BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[51]

IV.

 

Ueber Idiotie überhaupt. Definitionen der bezüglichen Schriftsteller und Männer vom Fache. Herrn Eschricht's eigene Begriffsbestimmung. Wie er erklärt, die Wissenschaft sei zu Hauser's Zeit noch nicht im Stande gewesen, den Fall gehö­rig zu beurtheilen und zu behandeln und wie er gleichwohl in der beleidigendsten Weise gegen diejenigen losfährt, die ihn anders aufgefaßt. Eigentlicher Grund seiner Gereiztheit und Unart.

 

Sofern Hauser's Natur und Erscheinung unter den „arzenei­wissenschaftlichen“ Gesichtspunkt der Idiotie gestellt werden soll, nicht jeder meiner Leser jedoch mit dem in moderner Wissenschaft und Heilkunst herrschenden Gebrauche dieses Wortes und den von den Meistern des Faches darüber gegebenen Erklärungen bekannt sein möchte: so wird es nicht überflüssig sein, hierüber einige, auch wohl überhaupt nicht uninteressante Notizen einzuschalten.

Das Wort Idiot ist griechischen Ursprungs und bedeutete ursprünglich einen, der für sich ist, sein besonderes Wesen treibt. Im Gegensatze zu einem öffentlichen Beamten oder Magistrate hieß so ein Privatmann; dann ein plebejus, Einer aus der niedrigsten Klasse des Volkes, der zur Magistratur zu gelangen unfähig war; ferner im [52] Gegensatze zu Künstlern und wissenschaftlichen Männern vom Fache ein Laie; im Gegensatze zu denen, die Leibesübungen trieben, Einer, der sie vernachlässigte und sich in Folge dessen linkisch und ungeschickt benahm; daher endlich ein Dilettant, Stümper, Pfuscher, Ignorant. Hieran schließt sich seinem Begriffe nach das moderne Wort, franz. idiot, das ein in Hinsicht seiner Intelligenz mangelhaftes und zurückstehendes Individunm bezeichnet und eine namentlich pathologische Bedeutung erhalten hat, so daß Idiotismus oder, wie man zur Vermeidung einer Zweideutigkeit sagt, da Idiotismus auch eine sprachliche Eigenheit bezeichnet, Idiotie in das System der menschlichen Krankheitserscheinungen und physisch begründeten Seelengebrechen eingereiht ist, wobei die Fragen nach der Natur, den Symptomen, den Ursachen, den verschiedenen Arten, Formen und Graden, der Heilbarkeit und zweckmäßigen physischen und psychischen Behandlungsweise des Uebels ihre vielfach bethätigte Rolle spielen. Die wissenschaftlichen und sprachgelehrten Begriffsbestim­mungen und Schilderungen desselben, die ich zur Hand habe, sind in der Kürze die folgenden.

Sauvages, Sagar, Vogel, Linnée, Cullen, Foderé, Willis erklären Idiotismus durch amentia, imbecillitas ingenii, fatuitas ingenii, morosis, demence innée, stupiditas; Pinel durch abolition plus ou moins absolue, soit des fonctions de l´entendement, [53] soit des affections du coeur; Esquirol durch un état particulier dans lequel les facultés intellectuelles ne se sont jamais développées; Belhomme durch un état constitutionnel dans lequel les fonctions intellectuelles ne se sont jamais développées. Reil sagt: „Ohnmacht des Verstandes, Schwäche aller Lebenskräfte heißt vorzugsweise Blödsinn, Idiotismus.“ Dr. Guggenbühl, der bekante Gründer und Direktor der ersten Heilanstalt für Cretinismus auf dem Abendberg, 1) unterscheidet „Idiotismus d. h. Geistesschwäche bis zum Erlöschen der Seelenfähigkeit ohne körperliche Gebrechen,“ und „Cretinismus d. h. Geistesschwäche mit körperlichen Gebrechen;“ die „Imbecils,“ sagt er, stünden zwischen Idioten und Cretinen in der Mitte. Er erklärt den Cretinismus, „als ein hauptsächlich in fehlerhafter Ernährung begründetes Leiden,“ für heilbarer und die Cretinen für bildungsfähiger, als die geborenen Idioten. „Nach den bisherigen Erfahrungen,“ sagt er, „bringt man wenigstens ein Drittel der ersteren auf die gewöhnliche Stufe der Menschenbildung, vorausgesetzt, daß sie jung genug zur Behandlung kamen. Beispiele vollkommener Heilung cretinischer Kinder hat die hiesige Anstalt immer aufzuweisen, während noch niemals ein Idiot geheilt [54] worden ist.“ Sonst wird der Name Cretinismus auf eine nur an gewissen Orten vorkommende und in gewisse geographische Grenzen eingeschlossene Krankheitserscheinung angewandt, womit körperliche Entartung nicht immer verbunden ist. Cretinische Individuen ohne sichtbare physische Mängel, sogar mit schönem und starkem Körper werden in dem Werke über Cretinismus von Maffei und Rösch, Erlangen 1844, aufgeführt. Der Cretinismus ist hiernach eine Krankheit eigener Art, morbus sui generis, die auf endemischem Grunde ruht und nur in Gebirgsländern vorkommt. So auch nach Seguin: Il y a des idiots presque partout, et l'on signale au contraire des localités, où le cretinisme dévaste les populations etc. Le crétinisme est donc un mal géographiquement limité à certaines contrées etc. Le crétinisme doit etre aussi peu confondu avec l'idiotie, que la cause avec l'effet; le crétinisme étant souvent cause de l'idiotie, et l'idiotie n'etant jamais cause du crétinisme. Seine Definition der Idiotie ist die folgende.

L'idiotie est une infirmité du système nerveux, qui a pour effet radical de soustraire tout ou partie des organes et des facultés de l'enfant à l'action régulière de sa volonté, qui le livre à ses instincts et le retranche du monde moral.

L'idiotie, abstraction faite des maladies, des infirmités [55] et des dégénéressences d'organes qui l'aggravent trop souvent, ne se présente que sous deux formes essentielles, qui sont:

L'affection chronique de tout ou partie des masses nerveuses, qui donne lieu à l'idiotie profonde.

L'affection partielle ou totale des appareils nerveux qui se ramifient dans les tissus et président à la vie de relation, d'où resulte l'idiotie superficielle.

L'idiot type est un individu qui ne sait rien, ne peut rien, ne veut rien, et chaque idiot se rapproche plus ou moins de ce summum d'incapacité.

Nun kommen wir auf Herrn Eschricht selbst, welcher sich, indem er Hausern als einen Idioten betrachtet, mit dem zu Nürnberg eine so plötzliche Metamorphose vor sich gegangen, über den von ihm in Anwendung gebrachten Begriff der Idiotie in folgender Weise erklärt.

Es ist ein auffallendes Mißverhältniß zwischen geistiger und körperlicher Entwicklung in Folge mangelhafter Organisation des Gehirns, was wir hier vor uns haben. Der Körper des Idioten ist mehr oder weniger entwickelt und ausgebildet, während die Seele noch auf der Stufe der Kindheit weilt. 2) Von ganz anderer Art sind die [56] secundär Blödsinnigen, d. h. diejenigen, die sich in früherem Alter durch unnatürliche Laster, übertriebene geistige Anstrengungen, Gehirnerschütterungen, oder späterhin durch [57] Trunk und Ausschweifungen ein Gehirn- oder Rückenmarksleiden zugezogen haben. Während die letzteren eine ärztliche Behandlung erfordern, kommt es bei den ersteren, diesen alten Kindern, nur darauf an, ihre Geisteskräfte zu wecken, sie im Gebrauche ihrer Sinne und Glieder zu üben, und sie die versäumte Erfahrungsschule durchmachen zu lassen. Als grundverschieden von den secundär Blödsinnigen mußten diese Menschen einen Namen haben, und so wurden sie Idioten genannt. Man versuchte es, sie wie kleine Kinder zu behandeln, man sah Erfolge davon, und so bildete sich eine Heilmethode, die in mehreren Ländern Eingang fand. Doch ist die richtige Erkenntniß und Behandlung solcher Individuen noch nicht so alt, als die Hauserische Geschichte. Erst vor ungefähr 20 Jahren traten in der Schweiz ein Guggenbühl, in Frankreich ein Eduard Seguin, in Preußen ein Sägert auf und widmeten sich der Sorge für diese Unglücklichen. H. erfuhr bei seinem Auftreten die verschiedenartigsten Beurtheilungen, keine traf das Rechte. „Auch konnte das gar nicht anders sein, zu der Zeit, da H. hervortrat,“ S. 27. Die Erkenntniß der eigenthümlichen [58] Natur idiotischer Subjekte und der Behandlung, die sie erheischen, so wie die Versuche, ihre Zustände zu bessern, fallen erst in die Zeit, „da H. schon todt und halb vergessen oder wenigstens die reiche Literatur über ihn abgeschlossen oder auf Romane reducirt war,“ S. 30. „Gerade die Zweige der Wissenschaft, von denen die an H. beobachteten geistigen und körperlichen Eigenschaften ihre rechte Erklärung erhalten müssen, haben erst in den späteren Jahren die dazu nothwendige Entwicklung gefunden,“ S. 2. Warum fährt denn aber dann H. E. so wüthend über diejenigen her, die damals nicht aus individuellem und verschuldetem Mangel an Erkenntniß fehlgriffen, sondern dem allgemeinen Stand der Dinge gemäß gar nicht anders, als fehlgreifen konnten? Wie kann er denn fordern, daß man in H. nur den Idioten im Sinn und Geiste einer späteren, fortgeschrittenen Wissenschaft und Erkenntniß hätte sehen und behandeln sollen? Es lag ihm hier so nahe, war so sehr in der Natur und Consequenz der Sache begründet, in ruhig und verständig belehrender Weise zu Werke zu gehen, und die „dem gegenwärtigen Standpunkte der Wissenschaft“ gemäße Erklärung zu geben, ohne Lebende und Todte so verächtlich zu behandeln und so feindlich anzugreifen! Die, wie aus seinen eigenen Relationen und Concessionen folgt, objectiv so ganz unnöthige Gereiztheit und Malice, die er in seinem „Unverstand“ herausgekehrt hat, verräth jedoch, daß ihn [59] nicht sowohl der reine, Achtung gebietende Wille und Wunsch, die Geschichte Hauser's wissenschaftlich aufzuklären, als vielmehr ein sich seiner Schwäche wohl bewußtes und darum so fanatisches Parteiinteresse getrieben, wobei es im Grunde nur darauf ankam, gewisse, dieser Denkart überhaupt mißliebige und unbequeme Thatsachen hinwegzuräumen und die dieselben gewichtvoll bezeugenden Persönlichkeiten als erbärmliche Düpen, Thoren und Tollköpfe der Verachtung Preis zu geben und um ihren Credit zu bringen.

 

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1) Sendschreiben an Lord Ashley, über einige Punkte des öffentlichen Wohles etc.. Basel 1851. 

2) Auch manche Cretinen erscheinen ganz wie Kinder, spielen mit Puppen und bezeugen eine Freude an bunten Gegenständen. In einem Dorfe, wo Cretinismus zu Hause, fand Rösch zwei männliche Subjekte von 20 und 22 Jahren, nicht blöd­sinnig, sondern vollkommen kindisch, mit schlummerndem Geschlechtsleben und demgemäß auch der äußeren Kennzeichen desselben ermangelnd, wie bei Kindern von 8 – 10 Jahren der Fall. Hiemit war allerdings auch eine zwergartige Körperbildung verbunden, die aber für den Cretinismus nicht charakteristisch ist, da es auch Cretinen von stattlichem Ansehen und mit athletisch gebautem Körper giebt. Eine von Rösch beschriebene cretinische Jungfrau spielte wie ein kleines Kind, war freundlich, wenn man ihr Zucker, etwas Buntes oder ein Stückchen Geld gab, das sie dann wohl in einen benachbarten Kramladen trug, um Zucker dafür zu erhalten, Maffei und Rösch, Cretinismus I, S. 136, 166 f. Unter diese auf der Kinderstufe zurückgebliebenen Jünglinge und Jungfrauen könnte man allerdings versucht sein, auch Hausern zu rechnen, wenn nicht so viel entscheidende Gründe vorhanden wären, ihn nicht als einen natürlichen, sondern als einen künstlich erzeugten Idioten d. h. einen unwissenden und geistig unentwickelten Menschen zu betrachten, der von Natur und Geburt seine volle menschliche Befähigung hatte und nur gewaltsam in seiner Entwicklung gehemmt worden war, wie es schon vom Nürnberger Polizeigericht so richtig und bestimmt ausgesprochen wurde, indem es erklärte: „Dieser junge Mensch ist weder wahnsinnig, noch blödsinnig, sondern offenbar auf die schändlichste und gewaltsamste Weise von aller menschlichen und gesellschaftlichen Bildung entfernt gehalten und als Halbwilder aufgezogen worden;“ wo nur der Ausdruck „Halbwilder“ eine schiefe Vorstellung enthält. Jene cretinische Jungfrau wußte, daß sie für ein Geldstück Zucker bekommen könne; Hauser wußte mit einem solchen Nichts zu thun, als es seinen Rossen als Schmuck anzuhängen. Das war kein Zeichen von Idiotismus oder Cretinismus noch tieferer Art, wie man es nach Herrn Eschricht auffassen müße, sondern eine bloße Unbekanntschaft mit der Sache bei vollkommener Verstandeskraft. Jene Jungfrau liebte den Zucker, den H. verschmähte; dies letztere war keine idiotische Idiosynkrasie, sondern ein bloßes Gewohnheitsresultat, eine Folge seiner vieljährigen Beschränkung auf Wasser und Brod.