BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Wladimir Korolenko

Die Geschichte meines Zeitgenossen

 

Erster Band

In der Kreisstadt

Lehrjahre

 

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Der gelbrote Papagei.

 

Obwohl mich heute Jahrzehnte von jener Zeit trennen, sehe ich mich auch jetzt noch manchmal im Traum als Schüler des Gymnasiums in Rowno. In meinen Ohren dröhnt immer noch der besondere Klang der eiligen Schulglocke, und ich weiß: jetzt hat sich der alte Pförtner, ein ehemaliger Nikolajscher „Kantonist“, in den Winkel des Gymnasialgebäudes begeben, wo hoch zwischen zwei Pfählen die nickende Glocke hängt, und er zieht an der langen Schnur. Der hartnäckige, eilige, sich gleichsam überschlagende Klang fliegt über den Wasserspiegel der Teiche dahin, dringt in die Wohnungen der Schüler. Alsbald wird dichtes Getrappel eiliger Knabenschritte in den Straßen, über den Holzbrücken vernehmbar und das Anschlagen der Blockgittertüren. Das Getrappel verstärkt sich, dann ebbt es schnell ab; der riesenhafte Inspektor, Stepan Jakowlewitsch Ruschtschewitsch, schreitet über den Schulhof, im Gebäude erstirbt jeder Lärm, nur ich laufe noch als letzter hin oder trete in die leeren Korridore mit dem peinigenden Bewußtsein, daß ich mich bereits verspätet habe, und daß Stepan Jakowlewitsch mich von seiner pyramidalen Höhe mit dem mir wohlbekannten schweren Blick mißt ...

Zuweilen träume ich, daß ich auf der Bank sitze und der Prüfung harre oder darauf warte, zur Tafel vorgerufen zu werden. Dabei quält mich die gewohnte Empfindung des Nichtvorbereitetseins und der Unsicherheit ...

Schon diese Lebendigkeit der Erinnerungen beweist, wie fest und unauslöschlich die Eindrücke sind, die jene Zeit in meine Seele gegraben hat. Kein Wunder. Ich habe auf dem Gymnasium von Rowno fünf Jahre verbracht, dazu kommen zwei Jahre auf der Anstalt in Schitomir. Das macht, gerechnet zu 250 Tagen im Jahre, die ich in der Schule oder in der Schulkirche verbracht habe, und den Tag zu vier bis fünf Unterrichtsstunden, ungefähr 8000 Stunden, während der sich zusammen mit mir Hunderte jugendlicher Hirne und Seelen in unmittelbarer Gewalt von ein paar Dutzend Erziehern befanden. Das verstummte Gymnasialgebäude erscheint mir jetzt als eine Art riesigen Schalltrichters, in dem der pädagogische Chor die Hirne und Seelen von Hunderten künftiger Menschen auf gewisse Art, stimmte. Ich möchte jetzt, und sei es in ganz allgemeinen Zügen, die vorherrschenden Noten jenes Chors hier näher beschreiben.

Noch in Schitomir, als ich in der zweiten Klasse war, hatten wir als Zeichenlehrer einen alten Polen, Sobkiewitsch mit Namen. Er sprach mit uns stets nur polnisch oder ukrainisch, liebte sein Lehrfach fanatisch und betrachtete es als die wahre Basis der menschlichen Bildung. Einmal, als er aus irgendwelchem Grunde über unsere ganze Klasse in Zorn geriet, packte er seine Mappe vom Katheder, hob sie hoch über den Kopf und schleuderte sie mit aller Kraft auf den Boden. Mit seinen blitzenden Augen und der weißen Mähne um den Kopf, ganz in Zorn entflammt, sah er aus wie Moses, der die Gesetzestafeln zerschmettert.

„Ihr Kaffern! Ihr Schöpse! Ihr Esel!“ schrie er auf gut polnisch, „Was sollen alle eure Grammatiken und Arithmetiken, wenn euch die Schönheit des menschlichen Auges ein Buch mit sieben Siegeln ist!“ ...

Dieser Auftritt mag ungeschliffen und lächerlich gewesen sein, uns Knaben war es jedoch damals durchaus nicht zum Lachen. Von der hünenhaften Gestalt des alten Künstlers wehte uns, gedankenlose Bubenschar, wie ein Gewitterhauch die Begeisterung des fanatischen Glaubens an das Studium, an die höhere Weihe der Kunst an ... Wenn der Mann zu einem Schüler trat, der sich beim Zeichnen mühte, und mit seinem großen Finger auf dem Zeichenpapier herumfahrend, sprach: „Aha, so mußt du's machen; begreifst du, Kleiner? Hier rundet es sich. So, so ist's recht; jetzt noch etwas kräftiger, dicker! Aha, siehst du wohl? Jetzt leuchtet es, jetzt sieht es nach etwas aus! ...“ dann schien es, daß unter seinem Finger auf dem Papier von selbst die Formen auflebten und man sie nur festzuhalten brauchte.

Noch eine lebendige Gestalt, gleichfalls aus Schitomir, haftet in meinem Gedächtnis: das ist der Geistliche Owsjankin. Er hatte ganz milchweiße Haare und wundervolle dunkelblaue Augen. In diesen Augen leuchtete fortwährend eine eigenartige gütige Unruhe. Und wenn er manchmal, während ich die Lektion aufsagte, in dieser Weise in meine Augen blickte, dann war es mir, als suche er in mir in liebevoller Sorge nach etwas, was sowohl für mich wie für ihn selbst von höchster Bedeutung war.

Einmal hatte er den Einfall, für seine Schüler eine besondere Vorbereitung zum Empfang des Abendmahles, getrennt von den anderen Kirchenbesuchern, zu veranstalten. Zu diesem Behufe improvisierte er schnell einen Schülerchor unter der Leitung von zwei Popensöhnen, die gerade zu unserer Schar gehörten, und hielt für uns persönlich nach dem allgemeinen Gottesdienst ein besonderes Hochamt ab. Ich glaube, der alte Hirte hatte dabei insgeheim die Hoffnung, wenigstens für diese kurze Zeit unsere Seelen ganz in seine Macht zu bekommen. Uns gefiel der Einfall soweit ganz gut. Die Kirche war zu unserer ausschließlichen Verfügung, sie erschien uns auch in diesen Stunden ganz besonders gemütlich, friedlich und anheimelnd. Weder Aufseher noch Aufsicht waren zu spüren. Allein, sobald die Schüler nach dem Drill eines ganzen Jahres in diese Atmosphäre der Freiheit gerieten, arteten sie auch sogleich nach echter Bubenart aus. Alle wurden von einer besonderen Ausgelassenheit ergriffen, zumal während der Chorübungen, bei denen der Geistliche nicht zugegen zu sein pflegte. Nach einer solchen Übung, während der die Sänger außergewöhnlich viel Unsinn anstellten, gerieten sie einmal ganz und gar außer Rand und Band und sangen beim abendlichen Chor „Vater und Sohn und heiliger Geist“ mit einer keck entstellten Endsilbe. Eine wirklich lästerliche Absicht war sicher dabei nicht im Spiele, vielmehr war es nur das Überschäumen einer kindlichen Ausgelassenheit. Die losen Bengel leisteten sich eher einen frechen Spaß mit dem guten Seelsorger, als daß sie über die Vorstellung von Gott zu spotten gedächten. Nach Schluß des Amtes wurde uns mitgeteilt, daß uns der Geistliche alle bitte, zu bleiben. Wir versammelten uns am linken Klyros. In der schwach beleuchteten alten Kirche wurde es plötzlich feierlich still und traurig. Nach einer Minute trat der alte Owsjankin vor den Altar mit ernstem, gleichsam schuldbewußtem Gesicht. Er schritt auf uns zu und begann:

„Kinder ... meine Kinder ...“

Weiter kam er nicht. Sein milchweißes Gesicht zuckte hilflos, die dunkelblauen Augen verschleierten sich und über die welken Wangen strömten dicke Tränen. Diese Tränen, die nicht Zorn, nicht Drohung, sondern inniger Schmerz ausgepreßt hatte, erschütterten uns ungleich tiefer, als es die beredteste Predigt hätte tun können. Die zerknirschten Sänger stürzten als die ersten auf ihn zu; sie bedeckten mit Küssen seine Hände, seine breiten Ärmel. Darauf drängten sich um den Greis auch die anderen, an der Lästerung unbeteiligten Schüler; wir alle waren von Reue ergriffen, daß auch uns der üble Spaß lustig und amüsant vorgekommen war. Der Greis legte seine Hände auf unsere kurz geschorenen Bubenköpfe, und seine Züge hellten sich allmählich auf. An die Möglichkeit der Strafe für uns war kein Gedanke mehr. Auch ohne dies hatte Owsjankin einen vollen Sieg errungen. Die Vorbereitung zum Abendmahl ging zu Ende unter dem Eindruck dieses Vorfalls, der uns geistig mit dem alten Popen innig verknüpft hatte. Und nie seitdem hat das reumütige Gebet Ephrem Sirins auf mich so tief gewirkt, wie in jenen Tagen, als es für uns von dem weißhäuptigen Owsjankin in der bescheidenen alten Kirche gelesen wurde, während unter der niedrigen Decke der Gesang des ergriffenen Knabenchors ertönte.

In Rowno endlich fand ich noch Überlieferungen von einem Professor der Physik, den ich in dieselbe Kategorie mit meinem Zeichenlehrer und dem guten Popen einreihen möchte. Offenbar war auch der Physiker eine in ihrer Art hervorragende Persönlichkeit, denn die Erzählungen über ihn gingen von Generation auf Generation über. Er war ein Naturphilosoph und Materialist. Nach seiner Meinung waren physikalische Gesetze imstande, alles zu erklären oder sollten es doch sein. Seine Experimente führte er im Unterricht mit solcher Begeisterung aus, als wäre jedes einzelne eine Offenbarung, die den Vorhang vor einem Welträtsel lüftete. Im Lehrerzimmer pflegte sich zuweilen zwischen ihm und dem Schulgeistlichen eine leidenschaftliche Polemik zu entspinnen, in der der Physiker den sechs Schöpfungstagen gegenüber, die der Pope vertrat, die Theorie der geologischen Perioden verteidigte.

Den Künstler Sobkiewitsch hatte man uns schon zum Schluß meines ersten Schuljahres auf dem Gymnasium von Schitomir genommen: die Periode der Russifizierung war angebrochen, der alte Mann konnte es aber nicht fertig bringen, während des Unterrichts russisch zu sprechen, wie sehr sich der Ärmste auch Mühe gab und Zwang antat, – in russischer Sprache wollte sich bei ihm nichts „runden“ und nichts „leuchten“. Überhaupt paßte seine ganze originelle Gestalt gar schlecht in das steife Reglement der staatlichen Anstalt. Der gute Owsjankin wurde gleichfalls durch einen neuen Religionslehrer ersetzt, einen gewissen Solski, einen trockenen und strengen Patron. Der Rownoer Naturphilosoph endlich wurde verabschiedet auf Grund einer Denunziation seines Antagonisten, des Popen, der auf diese Weise das Dogma der sechs Schöpfungstage in seiner Unantastbarkeit wiederhergestellt hatte.

So verschieden jene drei Gestalten waren, sind sie in meiner Erinnerung durch ein gemeinsames Band verknüpft: durch den Glauben an den eigenen Beruf. Ihre Dogmen waren verschieden: Sobkiewitsch hätte wohl vor der Schönheit des menschlichen Auges die Physik so wenig respektieren mögen wie die Grammatik. Dem Popen Owsjankin war die Schönheit des menschlichen Körpers sicher so gleichgültig wie die exakte Naturwissenschaft; der Physiker seinerseits hätte wahrscheinlich auch mit dem guten Owsjankin über die sechs Schöpfungstage leidenschaftlich gestritten. Inhaltlich war der Glaube jener Drei verschieden, doch ihre Psychologie war im Grundwesen die gleiche.

Jetzt möchte ich eine auffällige Lehrererscheinung von ganz anderer Sorte vorführen: den Professor der deutschen Sprache und meinen entfernten Verwandten, Ignaz Franzewitsch Lotozki. Ich war noch nicht einmal im Pensionat, als er aus Galizien nach Schitomir kam. Er besaß das Diplom einer der ausländischen Universitäten, was damals zur Anstellung als Lehrer an den russischen Gymnasien befähigte. Es begab sich, daß einmal bei Rychlinskis in seiner Gegenwart jemand über die Auslandsdiplome sich unehrerbietig ausgelassen hatte. Lotozki erhob sich, verließ das Zimmer, kehrte nach einer Weile mit seinem Diplom in der Hand zurück und zerriß es in kleine Fetzen. Darauf fuhr er nach Kijew und legte eine neue Prüfung bei der dortigen Universität ab.

Nun wurde er an dem Gymnasium von Schitomir angestellt und heiratete eine meiner Tanten. Man war allgemein der Ansicht, daß sie eine ausgezeichnete Partie gemacht hatte. Sehr bald jedoch fiel es sogar uns Kindern auf, daß die lebenslustige muntere junge Frau oft mit verweinten Augen zu uns kam, sich mit unserer Mutter einschloß, ihr irgend etwas unter vier Augen berichtete und dabei weinte. Geschah es aber einmal, daß wir es auf Besuch bei der Tante in Spiel und Ausgelassenheit etwas bunt trieben, dann öffnete sich die Tür vom Arbeitszimmer des Onkels ein wenig und in dem Spalt erschien das peinlich glattrasierte Gesicht mit den glänzenden Glotzaugen. Das genügte, daß wir sofort verstummten, die Tante aber erbleichte und völlig fassungslos wurde. Wenn ich nicht irre, war es damals, daß ich zum ersten Male den Ausdruck „Tyrann“ zu hören bekam.

Bei alledem wurde Lotozki allgemein als ein musterhafter Pädagoge anerkannt, und eine glänzende Laufbahn schien ihm bevorzustehen. Er war einer vom Typus jener „Eingewanderten“, wie sie nachmals unter Tolstoj in unserem Unterrichtswesen allenthalben wimmelten, freilich mit dem Vorzug, daß Lotozki die russische Sprache vortrefflich beherrschte.

Stets tadellos gekleidet, ordentlich rasiert, sauber und akkurat, ohne ein Stäubchen auf der glänzenden Uniform, erschien er zum Unterricht pünktlich auf die Minute und begab sich mit gemessenen Schritten aufs Katheder. Hier hielt er still und warf über die ganze Klasse einen prüfenden Blick aus seinen vorstehenden glänzenden lebhaften Augen. Unter der Wirkung dieses Blickes erstarb alles. Es schien, als könnte ein Professor unmöglich seine Klasse mehr in der Gewalt haben. Das Ideal der Disziplin im üblichen Sinne dieses Wortes schien hier erreicht zu sein. Lotozki war in der Klasse gefürchtet, man bereitete sich für seine Stunden sorgfältiger vor als für irgendeinen anderen Professor, im pädagogischen Rat hatte seine Stimme ein großes Gewicht. Der Blick jedes höheren Visitators verweilte mit Wohlgefallen auf dieser mustergültigen Beamtengestalt mit der strammen und imposanten Haltung.

Und doch! ... Die Schüler hatten schon längst die Achillesferse dieses idealen Pädagogen entdeckt, und kein anderer Professor wurde zur Zielscheibe so zahlreicher und dazu so gelungener Karikaturen wie gerade er. Es war bekannt, daß Lotozki während seiner sechs- oder siebenjährigen Unterrichtstätigkeit keine einzige Stunde hatte ausfallen lassen. Er pflegte zum Unterricht auf die Minute zu erscheinen. Über den Korridor ging er stets in derselben storchähnlichen Haltung, stocksteif mit großen Schritten, von der Klassentür bis zum Katheder machte er stets dieselbe Anzahl Schritte. Auch hatte man die Beobachtung gemacht, daß, wenn es ihm passierte, mit dem falschen Fuß auf die Schwelle zu treten, er einen Schritt zurückmachte und von neuem richtig auftrat, wie ein marschierender Soldat, der aus dem Takt gefallen ist. Auf dem Katheder blieb er stets in derselben Pose ein Weile stehen.

Wehe, wenn in diesem Augenblick ein Schüler eine überflüssige Bewegung machte oder seinem Nachbar ein Wort zuraunte! Sofort streckte Lotozki seinen Arm aus, wies mit einer seltsamen Bewegung des Zeigefingers und des Daumens in den Winkel, wobei er den Namen des Sünders mit einer schroffen Betonung der letzten Silbe rasch hervorstieß und fast alle Vokale verschluckte: „Kr–tschn–kò! ... Wrsch–wskì! ... Abrm–wìtsch! ...“

Das sollte heißen, daß Kiritschenko, Warschawski oder Abramowitsch zur Strafe im Winkel stehen sollten. Im Klassenzimmer verbreitete sich darauf eine absolute, peinigende, bange Stille. In ihr fielen nur von Zeit zu Zeit kurze schroffe Fragen des Lehrers und eilige Antworten der Schüler. Mit einem Wort, sein Unterricht war eine Art pädagogischer Katorga musterhafter Art!

Allein im Zuchthaus werden bekanntlich auch unterirdische Gänge gegraben und Breschen zur Freiheit gelegt. Es zeigte sich, daß auch in dieser unübertrefflichen, abgesperrten und festbesiegelten Alleinherrschaft meines gestrengen Herrn Onkels über die Klasse ganz erhebliche Lücken vorhanden waren ... Es geschah bald nach meinem Eintritt in das Gymnasium, daß während des Namenrufs der Schüler Kiritschenko fehlte. Als Lotozki dessen Namen verlas, erhob sich der Nachbar des Fehlenden, blieb in seltsamer stocksteifer Haltung stehen und sagte ebenso abgehackt in offenkundigster Nachäffung der Manier, des Professors:

„Krtschn–kò nicht ersch–nèn.“ Die Parodie war derart auffällig und dreist, daß ich mit Schreck und Verwunderung meinen Blick auf Lotozki richtete. Allein mein gestrenger Onkel merkte nichts. Er hackte weiter Namen auf Namen. In der Totenstille tönte nur seine metallische Stimme und die kurzen Antworten: „Hier ... hier ... hier ...“ Aber in den Augen der Schüler blitzte ein leises Lächeln auf.

Ein anderes Mal fing Lotozki an, uns die Deklination der Adjektiva in deutscher Sprache auseinanderzusetzen. Die Schüler spitzten sofort die Ohren, und über die Klasse flog ein kaum merklicher Funke der Verständigung. Mein Nachbar stieß mich mit dem Ellbogen an: „Jetzt kommt der Papagei,“ raunte er mir kaum hörbar zu. Die glänzenden Augen Lotozkis blitzten auf, in den Bänken herrschte jedoch bereits wieder Totenstille.

„Der gelb-rote Papa–gei,“ sagte er gedehnt, „Wohlan! Nominativ: der gelb-rote Papa–gei. Genitiv: dès gelb-roten Pa–pa–gà–a–ei–ès“ ...

In der Stimme Lotozkis tauchten eigentümliche vibrierende Noten auf. Er begann zu skandieren mit sichtlichem Genuß an dem singenden Rhythmus. Beim Dativ gesellte sich der Stimme des Lehrers, leise einschmeichelnd und ermunternd, die singende Begleitung der gesamten Klasse zu: „Dèm gelb–ro–ten Pà–pa–gà–a–ei–è...“ Im Gesichte Lotozkis trat der Ausdruck eines Katers auf, den man hinter den Ohren krault. Sein Kopf hing nach hinten über, die große Nase zielte zur Decke, der dünne breite Mund öffnete sich wie bei einer brünstig quakenden Kröte.

Der Plural verlief schon mitten im skandierenden Donner. Das war eine förmliche Orgie des Skandierens. Mehrere Dutzend Stimmen zerhackten den gelb-roten Papagei in Stücke, warfen ihn in die Luft, wiegten ihn, hoben ihn auf die höchsten Töne und ließen ihn auf die tiefsten Noten fallen. Die Stimme Lotozkis war längst vom Schülerchor verschlungen; sein Kopf lehnte auf der Lehne seines Sessels und nur die weiße Hand in der blendenden Manschette klopfte in der Luft den Takt mit dem Bleistift, den er zwischen dem Zeigefinger und dem Daumen hielt. Die Klasse raste. Die Schüler äfften dem Lehrer schon ganz ungeniert nach, lehnten gleichfalls die Köpfe zurück, wiegten sich, schnitten Grimassen. Zwei oder drei Tollköpfe waren sogar auf die Bänke gesprungen.

Auf einmal – kaum war die letzte Silbe des letzten Akkusativs wie abgeschnitten – als die Klasse wie durch Zauberei eine neue Verwandlung aufwies. Auf dem Katheder saß wieder steif, streng und mißtrauisch der Professor, dessen glänzende Augen wie Blitze die Bankreihen entlangflogen. Die Schüler waren wieder wie versteinert. Nur ich blickte verständnislos mit offenem Munde um mich. Kryschtanowitsch stieß mich mit dem Ellbogen an, aber es war zu spät: Lotozki rief scharf meinen Namen und wies mit zwei Fingern in den Winkel.

Darauf vergingen wieder einige Unterrichtsstunden in eiserner „Ordnung“, bis Lotozki auf seinen gelbroten Papagei oder ein anderes hypnotisierendes Wort verfiel. Die Schüler hatten instinktiv ein ganzes System ausgearbeitet, um den Lehrer unmerklich an derartige Worte heranzuschieben. Das war ein Kampf von zweierlei Hypnosen, und der Sieg neigte sich auf die Seite der Masse. Bei Lotozki schien manchmal eine dunkle Ahnung aufzusteigen, daß irgend etwas in seiner Klasse nicht ganz stimmte, und seine Blicke betasteten die Bänke vor jeder Skandierung wie nach derselben mit mißtrauischer Unruhe. Doch die absolute Stille, die in der Klasse herrschte, schläferte seinen Argwohn immer wieder ein. Auch begann der tückische Schülerchor und steigerte sich stets so einschmeichelnd, so vorsichtig und unmerklich ...

Hinter der Glastür des Klassenzimmers tauchten manchmal im Korridor erstaunte Gesichter der Pedelle oder des Inspektors auf, herangelockt durch die seltsamen Schreie des gelbroten Papageis. Schritt jedoch Lotozki nach Schluß des Unterrichts aus der Klasse in das Lehrerzimmer in seiner üblichen reservierten, kühlen und unantastbaren Haltung, im Bewußtsein seiner mustergültigen Korrektheit, dann hatte niemand den Mut ihm gegenüber etwas darüber verlauten zu lassen, daß seine Klasse mitunter merkwürdig an ein Irrenhaus erinnerte.

Einmal kam seine Frau besonders erschrocken zu meiner Mutter und sagte, „Ignaz habe auf dem Gymnasium Unannehmlichkeiten gehabt.“ Offenbar hatte der Inspektor sich endlich entschlossen, „den Herrn Professor darauf aufmerksam zu machen, daß“ usw. Lotozki brauste auf, ganz wie damals, als man über sein ausländisches Diplom zu spötteln wagte, und wurde bald darauf nach Tschernigow versetzt. Es erwies sich jedoch, daß der gelbrote Papagei ihm dahin gefolgt war. Instinktiv fühlte die Schuljugend auch hier die Züge des fatalen Automatismus heraus. Auf die Hypnose der Disziplin reagierte sie mit ähnlicher Einwirkung. Die Schablone fraß unterdessen meinen Onkel immer mehr auf. Sein Gang wurde immer stocksteifer, seine Erläuterungen im Unterricht erstarrten immer mehr in festen Formeln, von denen die Schüler nicht bloß Sätze und Worte, sondern sogar die Betonungen im voraus wußten. Man kopierte ihn mit dreist ehrerbietigen Mienen, und der Papagei donnerte immer lauter und häufiger. Schließlich hat der verhängnisvolle Vogel die glänzend begonnene Laufbahn Lotozkis denn doch kaput gemacht. Er wurde immer wieder aus einem Gymnasium ins andere versetzt und nahm endlich etwa vier Jahre vor seiner Pensionsberechtigung den Abschied.

Natürlich hatte der Mann offenbar eine gewisse Veranlagung von Hause aus gehabt, die der abstumpfenden Wirkung der Schulroutine Vorschub leistete. Bei andern kam diese Wirkung nur nicht so grell wie bei ihm zum Vorschein. Immerhin, wenn ich jetzt an die endlose Reihe von Stunden zurückdenke, die ich in den Mauern des Gymnasiums verlebt habe, so ist mir auch heute noch, als höre ich in der gespannten Stille jener Stunden immer wieder die maniakalischen Schreie des gelbroten Papageis ...

Nehmen wir jetzt den französischen Professor Lumpi vor. Schweizer von Geburt, wurde er durch den unerforschlichen Ratschluß des Schicksals nach Rowno verschlagen und lehrte hier schon an die vierzig Jahre auf dem Gymnasium die französische Sprache. Eine Familie hatte er nicht. Seine ganze Welt war die Klasse, das Lehrerzimmer und die wenigen Schritte vom Gymnasium gelegene Junggesellenwohnung. Seit vierzig Jahren ging er in bestimmten Stunden wie ein Automat die paar Schritte zum Gymnasium und zurück. Es war eine große Seltenheit Monsieur Lumpi mal außerhalb dieser Strecke irgendwo in der Stadt anzutreffen. Russisch konnte er nur radebrechen. Seine Erläuterungen zum französischen Unterricht bestanden in ein paar stereotypen Formeln, die man der Kuriosität halber im Gedächtnis behielt. Immerhin hatte er sich ungeachtet seiner langen Dienstzeit eine beträchtliche Portion Wachsamkeit und Hartnäckigkeit bewahrt, deshalb waren die Unterrichtsstunden der französischen Grammatik, die Lumpi von den Übersetzungen ganz getrennt behandelte, für uns Schüler eine wahre Folter. Durch diese Hülle des Automaten blickte jedoch hin und wieder der Schimmer eines anderen Lebens hervor. Der Mann liebte es, von seiner Vergangenheit zu erzählen. In jeder Klasse gab es denn auch einen Spezialisten, der Monsieur Lumpi aufzuziehen verstand, wie der Uhrmacher eine Uhr aufzieht. Man brauchte nur eine bestimmte Feder in ihm anzurühren, und der alte Herr legte das langweilige Journal beiseite, seine kleinen Äuglein erglänzten im feuchten Glanz, und endlose Erzählungen begannen herabzurieseln.

Jetzt befand man sich im Reich des Nebelhaften, Legendären, phantastischen. Er war in der Schweiz geboren ... Er hatte bei dem großen Pestalozzi studiert ... Pestalozzi war der genialste Pädagoge ... Lumpi war sein bester Schüler gewesen ... Er war der Kanonier der Schülerabteilung ...

All dies gab er zum Besten mit einer kindlich gerührten, süßlich lallenden Stimme, mit zusammengekniffenen Augenlidern, die Handflächen mit steifen Fingern nach oben gekehrt. Die Schüler, die diese ganze Geschichte auswendig wußten (mitunter schon nach der Wiedergabe ihrer Väter zu Hause), ergaben sich derweil allerlei nützlichen Beschäftigungen: sie ochsten ihre Aufgaben für die nächsten Stunden, spielten miteinander um Knöpfe oder Stahlfedern. Der arme Sohn der freien Schweiz aber redete und redete.

Er hatte den großen Napoleon gekannt ... In irgendeiner Notlage hatte Lumpi dem großen Corsen einen wichtigen Dienst als Führer in den Alpen erwiesen ... Sie bestiegen senkrechte Felswände, die Handflächen mit klebrigem Pech beschmiert ... Der große Monarch klopfte ihm aus die Schulter und sagte: „Mon brave petit Lumpi“, das heißt: du bist ein tüchtiges Kerlchen, Lumpi ...

Wenn das Thema zu versickern drohte, brachte der „Uhrmacher“ die afrikanische Wüste aufs Tapet. Lumpi begab sich alsdann gehorsam nach Afrika, wanderte über sengende Sandflächen, sah wie die Boa Constrictor ein junges Rind verschlang. Die Hörner des unglücklichen Vierfüßlers ragten unter der Haut „de ce monstre“ hervor wie Finger in einem Handschuh und wanderten so vor den Augen des Zuschauers vom Hals der Schlange bis zu ihrem Magen ...

Die erlösende Glocke unterbrach die endlose Reise, und die französische Grammatik blieb diesmal glücklich aus dem Spiel. Mitunter passierte es jedoch, daß der Uhrmacher die rechtzeitige Replik verabsäumte. Alsdann erlosch die Phantasie Lumpis, er seufzte tief, seine Hand streckte sich nach dem Journal hin und in den fünf oder sechs Minuten, die noch übrig geblieben waren, fand er Zeit, mehrere schlechte Noten auszustellen. Als erstes Opfer pflegte gewöhnlich der „Uhrmacher“ selbst auf der Strecke zu bleiben.

Der Professor der russischen und altslavischen Sprache, Jegorow, war noch beleibter als Lumpi, nur erinnerte dieser an einen Zylinder, während jener kegelförmig war. Sein Kopf war unverhältnismäßig klein, die Äuglein verschwanden förmlich in den Fettfalten und lugten nur noch als zwei schmale Schlitze hervor, die Nase präsentierte sich als ein winziges Knöpfchen, und das Organ des Herrn Professors war ein dünnes Fistelstimmchen. Wurde man in seiner Stunde vorgerufen, dann hieß es rasch, eintönig und fließend daherzureden, hatte man derart angefangen, dann konnte man weiter faseln, soviel man wollte. Jegorow saß wie eingelullt mit geschlossenen Augen da, ließ seine kurzen Beinchen in der Luft baumeln, und sah mit seinem runden Leibe wie ein chinesischer Götze aus. Der Schüler brauchte aber nur einmal zu stocken oder den Ton zu ändern, sogleich öffnete Jegorow die Augen, warf den Kopf in den Nacken und rief beleidigt:

„Jetzt kommt die Note, die Note, die Note!“

Beim dritten Ruf machte er einen raschen Federzug und im Journal saß die charakteristische Jegorowsche „Zwei“ in Gestalt eines Fragezeichens.

„Die Note ist da, setz dich!“

Hatte er uns eine neue Aufgabe auseinanderzusetzen, dann pflegte er an die erste Bankreihe heranzutreten und seinen Bauch dagegenzustemmen. Zu diesem Behufe beschmierten die Schüler regelmäßig die erste Bankreihe mit Kreide. Im Korridor sprang gewöhnlich der Pedell Ditjatkiewitsch herbei und suchte diensteifrig die weiße Binde vom Jegorowschen Bauch wegzuputzen, doch pflegte er sich gleich in der nächsten Stunde mit einer neuen zu versehen.

Der Geograph Samarewitsch ähnelte am meisten meinem verehrten Onkel Lotozki, nur besaß er weder dessen Glanz noch dessen Selbstbewußtsein. Hager, lang, trocken und gelb, sprach er immer gedehnt, mit einer unangenehm klirrenden Stimme, die halb wie Klage und halb wie Drohung klang. Den Korridor entlang pflegte er ganz wie Lotozki mit langen steifen Storchbeinen zu stelzen, wie wenn er über Pfützen schreiten müßte. Die metallenen Türklinken faßte er nie mit bloßen Händen, sondern durch den Ärmel an. Hatte er das Katheder bestiegen, dann blieb er, wiederum wie Lotozki, erst eine Weile steif stehen, stets in der gleichen Pose und mit der Hand das einzige Haarbüschel fassend, das ihm durch eine seltsame Laune der Natur just an der Gurgel wuchs, wählend sein Gesicht sonst völlig bartlos war. Die Klasse verstummte augenblicklich in banger Beklemmung. Der lange dünne Hals Samarewitschs mit dem vorstehenden Adamsapfel machte in dem breiten Kragen schlangenartige Bewegungen, und seine trockenen galligen Augen liefen tastend über die Reihen der Schüler von rechts nach links. In diesen Augen und diesem Gesicht waren deutlich grundlose Bosheit und zugleich Leiden zu lesen, während des qualvollen Augenblicks wälzte sich über die Klasse, dem stechenden Blick des Lehrers folgend, gleichsam eine Woge der Todesstarre. Es genügte in diesem Moment, daß ein Schüler sich nur regte, sich umdrehte, das Bein bewegte, damit sofort die unheimlich singende Stimme ertönte:

„Primus! Führe diesen da in den Dunkelarrest ab.“

Es gab gar keinen Dunkelarrest, niemand führte uns dahin ab, und wir vertrieben uns die Zeit einfach in irgendeinem leeren Klassenzimmer. Das war, zumal für diejenigen, die ihre Aufgaben nicht vorbereitet hatten, sogar sehr bequem, doch benutzte man diesen Vorteil selten, dermaßen peinigend war der Augenblick der Strafverhängung. Dasselbe Resultat konnte man übrigens auch anders erzielen: man brauchte nur das Taschenmesser aufzuklappen und anzufangen die Nägel zu putzen. Samarewitsch warf sofort verzweifelt seine beiden Arme wie Windmühlenflügel in die Luft, nannte den Schüler einen Schuft und hieß ihn aus dem Klassenzimmer gehen.

Aufgaben wurden für diesen Professor fleißig vorbereitet. Nicht als ob sie uns irgendein Interesse einflößten, es war aber unheimlich, vor ihm dazustehen, ohne antworten zu können. Somit war Samarewitsch als Lehrer bei der Gymnasialobrigkeit im besten Ansehen. Niemand ahnte selbstredend auch nur entfernt, in welches Zerrbild er die Erkenntnis der schönen Gotteswelt für uns im Grunde genommen verwandelte. Einmal hatte ich vor der Prüfung in der Geographie einen merkwürdigen, heute würde man sagen: symbolischen, Traum. Auf einem riesenhaften Fußboden lag eine endlose Landkarte mit farbig ausgemalten Flächen, mit wellenförmigen Linien für die Flüsse, mit schwarzen Punkten für Städte. Ich betrachtete angestrengt die Landkarte, vermochte mich jedoch weder an die Namen der Städte zu erinnern, noch auch daran, welcher von diesen schwarzen Punkten durch Holzhandel berühmt ist und welcher in Wolle und Speck hervorragende Geschäfte macht. Im Mittelpunkt der Landkarte aber ragte auf dünnem schlangenartig sich krümmenden Hals ein Kopf, der mich mit stechenden Augen anstarrte, auf meine Antwort harrend. Das Weltmeer mit seinen Stürmen, die weite schöne Welt, der befruchtende Arbeitsschweiß der schaffenden Menschheit, – all das hatte sich für mich in ein riesenhaftes Blatt Papier mit rätselhaften Flecken, Linien und Punkten verwandelt, deren Bedeutung für mich völlig erloschen war ...

Die trockene Erscheinung unseres Geographen hatte übrigens einen unheimlichen und tragischen Zug. Der Mann hat denn auch ein furchtbares Ende genommen. Aus unserem Gymnasium wurde er in eine andere Stadt versetzt, und dort bekam seine Frau – ein gutmütiges Frauenzimmer, das durch ein fatales Schicksal an einen Monomanen gekettet war – die Genehmigung, Schüler in Pension zu nehmen. Sie wollte das Unternehmen auf eigene Faust betreiben, doch hatte es Samarewitsch bald fertig gebracht, seine erstarrende Wirkung auch auf diese Sache wie einen Albdruck auszuüben. Man erzählte, daß er jeden Abend vor dem Schlafengehen an der Spitze seiner Dienstboten sämtliche Zimmer der Wohnung inspizierte, in alle Winkel hineinblickte, unter Tische und Betten leuchtete. Darauf wurde jedesmal die Wohnung verschlossen, und Samarewitsch pflegte den Schlüssel mit ins Schlafzimmer zu nehmen.

Einmal, das war schon in den siebziger Jahren, ertönte nachts draußen an den Toren dieser abgesperrten Festung kräftiges Pochen. Samarewitsch ging, wieder an der Spitze der Dienstboten, die mit Besen und Feuerhaken ausgerüstet waren, an die Tür, um hier zu erfahren, daß man „im Namen des Gesetzes“ Einlaß forderte. Die Tür wurde natürlich sofort geöffnet, und Gendarmen mit Polizei traten ein. Bei einem der Schüler nahm man Haussuchung vor, worauf der Schüler verhaftet wurde.

Dieses Ereignis hatte unseren Geographen wie ein Keulenschlag, betäubt. Einige Tage lang ging er mit versteinertem Gesicht herum, auf dem ein Todesschreck gemalt war, darauf fand man ihn eines Morgens tot. Trotz allen krankhaften Abscheus vor scharfen Instrumenten hatte er sich die Kehle durchgeschnitten. Die Gendarmen waren ihm offenbar doch noch schrecklicher erschienen als das Rasiermesser ...

Professor der deutschen Sprache Kranz ... Ein kleiner, beweglicher, spindeldürrer Mensch, nichts als Haut und Knochen, dazu ein völlig unbehaartes Gesicht – der richtige Lemur der Sage. Es war, als hätte sich dieser Mensch bewußt zur Aufgabe gestellt, seinen Lehrgegenstand von jedem begreiflichen Sinn zu entblößen und die Schüler dennoch zu zwingen, ihn zu bewältigen. So brachte er es fertig, die ganze Grammatik in das Auswendiglernen von Flexionen zu verwandeln.

„Leòntowitsch,“ – rief er zum Beispiel mit absichtlich falscher Betonung, „dekliniere mal: das Haus.“

Leontòwitsch erhebt sich und fängt an, statt der Worte lauter Flexionen zu radebrechen: „Nominativ: s, Genitiv: s, e, s, Dativ: s, e, Akkusativ: s, Plural, Nominativ: e, r ... usw.

Unterlief dem Schüler dabei ein Fehler, dann fing Kranz sofort an, ihn nachzuäffen, eine ganze Weile Faxen zu machen und das fragliche Wort in jeder erdenklichen Weise zu verdrehen. Umstandswörter pflegte er nur pantomimisch anzudeuten. Wies er mit dem Zeigefinger nach unten, wobei er zugleich die Lippen zu einem Rüssel spitzte, dann hatte der Schüler „unten“ zu antworten. Zielte er mit dem Finger nach der Decke und schnitt er gleichzeitig ein Gesicht, als ob seine gelblichen Augäpfel einem unsichtbaren Vogel im Fluge folgten, so hieß das: „oben“, wenn er rasch an die Wand lief und mit der Handfläche darauf klatschte, so bedeutete das: „an“.

„Du, Soundso,“ fragte er ein anderes Mal, „wie sagst du: ingen, ang oder ingen, ingte?“

Der Schüler war verpflichtet, so rasch wie möglich mit einem gleichen Kauderwelsch zu antworten.

Die Sprache Schillers und Goethes verwandelte sich auf diese Weise für uns in völlig sinnloses Wortgebimmel und Faxenmacherei. Diese Clownspäße waren obendrein trocken und boshaft. Man hatte etwa die Empfindung, als wenn ein behender, tückischer und gefährlicher Affe vor mehreren Dutzend Kindern Gesichter schnitte. Mag sein, daß ein unbeteiligter Zuschauer diese Gebärden und Sprünge ergötzlich gefunden hätte, wir jedoch, die Schüler, fühlten wohl, daß dieses herumhüpfende, gestikulierende und winselnde Wesen mit scharfen Krallen und großer Macht ausgerüstet war ... bis die Glocke ertönte. Ihr Schlußgeläute war denn auch für uns jedesmal wie ein wahrhaft erlösender Hahnenschrei, der den bösen Alb verscheuchte.

Kranz hatte in der Klasse seine Auserlesenen, die er mit besonderer Vorliebe aufs Korn nahm. In der untersten Klasse war sein Opfer ein Schüler mit Namen Kolubowski, ein winziger Stift mit großem Kopf und Pausbacken. Betrat Kranz die Klasse, so pflegte er schon an der Tür eine Grimasse zu schneiden und die Nase zu rümpfen. Alle wußten gleich, was das zu bedeuten hatte, und der kleine Kolubowski erblaßte, während des Unterrichts wiederholte sich dieses Gesichterschneiden immer öfter, worauf sich Kranz endlich an die Klasse wandte:

„Was riecht denn hier so, wie? Wer weiß, wie man auf deutsch sagt: es riecht? Kolubowski, weißt du vielleicht, wie man auf deutsch sagt: es riecht? Komm her, mein lieber Kolubowski ...“ usw. usw.

Der arme Kleine wurde fahl im Gesicht und wußte nicht, ob er dem Geheiß des Professors Folge leisten oder ob er vor dem bösen Clown die Flucht ergreifen sollte. Als Kranz diese Komödie das erstemal vorgemacht hatte, lachten die Jungen unwillkürlich, sowie er sie aber zu wiederholen begann, herrschte in der Klasse düsteres Schweigen. Endlich hielt einmal Kolubowski die Tortur nicht mehr aus, sprang im Weinkrampf aus der Klasse und lief direkt in das Professorenzimmer. Statt aber hier einen zusammenhängenden Bericht über das vorgefallene zu geben, schrie er nur außer sich: „Kranz ist ein Schuft, ein Idiot, ein Schweinhund, ein Lump“ ... Der Inspektor und die Professoren wunderten sich über diese Explosion des Bübleins baß. Als die Sache durch Berichte älterer Schüler ihre Aufklärung fand, bekam Kranz vom pädagogischen Rat wegen der Unziemlichkeit seines Benehmens einen Rüffel.

Seitdem wurde Kranz jedesmal, wenn er die unterste Klasse betrat, vor Wut gelb im Gesicht. Er vermied es, Kolubowski anzusehen, ließ ihn in Ruhe und rief ihn gar nicht mehr vor. Doch das dauerte nicht lange, und wagte er auch in der Folge nicht, die Komödie im ganzen Umfang zu wiederholen, so rümpfte er wenigstens jedesmal, wenn er den Kleinen zum Katheder vorrief, die Nase und schnitt allerlei Gesichter.

Nun ein anderer Typus: der alte Radomirezki. Ein gutmütiger Greis, schlecht rasiert, mit einer raubvogelartigen Höckernase, schrie er stets in den höchsten Tönen; von mittleren Stimmregistern machte er, soviel ich mich erinnere, nie Gebrauch. Trotzdem hatten wir Jungens gar keine Furcht vor ihm. Er gab in den höheren Klassen den auf dem Aussterbeetat stehenden Unterricht in Latein, in den unteren Klassen aber lehrte er die russische und altslawische Grammatik. Es schien, als sei diesem Menschen eine Hälfte der Geistesgegenwart vor zu langem Gebrauch abhanden gekommen, und er sehe und höre vieles, was um ihn vorging, einfach gar nicht mehr, als habe er wie der Staatsanwalt bei dem Satiriker, Saltikow, „ein schlummerndes Auge“

„Pogonowski!“ schrie er z.B. zornig zu Beginn der Stunde. Die Klasse hatte sich verabredet, an diesem Tage nicht zu antworten, Pogonowski erhebt sich und sagt in geschäftigem Ton:

„Herr Professor, ich habe mich für heute nicht vorbereitet.“

„Bist stockdumm, kriegst einen Stock als Note 1) und steh zur Strafe wie ein Stock bis zum Schluß der Stunde!“ ruft drohend Radomirezki. Im Journal steht eine Eins, und der Schüler stellt sich gehorsam an die Wand, die Arme stramm an den Seiten, um möglichst einen „Stock“ darzustellen.

„Pawlowski!“

„Herr Professor, ich habe mich für heute nicht vorbereitet.“

„Steh wie ein Stock bis zum Schluß des Unterrichts. Auch du, Asinus, kriegst eine Eins.“

Der Asinus begibt sich an dieselbe Wand, schiebt den Pogonowski mit der Schulter weiter und stellt sich stocksteif an dessen frühere Stelle hin. Der Dritte schiebt die beiden noch weiter ab, und so steht bald eine Reihe „Stöcke“ die ganze Wand bis zur Tür entlang. Auf den leeren Bänken bleibt ein Dutzend Schüler sitzen, die nicht mehr vorgerufen werden, und denen der alte Herr ruhig den Unterricht erteilt, in völliger Vergessenheit der übrigen. Inzwischen öffnet der erste „Stock“ sachte die Tür und entwischt in den Korridor. Ihm nach der zweite, dritte ... Nach einigen Minuten sind alle im Freien und

spielen mit Hingebung in einem verborgenen Winkel des Gartens Ball, gedeckt durch die polnische Kapelle vor den Fenstern des Gymnasiums. Übrigens pflegte der Pedell Ditjatkiewitsch, dem die Eigentümlichkeiten des Unterrichts bei Radomirezki sehr wohl bekannt waren, von Zeit zu Zeit eine Expedition zu unternehmen und die Ausreißer einzufangen. Dann öffnete sich plötzlich die Klassentür, und die „Stöcke“ nahmen, von dem humpelnden Pedell vorangetrieben, einigermaßen beschämt wieder an der Wand Aufstellung. Der gute Radomirezki aber schob in solchen Fällen seine große Hornbrille auf die Stirn und blickte mit Erstaunen auf den unbegreiflichen Vorgang.

Der obigen Kollektion füge ich nicht ohne Zögern noch eine Gestalt: den Professor der Literatur, Mitrofan Alexandrowitsch Andrijewski hinzu. Seinem geistigen Innenleben nach näherte er sich eigentlich mehr jenem Typus, den ich zu Beginn dieser Skizzenfolge geschildert habe. Sein Herz barg eine eigene stille Leidenschaft, ich möchte fast sagen: einen Glauben. Seine ganze Muße, alle seine Gedanken und Gefühle waren nämlich einer endlosen Dissertation über die „Weise vom Igorschen Regiment“ gewidmet. In ewiger Grübelei über die rätselhaften Ausdrücke dieses altslawischen Epos versunken, wandelte er über die Straßen des schläfrigen Städtchens, ohne im geringsten zu merken, was um ihn her vorging und bisweilen selbst ohne mehr zu wissen, zu welchem Zwecke er sein Haus verlassen hatte. Geschah es etwa, daß einer seiner Gummischuhe unterwegs im Straßenkot stecken blieb, dann ging Andrijewski ruhig weiter, ohne den Verlust zu gewahren. Einmal habe ich selbst beobachten können, wie im Wind, der an den Enden seiner Tuchkapuze zerrte, ein Zipfel dieser letzteren sich in der Spalte des Zaunes, an dem Andrijewski vorbeiging, verfangen hatte. Der arme Träumer blieb bei der unerwarteten Störung in seiner sinnenden Wanderung stehen, hielt eine Weile still, versuchte, weiterzugehen, als aber das Hindernis nicht nachgab, wickelte er seelenruhig die Kapuze vollends vom Hals, überließ sie dem Zaun und setzte erleichtert seinen Weg fort.

Die Schüler liebten ihn mit einer eigenen nachsichtigen Zärtlichkeit, lernten aber seinen Gegenstand gar nicht, seine Erläuterungen waren denn auch reichlich flüchtig und konfus. Nur in Fällen, wenn sich ein Beispiel aus seiner geliebten „Weise vom Igorschen Regiment“ heranziehen ließ, pflegte er sich zu beleben. Die Dissertation wuchs sich ins Uferlose aus, dennoch konnte er sich nicht entschließen, sie dem Druck zu übergeben, ehe er hinter den Sinn einiger besonders mysteriöser Stellen gekommen war.

Zuweilen konnte er sehr fesselnd reden, das passierte aber selten in den Unterrichtsstunden, wir liebten es sehr, ihn in einen Disput zu verwickeln, wenn wir ihn irgendwo auf der Straße überfallen konnten. In engem Ring um ihn geschart, überschütteten wir ihn mit Fragen und stellten selbst manchmal die erstaunlichsten Hypothesen über die Deutung dieses oder jenes rätselhaften Ausdrucks der „Weise“ auf. Hatte er schließlich den Spaß satt, konnte aber die lästige Bande, die ihn umzingelte, nicht loswerden, dann pflegte er schließlich sein Notizbuch und Bleistift aus der Tasche hervorzuziehen, unsere Gesichter aufmerksam zu betrachten und mit seinem gutmütigen, verträumten Lächeln zu sagen:

„Ah, du bist es, Motschalski ... wart, ich stelle dir für Montag eine Eins.“

Und er trug mit vollem Ernst in sein Notizbüchlein eine Note ein. Im allgemeinen behandelte er die Noten mit spöttischer Geringschätzung und es kam ihm nicht darauf an, auf Bitten der Klasse im Journal schlechte Noten nachträglich in mittlere oder sogar in gute umzukorrigieren. Hingegen in bezug auf die auf der Straße gestellten Noten pflegte er eine unerwartete Standhaftigkeit zu entwickeln.

„Mitrofan Alexandrowitsch,“ schreit die Klasse, „aber diese Eins haben Sie ja auf der Straße gestellt!“ ...

„A–a,“ lächelt Andrijewski, „auf der Straße! Nun, was folgt denn daraus? Kenntnisse kommen nicht immer im Klassenzimmer zur Geltung, Unwissenheit aber kommt an jedem Ort zutage ... was hat er damals über die und die Stelle der ‚Weise‘ gefaselt, wie?“

Zur Antwort deklamiert die ganze Klasse im Chor eine auf den Fall passende Stelle aus der geliebten „Weise“. Andrijewski strahlt ...

„A–a–a“, sagt er, gänzlich versöhnt, und die Eins wird gestrichen.

Hinter dem zerstreuten Lächeln dieses Mannes verbarg sich zweifellos ein kindliches Gemüt und vielleicht sogar eine mehr als durchschnittliche Intelligenz, die sich nur in der völligen geistigen Vereinsamung und der tödlichen Öde des Milieus in die unwegbaren Dickichte der „Weise vom Igorschen Regiment“ rettungslos verirrt hatte. Diese Gestalt war mit ihrer harmlosen Schrulle an uns vorbeigeglitten, ohne eine tiefere Spur in unserem Dasein zu hinterlassen, aber ohne auch nur einmal in Einem von uns irgendeine böse oder feindselige Regung wachgerufen zu haben. In seinem sinnenden Lächeln leuchtete ein stiller Humor, in den Unterrichtsstunden ließ er manchmal ein auffallend treffendes Urteil oder ein gelungenes Witzwort fallen. Aber auch den besten Schülern war es nicht gelungen, aus seinem Unterricht die geringste Vorstellung von der Theorie der Literatur davonzutragen ...

Es versteht sich, daß es außer maniakalischer Exemplare von der Art Lotozkis oder Samarewitschs in dem pädagogischen Chor, der unseren Hirnen und Seelen den Ton angab, auch mittlere Stimmen gab, die ihre Partituren mehr oder minder anständig vortrugen. Diese verrichteten auch natürlich die Hauptarbeit: sie pumpten gewissenhaft und ausdauernd die formalen Kenntnisse aus den Lehrbüchern in unsere Schädel. Nicht mehr und nicht weniger. Das waren in ihrer Art pädagogische Grammophone.

An der Spitze dieser Kategorie lebt in meiner Erinnerung die Charaktergestalt des Professors der Mathematik Stevan Iwanowitsch Tyß auf. Das war ein Mann mit sehr häßlichen, aber intelligenten Gesichtszügen, die durch übergroße Zähne verunstaltet, aber durch tiefe braune Augen einigermaßen verschönert waren. Er war stets tadellos, ja stutzerhaft gekleidet, hatte eine würdige Haltung, unterrichtete gleichmäßig, ohne Begeisterung, doch so, daß sein Unterricht Hand und Fuß hatte, war streng beim Fragen und stellte gerechte Noten. Die Schüler versagten ihm ihre Achtung nicht und bereiteten die Aufgaben für ihn fleißig vor. Diesem Lehrer verdanke ich auch, daß mathematische Aufgaben für mich aufhörten, ein undurchdringliches Mysterium zu sein. Sein würdiges, zurückhaltendes Wesen hatte etwas Anziehendes und in uns Knaben keimte sogar für den ernsten Mann eine gewisse Sympathie, die jedoch durch seine kühle zugeknöpfte Art abgewiesen wurde. Uns Schülern und dem Lehrfach gegenüber beobachtete Tyß dieselbe Korrektheit. Der Lehrgegenstand war ihm einunddasselbe, jahrein, jahraus, wir Schüler waren ihm stets nur verschiedene Stufen der Aufnahmefähigkeit für den Gegenstand. Weder in diesem, noch in uns fand der Lehrer irgendetwas vor, was ihm das Dasein in dem dumpfen Städtchen, zwischen verschlafenen Teichen, hätte erhellen können. Man erzählte, daß sein Innenleben hauptsächlich durch die Liebe des häßlichen Gatten zu einer schönen Frau und durch die Qualen einer gebändigten Eifersucht in Anspruch genommen war. Vielleicht war es auch aus diesem Grunde, daß er sich so elegant kleidete und seinen schönen kastanienbraunen Bart auf verschiedene Art stutzen ließ. Diese Beobachtungen machten uns indes nicht klüger, und wir Jungen unsererseits schienen dem Lehrer auch herzlich wenig Interesse einzuflößen. Von demselben Tyß soll übrigens ein bitteres Wort herrühren, in dem er seine Lehrererfahrungen zusammenfaßte: „Man quält sich erst selbst drei Jahre lang ab, dann lernt man drei Jahre lang unterrichten, dann quält man drei Jahre lang die Schüler, und dann ist man reif für die Rumpelkammer ...“

Ich kannte ihn noch in der Übergangsphase. Er lehrte noch ziemlich ernst und quälte seine Schüler noch nicht, begann aber schon leise geistig herunterzukommen und fing bereits an, wie man munkelte, geistigen Getränken zuzusprechen ...

Nach Tyß erstehen in meiner Erinnerung verschiedene weniger charakteristische Gestalten desselben mittleren Kalibers. Mit gemeinsamen Kräften trieben sie uns mit mehr oder weniger Erfolg programmäßig vorwärts, indem sie unseren Hirnen boten, was ihnen nach dem Buchstaben der Vorschrift zukam. Allein diese geistige Ernährung wurde ungefähr in der Art ausgeführt, wie man Mastgänse nudelt, indem man den armen Vögeln gewaltsam die widerliche Nahrung in den Hals stopft, die in der geforderten Menge freiwillig aufzunehmen sie sich weigern.

Jene zarte Saite hingegen, die den Prozeß des Lernens mit der echten Wißbegierde verknüpft, ihn heiligt, erhebt und belebt, sie wurde nie oder nur selten, wie durch Zufall berührt. Originelle Lehrergestalten mit eigenem Innenleben fanden in dem offiziellen Rahmen, der eine dogmatische Einförmigkeit erforderte, keinen Platz. Die stärkeren Persönlichkeiten pflegten deshalb bald von selbst auszuscheiden, die schwächeren hingegen paßten sich allmählich dem Rahmen an, und das Leben in dem schläfrigen Städtchen, im Schatten der Schloßruine tat das übrige dazu. Erst lebte so ein junger Professor den Traum von selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten, von einer künftigen Versetzung in eine andere Wirkungssphäre, dann heiratete er, fand nach und nach Geschmack an der einlullenden Atmosphäre der Schläfrigkeit, am Kartenspiel im Klub, an Spaziergängen ins Wäldchen vor die Stadt, am Klatsch, an Besuchen in dem kleinen Keller von Weintraud', den die Herren Lehrer in gegenseitiger Umarmung mit etwas schwankenden Schritten zu verlassen pflegten, oder an Besuchen in einem gewissen kleinen Häuschen hinter dem städtischen Wäldchen, wo unsere Erzieher manchmal von Zöglingen älterer Klassen abgelöst wurden ...

Einer der besten Lehrer, die ich im Leben angetroffen habe, Awdjew, auf den ich noch weiterhin zu sprechen komme, wandte sich in der ersten Stunde seines zweiten Unterrichtsjahres an die Klasse mit dem folgenden scherzhaften Vorschlag:

„Hat vielleicht einer von Ihnen, meine Herren, die Notizen meiner ersten Vorlesung vom vorigen Jahr bei der Hand? Sie haben sie alle? Vortrefflich! Nun prüfen Sie mich mal, bitte. Ich werde vortragen, Sie aber vermerken die Sätze, die ich genau so wiederhole, wie ich sie im vergangenen Jahr vorgetragen habe.“

Er fing an, im Klassenzimmer auf- und abzuwandeln und dabei die Einleitung zur Literaturgeschichte zu improvisieren, indes wir das Vorgetragene mit den Notizheften, die wir in der Hand hielten, verglichen. Wir mußten ihn dabei alle Augenblicke unterbrechen, da er von seinem vorjährigen Konzept abwich und den Vortrag ganz anders konstruierte. Nur einmal, glaube ich, hatte jemand einen genau wiederholten Ausdruck feststellen können.

„Nun, das geht noch hin,“ rief Awdjew in heiterer Laune nach Schluß seiner „Prüfung“. Und dann mit einem Seufzer:

„Noch zehn Jahre, und ich werde alljährlich Wort für Wort dasselbe herunterleiern. Ach meine Herren, meine Herren! Sie lachen über uns Lehrer und ahnen gar nicht, was dies im Grunde für eine Tragödie ist. Zu Anfang ist alles so lebendig! Man lernt noch selbst, sucht nach neuen Gedanken, nach farbigen Ausdrücken. Dann vergeht ein Jahr nach dem anderen. Das Innere erstarrt allmählich, und man wird selbst langsam zu einer steifen Schablone“ ...

Sehr richtig. Der Lehrer erstarrt allmählich und wird im besten Falle zu einem Grammophon, das mit einer Durchschnittsstimme und einem Durchschnittserfolg die Kenntnisse aus den Lehrbüchern herunterleiert. Am grellsten aber ragen aus dem allgemeinen Chor die kreischenden Falsettstimmen und die schrillen Dissonanzen der von einer Manie Besessenen hervor, die schließlich dem gelbroten Papagei rettungslos zum Opfer fallen.

Wer kann den Einfluß dieses unseligen Vogels auf das Leben und die Schicksale von Generationen berechnen, die Reihe um Reihe durch unsere Mittelschule gejagt werden? ...

 

*  *  *

 

Die Direktoren wechselten bei uns ziemlich häufig, als Inspektor hingegen hatten wir lange Zeit hindurch denselben Stepan Jakowlewitsch Ruschtschewitsch, der später zum Posten des Direktors aufrückte.

Das war auch eine charakteristische, beinahe symbolische Erscheinung. Ein vierschrötiger Koloß in lose hängendem Uniformrock und unendlich weiten Beinkleidern, stellte er eine Art Beamtenmassiv dar, mit einem Gesicht, das wie in Eichenholz gehauen und von graumeliertem Backenbart im damaligen Beamtenstil eingerahmt war. Seine Stimme war ein gewaltiger Grundbaß, und auf allen diesen rein dimensionalen Vorzügen basierte hauptsächlich seine pädagogische Autorität.

Hatte sich ein Schüler etwas zuschulden kommen lassen, dann wurde er gewöhnlich in das Zimmer des Herrn Inspektors gerufen. Die Strecke von der Türschwelle bis zum Tisch, an dem der Gestrenge stand, mußte man alsdann unter seinem schweren hypnotisierenden Blick durchmessen, unter einem Blick, der das Opfer gleichsam mit einer dicken Schleimschicht überzog und es vollständig paralysierte. Die Füße blieben förmlich am Boden kleben, man wagte gar nicht mehr frei einherzugehen, aber ein noch ärgeres Verbrechen wäre es natürlich gewesen, stehenzubleiben. Man senkte unwillkürlich den Blick, und doch fühlte man, ohne aufzublicken, irgendwo in der Nähe über sich das enorme, fast völlig ausdruckslose Antlitz, die großen stumpfgrauen Augen und den graumelierten Backenbart. Man hatte die Empfindung, als wäre man von irgendeiner Elementargewalt zermalmt, war man am Tisch angelangt, so folgte erst ein Augenblick banger Stille, darauf eine Frage im tiefsten Baß und eine schüchterne Antwort. Dann richtete sich der Koloß plötzlich zu seiner ganzen Größe auf, und irgendwo in den oberen Regionen entlud sich auf einmal ein orkanartiges Gepolter. Meist pflegte Ruschtschewitsch dabei nur irgendwelche zwei, drei nichtssagende Sätze zu schmettern, der Effekt lag einzig in seiner erdrückenden Kolossalfigur und in seiner Donnerstimme. Am schrecklichsten war stets der erste Augenblick der Strafpredigt: es war, als stände man unter einem berstenden Felsen: man verspürte unwillkürlich das Bedürfnis, den Kopf mit den Händen zu schützen, zu verschwinden, in den Erdboden zu versinken. In den Karzer eilte man daraufhin mit Freude, als ginge es in einen rettenden Hafen.

Späterhin, in den oberen Klassen, wenn der körperliche Kontrast zwischen der Gestalt der Schüler und des Direktors einigermaßen gemildert war, schwand auch die erschütternde Wirkung des Mannes. Im Grunde genommen war er, wie ich mich nachmals überzeugte, kein böser, eher sogar ein gutmütiger Mensch. Er war jedenfalls schon insofern besser als die durchschnittlichen Direktoren der späteren Zeit, als zu seiner Zeit die Verfolgung des „aufrührerischen Geistes“ unter den Schülern, die „schwarzen Listen“ und die ganze abscheuliche Gesinnungsriecherei in der russischen Schule noch nicht in so hohem Maße üblich waren. Der ganze Fehler des guten Ruschtschewitsch bestand bloß darin, daß er nicht im mindesten zum Erzieher geschaffen und daß seine körperliche Massivität sein einziger Trumpf im Kampfe wider Unordnung und Disziplinlosigkeit war. Der unermüdliche Kleinkrieg mit diesen Untugenden bildete für ihn wie damals im allgemeinen den Grundton des Schullebens.

Schon am frühen Wintermorgen, kaum daß die kleinen Lichter in der feuchten Dämmerung hier und dort zu zwinkern begannen, pflegte sich aus dem länglichen zweistöckigen Gymnasialgebäude eine kleine humpelnde Gestalt zu stehlen, die, nachdem sie nach allen Seiten Umschau gehalten hatte, in die Dunkelheit der Straßen tauchte. Der Pedell Ditjatkiewitsch war es, ein wackerer Jäger vor dem Herrn ...

Schüler, die in Pensionaten wohnten, waren nach dem Reglement verpflichtet, schon um 7 Uhr in der Frühe an ihren Tischen zu sitzen und Schularbeiten zu machen. Dieses Gebot wurde selten eingehalten, und der Hauptreiz des gesetzwidrigen Morgenschlummers lag gerade in dem Bewußtsein, daß irgendwo im Nebel der Schnüffler „Didonus“, über hölzerne Brücken humpelnd, mit seinen Gummischuhen im Straßenschmutz versinkend, herumschleicht und vielleicht in diesem selben Augenblick von der Straße aus ins Fenster hineinspäht. Weder Schmutz noch Nässe, weder Regen noch winterlicher Schneesturm vermochten nämlich den unermüdlichen Spion von seinem Kriegspfade abzuschrecken. Im Gegenteil, er wußte wohl, daß bei schlechtem Wetter der verbrecherische Morgenschlaf die Schüler mit besonderer Macht unterzukriegen pflegte, und daß man sie dann am ehesten erwischen konnte. Fand er, von außen ins Zimmer hineinblickend, alles in vorschriftsmäßiger Ordnung, dann trollte er enttäuscht weiter wie ein Jäger, der einen Blindgänger abgegeben hat. Im umgekehrten Falle pflegte er plötzlich heiter, mit strahlenden Augen am Orte des Verbrechens in der Tür zu erscheinen und mit freundlicher Stimme das „Wohnungsjournal“ zu erbitten, um den „Tatbestand“ einzutragen.

Bemerkte er auf seinen Frühjagden irgendwo in der Dämmerung die Kolossalfigur des Inspektors Ruschtschewitsch, dann stellte er sich für ihn gern auf Posten und wies ihn auf Quartiere unverbesserlicher Langschläfer hin. Stepan Jakowlewitsch pflegte alsdann mit finsterer Feierlichkeit ins Zimmer des Schülers zu treten und sich am Bette des Unglücklichen aufzupflanzen. Bis heute liegt mir noch der Schreck des jähen Erwachens unter diesem unabwendbaren Blick in den Gliedern ....

Waren die Schüler nach dem Gymnasium gegangen, dann schlich Ditjatkiewitsch in ihre leeren Zimmer, schnüffelte in den Koffern herum, beschlagnahmte Portzigaretten und trug über den gesetzwidrigen Befund genaue Notizen im Journal ein. Rauchen, „verbotene Bücher“ (und das waren damals: Pissarew, Dobroljubow, Nekrassow, – von revolutionärer Literatur hatten wir in Rowno noch keine Ahnung), Baden außerhalb der obrigkeitlich genehmigten Stellen, Bootfahren, Spazierengehen nach 7 Uhr abends – das waren die Hauptvergehen unseres Strafkodex. In der Abstufung ihrer Strafbarkeit kam wieder der tote Automatismus des ganzen damaligen Schulsystems zum Ausdruck. Die Verbrechen wurden gewertet nicht nach dem ihnen anhaftenden sittlichen Makel, sondern nach der Mühsal, die ihre Feststellung den obrigkeitlichen Spähern verursachte. In der Stadt und in der Umgegend gab es eine Menge Teiche und Flüßchen, das Bootfahren war aber den Schülern verboten und zum Baden war ihnen nur eine Art Pfütze angewiesen, in der man Flachs einzuweichen pflegte. Es versteht sich, daß die Schüler sowohl die verbotenen Bootfahrten unternahmen wie auch in den Flüßchen oder unter Mühlenschleusen, im munter rauschenden und spritzenden Wasserschwall badeten. Mitunter erschien plötzlich mitten im schönsten Baden, während wir sorglos tauchten, neben dem Badehaus des Polizeichefs, über dem Hügelabhang, im hohen Roggen, eine blaue Mütze, eine zwerghafte Gestalt, und der „hinkende Bote“ humpelte eilig den Fußpfad hinab, wir pflegten in solchen Fällen schnell unsere Kleider zu ergreifen und wie Flüchtlinge vor einem Tatarenüberfall ins Schilf zu stürzen. Der lahme Pedell hüpfte dann am Ufer hin und her wie eine Henne, die Entlein ausgebrütet hat, rief aufs Geratewohl Namen, versicherte, daß er uns alle sehr wohl erkannt habe und forderte uns auf, uns zu ergeben, wir blieben jedoch im Schilf hocken und froren in unserem Adamskostüm bis wir blau wurden, es passierte aber nur selten, daß wir uns dem Feind ergaben. War es dem Pedell hingegen gelungen, sich etwa der Kleider der Badenden zu bemächtigen, dann blieb natürlich nichts anderes übrig, als sich unter seiner Aufsicht anzukleiden und ihm stracks zum Inspektor zu folgen, von da aus aber ebenso direkt in den Karzer zu wandern. Und jedesmal entsprach das Ausmaß der Strafe nicht etwa der Schwere des Verbrechens, das schließlich an sich harmlos genug war, sondern dem Ausmaß der Anstrengungen, die es den spionierenden Pedell gekostet hatte, die Festnahme der Schuldigen zu bewerkstelligen.

Es war desgleichen den Schülern verboten, nach 7 Uhr abends ihre Wohnungen zu verlassen, so daß mit dem Sonnenuntergang das kleine Städtchen mit seinen Gassen und Gäßchen sich für die Schuljugend in ein gefährliches Gelände voller Hinterhalte und Fallen, in einen Schauplatz plötzlicher Überfälle und mehr oder weniger geschickter Rückzüge verwandelte. Besonders gefährlich war das enge Seitengäßchen, das die beiden Parallellinien der Gymnasialstraße und der Pappelstraße verband. An dunklen Herbstabenden konnte man hier sehr leicht plötzlich auf den „Didonus“ stoßen oder, was noch schlimmer, dem riesenhaften Inspektor selbst ins Garn laufen, der dort manchesmal regungslos an die Wand gedrückt stand, um beim leisen Geräusch vorsichtig nahender Schritte eines Schülers plötzlich dem ahnungslosen kleinen Verbrecher mit der Blendlaterne direkt ins Gesicht zu leuchten. Das waren jedesmal erschütternde Erlebnisse, die am anderen Morgen in den Klassen lebhaft besprochen zu werden pflegten.

Übrigens habe ich jenem Kleinkrieg mit der Obrigkeit eine aufrichtig dankbare Erinnerung bewahrt. Das Gymnasium hatte es nicht verstanden, den Unterricht für die Schuljugend einigermaßen interessant zu gestalten; unsere Pädagogen verstanden es nicht und nahmen sich nicht einmal die Mühe, jenen Überschuß an Nervenkraft, an jugendlichem Temperament irgendwie nutzbar zu machen, der nach dem Büffeln über den Lehrbüchern und der mechanischen Teilnahme an dem langweiligen Unterricht in uns Knaben übrig blieb. Man hätte vor Langerweile vollends erstarren oder zur reinen Lernmaschine werden können – was übrigens bei vielen Schülern auch tatsächlich der Fall war – wären nicht jene Episoden des eigenartigen ständigen Kleinkriegs mit der Obrigkeit gewesen, der sich als eine Art Sport ausgebildet hatte und einige Abwechslung in die tödliche Öde des Schülerdaseins brachte.

Mit ganz besonderer Dankbarkeit aber gedenke ich der großen Teiche der Stadt Rowno, ihrer langsam sich mit Tang überziehenden glatten Flächen und der schläfrig von einem Teich zum anderen rinnenden Verbindungsflüßchen. Sommers über pflegten wir in diesem Wasserreich wie eine Seeräuberbande trotz aller Verbote des Reglements lustig in Booten herumzurudern, wobei alles darauf ankam, die ungedeckten Stellen rasch zu durchschneiden, in gefährlichen Augenblicken mit dem Fahrzeug ins Schilf zu verschwinden, unter einem Brücklein still niederzukauern, während auf demselben der humpelnde Gang des lahmen Pedells oder die schweren Schritte des Inspektors ertönten.

Im Herbst aber, wenn die Teiche sich mit einer dünnen Eiskruste zu überziehen begannen, verfolgten wir Buben mit größter Ungeduld ihre fortschreitende Vereisung. Bis heute noch habe ich den hellen klirrenden Ton vom Fall der Prüfsteine im Ohr, die wir vom Ufer auf das dünne Eis zu werfen pflegten, um seine Dicke festzustellen. Das Eis wird nach und nach fester, schon können darauf die Schwäne aufrecht stehen, die man bald in ihren Häuschen einwintern wird. Dann schnallen wir Beide, mein Bruder und ich, als die Ersten unsere Schlittschuhe an und versuchen auf die Gefahr hin, ins Wasser zu stürzen oder in den Karzer zu wandern, einen Eislauf. Etwa eine Woche nach unseren ersten Probefahrten läßt sich gewöhnlich feierlich der riesenhafte Stepan Jakowlewitsch vom Ufer aufs Eis herab, der Pförtner Sawelij versucht das Eis mit Brechstangen und endlich, endlich wird das Schlittschuhlaufen offiziell gestattet.

An jedem Nachmittag kreisen denn auch und gleiten auf dem Teich Hunderte munterer Knaben und Knäblein, laufen zusammen, trennen sich, purzeln, tummeln sich unter geschäftigem Lärm und Lachen. Zwischen dem Kroppzeug bewegen sich auf Schlittschuhen mit schwerfälliger Grazie, als wie Hechte unter kleinen Fischlein, die Herren Professoren. Da schiebt der überlebensgroße Petrow wie der schiefe Turm von Pisa, da ist sogar unser zylindrischer Franzose, Monsieur Lumpi, der zwar ohne Schlittschuhe, aber mit feuerrotem Gesicht herumtrippelt und erzählt, wie sie in der Pestalozzischule Schlittschuh liefen. Der deutsche Professor Gluck konnte es lange nicht lernen, auch nur auf den Schlittschuhen zu stehen, und hatte sich eigens welche mit Doppelschienen bestellt. Zum Stehen sind solche Schlittschuhe sehr bequem, zum Wenden aber beim Lauf sehr beschwerlich. Der kräftige Wind ergreift nun die schmächtige Gestalt des Deutschen in seinem dicken Pelz und treibt sie auf der spiegelglatten Fläche direkten Wegs zum Flüßchen hin. Wir rufen ihm warnend zu, dort sei's gefährlich. Herr Gluck fuchtelt mit den Armen, sein Pelzmantel öffnet und bläht sich wie ein Segel. Im nächsten Augenblick ist der Unselige schon auf dem verräterischen dunklen Fleck, das Eis kracht unter ihm, und der hilflose Pädagoge plumpst richtig ins Wasser, zum Glück an einer seichten Stelle. Die Knirpse binden alsdann rasch ihre Tuchkapuzen zu einer Art Rettungsseil zusammen, stellen sich in einer Reihe auf, der leichteste von den Bengeln gleitet zur Unfallstelle hin und wirft dem Verunglückten das Ende des improvisierten Seils hin. Dann schleppt die ganze lose Bande unter Kommandorufen, Gesang und lautem Hallo den nassen Erzieher auf eine trockene Stelle ...

An besonders schönen Wintertagen erscheinen auch Bürger und Bürgerinnen des Städtchens auf der Eisbahn. Zuweilen kommt, von ihrer Schwester und Mutter begleitet, auch sie, das Idol so manches jugendlichen Herzens, das bei ihrem Anblick unter dem grauen Uniformrock stürmisch zu schlagen beginnt, – so ach, nicht minder dasjenige meines armen Zeitgenossen ... Man schiebt ihr um die Wette einen Sessel hin .... Der Glücklichste reißt den Sessel aus dem Haufen der Nebenbuhler an sich .... Dann folgt ein sausender Lauf, das Klingen der Stahlschienen auf dem Eis, ein schneidender Wind, gemischt mit einem leisen Duft des Parfüms, und dicht vorn ein Köpfchen, das sich vor Kälte und Angst in den Muff drückt .... Der enorme Teich kommt einem in diesen Augenblicken so klein und eng vor, – kaum war man losgesaust, als auch schon, leider, das Ufer da ist ....

Nun dunkelt es. Zwei Pförtner, der Pedell und der Inspektor, marschieren um den Teich herum und treiben die Saumseligen nach Hause. Die Eisbahn leert sich .... Hinter dem dichten Schilf steigt das silberne Gesicht des Mondes auf und streift mit seinem kalten Lichte die Silhouette der Schloßruine. Die weiße Eistafel funkelt, hie und da kracht sie leicht und ächzt. Auf ihr kreisen unverdrossen und unbekümmert weiter fünf bis sechs dunkle Schülergestalten. Am Ufer erscheint auf der Treppe des Hauses, worin der Inspektor wohnt, dicht neben dem Gymnasium, ein großer schwarzer Schatten: Stepan Jakowlewitsch ist es, der nach den verbrecherischen Eisläufern Ausguck hält. Aus dem Gymnasialgebäude steigen mehrere dunkle Silhouetten herunter, das will sagen: es gibt heute eine Treibjagd! Der „hinkende Bote“ schleicht vielleicht schon von der anderen Seite, von der Insel heran. Doch das Mondlicht täuscht oft, es ist unmöglich von weitem zu erkennen, wer die Eisläufer sind. Wir lassen den Verfolgern Zeit, nahe an uns heranzukommen, uns fast einzukreisen. Dann sausen wir rasch zu den gefährlichen Stellen hin .... Das Eis klingt immer heller, unter den Schlittschuhen klirrt die dünne schwankende Kruste, ganz nahe schimmern schon schwarz die nicht zugefrorenen Wasserlachen .... Unter lautem Kreischen der Stahlschienen setzen die Läufer nun, einer nach dem anderen, über das gefährliche Terrain auf den anderen Teich hinüber .... Die Verfolger bleiben stehen, halten Rat und treten in den meisten Fällen den Rückzug an. Wie Schatten zerrinnen sie in dem frostigen Nebel. Und wieder hört man nur das helle Zischen der Stahlschienen auf dem Eise, und die schweigsamen Gestalten kreisen unermüdlich im Mondlicht weiter ....

Aus der Reihe der besten Schüler bin ich längst in die goldene Mitte herabgerutscht und fühle mich dabei außerordentlich, wohl: mich plagt kein Ehrgeiz, die „Dreier“ betrüben mich nicht. Dafür atmet die Brust auf der Eisbahn in den Mondnächten so froh und frei, und die Phantasie arbeitet so gut bei dem gleichmäßigen Rhythmus der gleitenden Bewegungen. Der Mond steigt höher, er blickt in die leeren Fensteröffnungen des alten Schlosses hinein, betastet irgendein vergoldetes Gesims, weckt in dem dunklen Innern undeutliche Schatten zu einem geheimnisvollen unhörbaren Reigen .... Etwas scheint dort zu atmen, sich zu bewegen ....

Und nach alledem umfängt mich im Bett ein so köstlicher Schlaf, obgleich die Schulaufgaben noch nicht angerührt sind ...

Wenn ich jetzt an die ersten zwei, drei Jahre meines Gymnasialdaseins in Rowno zurückdenke und mir die Frage stelle: was wohl in jener Zeit für mich am schönsten und wohltuendsten war, so weiß ich nur zu nennen: den lustigen Haufen meiner Kameraden, den spannenden Kleinkrieg mit der Obrigkeit und dann – die Teiche, die Teiche ....

 

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1) D. h. eine „Eins“ – die schlechteste Note nach russischem Schulbrauch. D. Ü.