wesens wird mir offenbar. Wie kann denn der Werth des Menschen höher ausgedrückt werden, als wenn Gott um des Menschen willen Mensch wird, wenn der Mensch der Endzweck, der Gegenstand der göttlichen Liebe ist? Die Liebe Gottes zum Menschen ist eine wesentliche Bestimmung des göttlichen Wesens: Gott ist ein mich, den Menschen überhaupt, liebender Gott. Darauf ruht der Accent, darin liegt der Grundaffect der Religion. Gottes Demuth macht mich demüthig, seine Liebe liebend. Nur die Liebe ist der Gegenstand der Liebe: nur was liebt, wird wieder geliebt. Die Liebe Gottes zum Menschen ist der Grund der Liebe des Menschen zu Gott: die göttliche Liebe verursacht, erweckt die menschliche Liebe. „Lasset uns ihn lieben, denn Er hat uns erst geliebet.“ 4) Was liebe ich also in und an Gott? Die Liebe und zwar die Liebe zum Menschen. Wenn ich aber die Liebe liebe und anbete, mit welcher Gott den Menschen liebt, liebe ich [60] nicht den Menschen, ist meine Gottesliebe nicht, wenn auch indirecte, Menschenliebe? Ist denn nicht der Mensch der Inhalt Gottes, wenn Gott ihn liebt? Ist nicht das mein Innigstes, was ich liebe? Habe ich ein Herz, wenn ich nicht liebe? Nein! Die Liebe nur ist das Herz des Menschen. Aber was ist die Liebe ohne Das, was ich liebe? Was ich also liebe, das ist mein Herz, das ist mein Inhalt, das ist mein Wesen. Warum trauert der Mensch, warum verliert er die Lust zum Leben, wenn er den geliebten Gegenstand verliert? Warum? weil er mit dem geliebten Gegenstande sein Herz, das Princip des Lebens, verloren. Liebt also Gott den Menschen, so ist der Mensch das Herz Gottes – des Menschen Wohl seine innigste Angelegenheit. Ist also nicht, wenn der Mensch der Gegenstand Gottes ist, der Mensch sich selbst in Gott Gegenstand, nicht der Inhalt des göttlichen Wesens das menschliche Wesen, wenn Gott die Liebe, der wesentliche Inhalt dieser Liebe aber der Mensch ist, nicht die Liebe Gottes zum Menschen, der Grund und Mittelpunkt der Religion, die Liebe des Menschen zu sich selbst, vergegenständlicht, angeschaut als die höchste objective Wahrheit, als das höchste Wesen des Menschen? Ist denn nicht der Satz: „Gott liebt den Menschen“ ein Orientalismus – die Religion ist wesentlich orientalisch – welcher auf Deutsch heißt: das Höchste ist die Liebe des Menschen? –

 

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1) S. hierüber z. B. Tertullian. adv. Praxeam c. 15. 16. 

2) So, in diesem Sinne feierte der alte unbedingte begeisterungsvolle Glaube die Incarnation. Amor triumphat de Deo, sagt der heil. Bernhard. Und nur in der Bedeutung einer wirklichen Selbstentäußerung, Selbstverläugnung der Gottheit liegt die Realität, die Vis der Incarnation, wenn gleich diese Selbstnegation nur eine Phantasievorstellung ist, denn bei Lichte betrachtet negirt sich in der Incarnation Gott nicht, sondern er zeigt sich nur als das, was er ist, als ein menschliches Wesen. Was die Lüge der spätern rationalistisch-orthodoxen und biblisch-pietistisch-rationalistischen Theologie gegen die wonnetrunknen Vorstellungen und Ausdrücke des alten Glaubens in Betreff der Incarnation vorgebracht, verdient keine Erwägung, geschweige eine Widerlegung. Wie aber selbst der alte charaktervolle Glaube die Wahrheit der Incarnation, die Wahrheit des Gottmenschen wieder geläugnet – darüber im Anhang. 

3) Der heilige Bernhard hilft sich mit einem köstlich sophistischem Wortspiel: Impassibilis est Deus, sed non incompassibilis cui proprium est misereri semper et parcere (Super Cantica. Sermo 26.) als wäre nicht Mitleiden Leiden, freilich Leiden der Liebe, Leiden des Herzens. Aber was leidet, wenn nicht das theilnehmende Herz? Ohne Liebe keine Leiden. Die Materie, die Quelle des Leidens, ist eben das allgemeine Herz, das allgemeine Band der Natur. 

4) 1. Johannes 4, 19.