BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[142]

X.

 

Ueber Hauser's anfängliche Diät und sein Vermögen im Dunkeln zu sehen, wobei zur Sprache kommt, wie H. E. die wichtigsten und entscheidensten Thatsachen ignorirt, wenn sie seiner Hypothese widerstreben. Sowohl der Umstand, daß H. mit einer gewissen feineren Brodart aufgefüttert wurde, wie sie „ein blutarmer Mann“ nicht reichen konnte, als auch, daß er in tiefer Nacht und Finsternis sah, was seinen langen Aufenthalt im Dunkeln bezeugt, wird von H. E. mit völligem Stillschweigen übergangen.

 

Daß H. anfangs so ausschließlich nur von Wasser und Brod lebte und so lange durchaus nichts Anderes genießen wollte und konnte, paßt nicht recht in Herrn Eschricht's idiotische Theorie; „denn obschon die Idioten,“ heißt es S. 35; „ganz gewöhnlich einen besonderen Geschmack zeigen und zuweilen gern essen, was von Anderen ganz verschmäht wird, so scheint doch seine ausschließliche Neigung zu Wasser und Brod kaum in dieser Weise erklärt werden zu können.“ So ist auch S. 37 von dem „irre gehenden Geschmack die Rede, der allgemein bei Idioten vorkommt und sie die widrigsten Dinge den sonst beliebten Leckereien vorziehen läßt.“ Hier aber wird diese Erscheinung dennoch als auch auf H. passend betrachtet. Es wird hinzugesetzt, man wisse nicht, ob H. auch Butter und anderes Fett oder Früchte, nach denen die mit Brod genährten Thiere besonders begehrlich seien, ebenfalls verschmäht [143] habe. Ich bezeuge hiermit, daß Hauser's Appetit mit strengster Ausschließlichkeit nur auf Wasser und Brod gerichtet war; daß er in der Periode, in welcher er diese Diät beobachtete, etwas Anderes nie wollte, mochte und vertrug und freiwillig nie genoß. Vorzüglich war ihm alles Animalische fürchterlich; Fleisch ein wahrer Abscheu, schon der physischen Empfindung nach, und der Gedanke, Getödtetes genießen zu sollen, ein Gräuel für sein Herz und seine Vorstellung. Bei seiner endlich und nur mit großer Schwierigkeit und nach langer Vorbereitung zu Stande gekommenen Gewöhnung an die gebräuchliche Art von Kost bildeten Wassersuppen, Milchbreie, Chocolade den Uebergang. Schon ein einziger Tropfen Fleischbrühe unter seine Wassersuppe gemischt, wurde von ihm verspürt. Eben so war ihm alles Gewürzige, Geistige, Erhitzende und Potenzirende, wie Wein, Bier, Kaffee, Thee, durchaus unerträglich. Nur in Beziehung auf ein Paar Gewürze, die er vordem mit seinem Brod genossen, fand eine Ausnahme Statt, auf die ich unten zurückkommen werde. Bürgermeister Binder erwähnt in seiner am 7. Juli 1848 bekannt gemachten Schilderung die einfache Kost, die er bei gesundem Ansehen und wohlgenährtem Körper bis zur Stunde genieße, während er vor jeder anderen nah oder ferne dargebotenen oder auch versuchten den größten Abscheu habe und sie sogleich mit wahrem Eckel zurückweise, so wie die Empfindlichkeit seiner Geruchs- und Geschmacksnerven [144] gegen die einfachsten Gegenstände wie z. B. Blumen, Erdbeeren, Milch.“ 1) In meinen „Mittheilungen“ I, S, 5 findet sich aufgezeichnet: „Von Fleischspeisen bekommt er fieberhafte Zufälle; Pflanzensäure macht empfindlichen Reiz; das Süße ist ihm widerlich; alles Gewürzhafte und Geistige bringt Erscheinungen schreckhafter Art hervor.“ Und S. 35: „Genuß von Weinbeeren und frischem Weinbeersaft erregte Zustände der Erhöhung, Erhitzung und Trunkenheit, bis zu dem Grade, daß er seinen Rausch ausschlafen mußte.“ Feuerbach in einem Briefe an Elise von der Recke vom 20. Sept. 1828 2) sagt: „Er konnte nur Wasser und Brod genießen; jedes andere Getränke, selbst Milch und das kleinste Bischen Fleisch erregten ihm nicht bloß Eckel und Grausen, sondern auch Fieber. Auch jetzt noch genießt er weder Fleisch, noch Gemüse, noch Obst.“ Vergl. ebendesselben „Kaspar Hauser“ S. 21 f. Von Hauser's späterer, zu Ansbach geführter Lebensweise berichtet Feuerbach ebendaselbst S. 150: „Seine Lebensweise ist jetzt fast ganz die gewöhnliche anderer Menschen. Er genießt, außer Schweinefleisch, 3) alle Arten von Speisen, doch ohne [145] hitzige Gewürze. Sein liebstes Gewürz bleiben Kümmel, Fenchel und Koriander. Sein Getränke besteht noch immer in Wasser, nur Morgens wird dieses durch eine Tasse Gesundheitschocolade vertreten. Alle gegohrenen Getränke, Bier, Wein, wie auch Thee und Kaffee, sind ihm fortwährend ein Gräuel und werden ihn, wollte man ihm davon einen Tropfen aufnöthigen, unfehlbar krank machen.“ S. 49 meiner „Mittheilungen“ habe ich von den Qualen gesprochen, die ihm Unverstand und Muthwillen durch aufgedrungene Genüsse bereiteten. „Man zwang ihm, den schon der Geruch solcher Dinge furchtbar erregte, Rauch- und Schnupftabak und geistige Getränke auf, und versetzte ihn dadurch in Zustände, die selbst die rohen Menschen, die dies verübten oder geschehen ließen, bange machten. Schon vom Geruche des Branntweins, den man ihm nahe brachte, bekam er tagelang Kopfleiden, von aufgedrungenem Käse tagelanges Magendrücken u. s. w.“ Das paßt nun Alles gar wenig zu dem „irregehenden, auf Widerwärtiges gerichteten“ Geschmack und Begehren der Idiotie. Eduard Seguin 4) sagt: „Désordres du gout, antipathies pour certains mets, appétence pour des matières repoussantes, [146] putrides, stercorales etc., antipathies pour certaines odeurs, aspiration violente pour les plus fétides ou les plus ammoniacales, besoin de se frapper, de se mordre jusqu'au sang même, excès de sensibilité musicale, entraînant les convulsions, l'épilepsie, la suspension momentanée de l'intelligence; confusion de plusieurs couleurs par le sens de la vue, ou imperception absolue de quelques autres, telles sont les principales idiosyncrasies du système nerveux, auquelles les idiots sont sujets.“ Wer wird in solchen Zügen den Nürnberger Findling erkennen, in welchem sich ganz im Gegentheil eine Reinheit und Unverdorbenheit des Geschmackes und Appetites, wie sonst keine bekannt, geoffenbart hat, und welcher, während wahrhaft idiotische Subjekte nach Dingen verlangen, die gewöhnlichen Menschen widrig und eckelhaft vorkommen, so Manches verabscheute und zurückstieß, was gewöhnlichen Menschen nicht nur erträglich, sondern sogar angenehm und genußreich ist!

Hauser's diätetische Selbstbeschränkung auf Wasser und Brod, und sein Unvermögen, irgend etwas Anderes zu vertragen, hatte ohne Zweifel in langer Gewohnheit ihren Grund. Ich habe oben von dem wilden Mädchen gesprochen, das so begierig nach Blut war und in dem krankhaften Verfalle, der ihm die Aufnöthigung gewöhnlicher Nahrung zuzog, nur durch Saugen warmen Blutes erquickt [147] wurde. So biegsam ist die menschliche Natur und so groß die Macht der Gewohnheit. Diese beiden jungen Wesen, jenes Mädchen und der Nürnberger Findling stellen zwei diätetische Extreme dar, während der nach dem Stinkenden und Scheußlichen begierige Idiot ein gar nicht hieher gehöriges pathologisches Bild darbietet. Auch H. E. ist genöthigt, hier gleich von vorn herein seiner idiotischen Theorie untreu zu werden und eine Gewohnheitsursache zu Hülfe zu nehmen. Er behauptet jedoch, nicht im Zusammenhange mit einem Verbrechen stehe es, daß der Knabe nichts Anderes erhalten habe, als jene höchst einfachen Nahrungsmittel; der bettelarme Verpfleger desselben habe ihm nichts Anderes reichen können. Dagegen ist Folgendes zu bemerken.

Erstlich stimmt eine so strenge, ausschließliche Beschränkung auf Wasser und Brod gar nicht mit den Verhältnissen und Sitten der Armuth überein. Sie pflegt nur in Gefängnissen als Strafe vorzukommen. Arme Menschen dagegen finden immer Gelegenheit, noch andere Dinge zu genießen und sich namentlich an unreine und abstoßende Gerüche und Nahrungsmittel zu gewöhnen. Sie bekommen allerlei geschenkt, besonders Speisen, die man nicht mehr mag, schlechtes, übriggebliebenes, verdorbenes, übelschmeckendes und übelriechendes Zeug. Sie finden und lesen sich Manches vom Boden auf, wie vom Baum gefallene Früchte; sie pflücken Beeren, sie stehlen sich auch [148] Manches der Art, wenigstens was die hungrig umherlaufenden Kinder betrifft, bereiten sich auch wohl einige warme Speisen und Getränke zu Hause und leben besonders von Kartoffeln und schlechtem Kaffee. Ich kenne eine aus zwei erwachsenen weiblichen Personen und zwei Kindern bestehende Familie, die sehr arm ist und viel Noth leidet. Es ist nur ein einziges Bett vorhanden, woraus schon allein der hier Statt findende Grad der Armuth und des Elendes abzunehmen. Da wird nun nicht allein Brod gebettelt, sondern auch Kaffeesatz gesammelt, der denn mehrmals des Tages abgesotten und genossen wird, wie ich selbst eine Zeit lang regelmäßig solchen hergegeben. Die Kinder bekommen Vieles von fremden Personen und sind sehr froh, an guten Tischen mitessen zu dürfen. Wenn in speziellem Falle ein bettelarmer Idiot, wie H. gewesen sein soll, unnatürliche Gelüste nach widerwärtigen, übelriechenden, fauligen und scheußlichen Dingen hat, so wird er diesen häßlichen Trieb leicht immer befriedigen können; denn nie und nirgends fehlt es an solchen Substanzen und Gegenständen. Auf keine Weise wird Armuth und Idiotie zusammen eine Erscheinung liefern, wie der Nürnberger Findling war.

Ueberdies – und das wollte ich eigentlich hervorheben – hat H. E. einen äußerst wichtigen und sprechenden Umstand ignorirt, der sich mit seiner Ansicht durchaus nicht verträgt. H. hat in seinem früheren unbekannten Aufenthalte nicht gewöhnliches, grobes Schwarzbrod erhalten, [149] sondern eine feinere, stark gewürzte Art, sogenanntes Vorlaufbrod, wie es auf dem Lande meines Wissens als Fest-, Hochzeit- und Herrschaftsbrod gebacken wird. Das Brod, das er in Nürnberg zu genießen pflegte, war keineswegs das, was er wünschte; er aß es nur in Ermangelung jenes besseren, welches er sehr schwer entbehrte und nach welchem er sich stets zurücksehnte. Als er diese Art von Brod zufällig einmal zu Gesichte bekam, weinte er vor Freude. Ich habe schon oben bemerkt, daß die Gewürze dieses Brodes das einzige diätetisch Reizende waren, was er liebte und vertrug, eine Ausnahme, die sich auch wieder auf die Gewohnheit gründete. Diese Gewürze waren Kümmel, Anis, Koriander und Fenchel; und es ist merkwürdig , wie er trotz seiner sonst so beispiellosen Schwäche und Reizbarkeit, was solche Genüsse betrifft, selbst den starken Fenchelzucker aus der Apotheke vertrug, so wie auch Kümmelthee genießen konnte, der ihm arzeneiliche Dienste that. Nun merke man wohl, was aus diesen von H. E. so unredlicher Weise verschwiegenen Umständen folgt! Ein Bettler, ein „blutarmer“ Mann, wie Hauser's Ernährer gewesen sein soll, hätte sein Pflegekind gewiß nicht mit solchem Brode aufgefüttert. Das allein schon ist im Stande, diese ganze Theorie über den Haufen zu werfen.

Ein anderer Umstand, von welchem H. E. ebenfalls Nichts wissen will, ist dieser, daß H. bei stockfinsterer Nacht zu sehen vermochte und daß es für ihn keine seine Sehkraft [150] total außer Wirkung setzende Dunkelheit gab. In meinen „Mittheilungen“ S. 6 heißt es: „Sein an Finsterniß gewöhntes Auge sieht in einer Dunkelheit, in der ein gewöhnliches Auge weder Farbe noch Umriß erkennt, noch ziemlich gut. Er unterscheidet in einer für Andere gänzlichen Finsterniß noch Dunkelbraun und Dunkelroth, Dunkelgrün und Schwarz u. dergl., und braucht in der Nacht kein Licht, um sich im Hause überall zurechtzufinden und mit Sicherheit umherzugehen; ja er sieht in der Dämmerung besser, als bei hellem Tage. Ich habe mich von dieser Fähigkeit Hauser's, im Dunkeln zu sehen, durch Beobachtungen und Versuche überzeugt, wobei derselbe keinen Betrug spielen konnte.“ So meldet auch Feuerbach in seinem „Kaspar Hauser“ S. 104 ff.: „Es gab für ihn keine Dämmerung, keine Nacht, keine Finsterniß. Man wurde hierauf zuerst aufmerksam, als man bemerkte, daß er Nachts überall hin mit der größten Sicherheit vorwärtsschritt, und daß er, so oft er an einen dunkeln Ort ging, das ihm angebotene Licht ausschlug. Mit Verwunderung oder Lachen sah er öfters den Leuten zu, die an dunkeln Orten, wie Nachts beim Eintritt in das Haus und beim Treppensteigen, sich durch Tappen und Anhalten zu helfen suchten. Im Dämmerlichte sah er sogar bei Weitem besser, als am hellen Tage. So las er, nach Untergang der Sonne, auf der Straße eine Hausnummer, die er bei Tage wenigstens [151] in solcher Ferne nicht würde erkannt haben, auf ungefähr 180 Schritte weit. Bei tiefer Dämmerung machte er einst seinen Lehrer auf eine Mücke aufmerksam, die in einem sehr entfernten Spinnengewebe hing. Bei völliger Nacht unterschied er, nach sorgfältig mit ihm angestellten Versuchen, die Farben, wie die blaue und grüne. Wenn bei einbrechender Dämmerung, ein gewöhnliches, weitsichtiges Auge nur erst 3 oder 4 Sterne am Himmel sah, so erkannte er bereits die Sterngruppen und wußte die einzelnen Sterne darin nach ihrer Größe und ihrem eigenthümlichen Farbenspiel zu unterscheiden.“ In einem Briefe an Elise von der Recke vom 20. Sept. 1828 sagt Feuerbach: „Es zeigen sich an ihm die merkwürdigsten physiologischen Erscheinungen. Er sieht, ohne Kackerlack zu sein, bei finsterer Nacht eben so gut, als bei Tag u. s. w. 5) H. v. Tucher, Hauser's Vormund, [152] erzählte in seiner Vernehmung den 5. Dec. 1830: „Ein Versuch im Sommer 1828 gab mir den Beweis, daß H. damals bei gänzlicher Finsterniß an einem Spätabend zwei Stücke von dunkelbraunem und dunkelrothem Tuch genau unterschied und ihrer Farbe nach beschrieb, während meine und Daumer's Augen nicht im Stande waren, diese Tuchfleckchen zu sehen, wenn sie nicht auf einem hellen Grund gehalten wurden. Auf einem Spaziergang sah er bei einbrechender Dämmerung in einer Entfernung von circa 150 Schritten die schwarzen Beeren eines Hollunderbaumes und gab ihre Verschiedenheit von den ihm schon bekannten Schwarzbeeren an. Es war dabei so dunkel, daß ich und Prof. Hermann nur die Umrisse des Baumes erkannten 6). Diese Befähigung, in einer für gewöhnliche Augen totalen Finsterniß zu sehen, und bei schwachem Lichte besser, als bei starkem, läßt sich nur aus einem vorhergegangenen langen Aufenthalt im Dunkeln erklären. Weder dem Gauner und Gaukler von Anfang an, noch dem Idioten konnten solche Eigenheiten zu Theil werden. Es wird also auch Kraft dieses Umstandes bei der Feuerbach'schen Ansicht sein unabänderliches Verbleiben haben.

 

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1) Frei, Geschichte Kaspar Hauser's. Berlin, 1834 S. 14. 

2) Feuerbach's Leben und Wirken, Leipzig 1852. II. S. 272 f. 

3) Wer denkt hier nicht an den jüdischen Abscheu vor dieser Art von Fleisch, die man als den Rest einer ursprünglich reineren Diät betrachten kann? 

4) Traitement moral hygiène et éducation des idiots. Paris, 1846. S. 256. 

5)Feuerbach's Leben und Wirken,“ Leipz. 1852 S. 275 f. Daß Hauser's Augen von Natur nicht abnorm beschaffen waren, zeigte sich dadurch, daß er sich allmählich an's Licht gewöhnte und dann auch nicht mehr, wie früher, im Dunkeln sah. So berichtet Feuerbach aus späterer Zeit S. 50 f. „Er sieht zwar noch immer im Dunkeln, so daß es für ihn keine wahre Nacht, sondern nur Dämmerung giebt; doch ist er nicht mehr im Stande, wie sonst, im Finsteren zu lesen oder in weiter Entfernung die kleinsten Gegenstände zu erkennen. Während er ehemals bei dunkler Nacht weit besser und schärfer sah, als bei Tage, ist es jetzt umgekehrt. Gleich anderen Menschen verträgt und liebt er jetzt das Sonnenlicht, das nicht mehr, wie sonst, seine Augen verwundet.“ 

6) In Hitzig's Annalen Bd. IX. S. 440.