BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[181]

XV.

 

Die Geschichte von Hauser's Tagebuch. Empörende Mißhandlungen, die der­selbe auf Stanhope's Anstiften in Ansbach erfuhr. Seine Aeußerungen über den Grafen auf dem Sterbebette.

 

Indem Graf Stanhope Hausern in der Meinung der Welt auf alle Weise und um jeden Preis zu schaden sucht, erzählt er Geschichten, die auf ihn selbst und die Behandlung, die H. durch ihn und seine Werkzeuge erfuhr, das schlimmste Licht werfen. Eine solche ist die Seite 110 ff. der „Materialien“ vorgetragene.

Hauser führte ein Tagebuch, und verhehlte dies auch keineswegs. Er erbot sich vielmehr, dem Grafen aus diesem Manuscripte vorzulesen; es aber völlig Preis geben, wollte er nicht, und man konnte das billiger und humaner Weise auch nicht von ihm fordern. In solchen Fällen schreibt man Gedanken und Gefühle nieder, die sich nicht zur Mittheilung eignen; so namentlich was Personen betrifft, mit denen man umgeht oder [182] in Berührung kommt und die vielleicht im höchsten Grade beleidigt sein würden, wenn man ihnen offen darlegte, was man von ihnen denkt, und was man ihnen gegenüber für Gefühle hegt. Der Graf aber verfügte sich, wie er selbst erzählt, den Tag vor seiner Abreise von Ansbach in das Haus des Schullehrers Meyer und in Hauser's Zimmer daselbst und begehrte das Tagebuch in selbsteigenen Augenschein zu nehmen. H. weigerte sich erst unter einem Vorwaude, den St. als eine Lüge bezeichnet, zu welcher aber sein indiskretes Benehmen einen zu dringenden Anlaß gab, als daß man sie nicht sehr verzeihlich, ja nothwendig finden sollte. Zu solchen kleinen Listen und Nothlügen mußte H. allerdings seine Zuflucht nehmen, wenn er in diesem Grade tyrannisirt und geängstigt wurde; und man begreift auf diese Weise nur allzu gut, wie sich seine ursprünglich strenge Wahrheitsliebe verlor. Er sagte nachher im Beisein Meyer's zu Stanhope: „Ich will es Ihnen zeigen; Sie müssen mir aber versprechen, Nichts darin zu lesen.“ Dann öffnete er eine Schublade, und ließ ein Heft sehen, das er aber nicht herausnahm, indem er erklärte: „Dieses Buch enthält Sachen, die für mich sind, und wovon Andere Nichts zu wissen brauchen.“ Stanhope reiste ab; veranlaßte aber den Oberlieutenant Hickel, die unverzügliche Auslieferung des Tagebuches zu verlangen. Auf die beharrliche Weigerung Hauser's [183] hin ward zur Gewalt geschritten; es wurden die Behältnisse Hauser's geöffnet und durchsucht; es fand sich jedoch kein Tagebuch. Der Schluß der Erzählung ist etwas dunkel. „Da,“ heißt es, „kein Tagebuch gefunden wurde, so fragte Meyer den Verstorbenen, wo er es aufbewahrt habe. H. zeigte ihm hierauf eine Schublade, wo, wie ich es verstanden habe, dasselbe hinter einem Brette gelegen haben soll.“ Es ist nicht deutlich, ob nun das Manuscript weggenommen wurde oder nicht. Meyer scheint die unziemliche Natur des Verfahrens eingesehen zu haben und deshalb mehr auf Hauser's Seite gewesen zu sein, als auf der des Grafen und der genannten Militairperson, deren sich der Graf zur Ausführung seiner Zwecke bediente.

St. erzählt die Geschichte deshalb, um Hauser's unaufrichtiges Wesen und Benehmen zu documentiren. Wozu denn aber, so muß man fragen, ein so gewaltsames Eindringen in die Tagebuchgeheimnisse des Findlings, das der Graf sonderbarer Weise so ganz unmotivirt und ungerechtfertigt läßt; wozu ein so tyrannischer Eingriff in ein Recht, das zur freien Persönlichkeit des Menschen gehört und das jedem zusteht und gegönnt ist, den man nicht befugt ist, als einen Spitzbuben und Verbrecher zu behandeln, das Recht, ein schriftliches Geheimniß zu haben und vor Jedermann zu bewahren, dem man es nicht aus besonderem Vertrauen von selbst mitzutheilen geneigt [184] und Willens ist? Das also war die Art, in der man zu Ansbach mit dem Armen verfuhr? Darum führte man ihn von Nürnberg weg und entzog ihn der dortigen wohlmeinenden und sorglichen Pflege und Obhut, damit man jede Art von Willkühr, Ungebühr und Despotismus an ihm verüben könne – um nicht noch mehr zu sagen?

Herrn v. Tucher gegenüber, der pädagogische Grundsätze vertrat, entwickelte der Graf hartnäckig und ohne sich durch irgend eine ihm deshalb gemachte Vorstellung bestimmen zu lassen, eine so unvernünftige Hätschelei und behandelte den noch kindlichen Jüngling so ganz schon als fertiges, selbstständiges Individuum, daß sich darüber ein ernstlicher Streit entspann. Und nun in Ansbach, wo H. doch in der That schon in ein Stadium größerer Reife getreten, ging er so gräulich mit ihm um.

Ich habe diesen empörenden Angriff auf Hauser's Tagebuch­geheimnisse nur auszüglich und nicht mit allen von St. angegebenen Umständen berichtet. Ich habe namentlich verschwiegen, daß sich St. erlaubt, auch den edlen Feuerbach hineinzuflechten, der sich an einer so ungebührlichen und barbarischen Handlungsweise gewiß nicht betheiligt hat. St. sagt wörtlich, was zugleich als eine Probe seiner listigen, geschraubten, Wahrheit und Lüge künstlich verflechtenden Erzählungsweise dienen mag: „Seit dem Tode des Verstorbenen habe ich von dem Oberlieutenant [185] Hickel erfahren, daß er zu Folge eines Briefes, den ich ihm oder dem verstorbenen Herrn v. Feuerbach schrieb, und in welchem ich den oben berührten Umstand in Betreff des Tagebuchs erwähnte, zu dem Verstorbenen ging und ihm meinen Wunsch, wie auch den des Herrn von Feuerbach mittheilte, er solle dieses Tagebuch unverzüglich dem Herrn v. Feuerbach zuschicken, welches der Verstorbene durchaus zu thun sich weigerte, indem er sagte, er wolle es nur mir personlich übergeben, oder mir etwas davon vorlesen. Herr Meyer kam in's Zimmer, und als der Verstorbene dabei blieb, er wolle dieses Tagebuch schlechterdings nicht an Herrn v. Feuerbach schicken, so sagte der Oberlieutenant Hickel, man solle es ihm mit Gewalt abnehmen, wo sodann der Verstorbene äußerte, er habe es längst verbrannt. Hickel aber ließ sein Commodekästchen und seine anderen Behältnisse sogleich in seiner und Herrn Meyer's Gegenwart durchsuchen.“ St. hat von Hickel bloß erfahren, was dieser, wie es scheinen soll, auf eigene Faust gethan hat, wiewohl es doch immer zugeständlich auf des Grafen Veranlassung und seinem Wunsche gemäß geschehen ist. Er weiß nicht mehr recht, ob er die Sache in einem Briefe an Hickel oder an Feuerbach angeregt hat. Wir wissen es aber, Herr Graf, daß bloß Sie und Hickel betheiligt gewesen. Feuerbach sollte das Manuskript erhalten; sollte lesen, was St. vermuthlich deshalb an sich reißen wollte, damit [186] es Niemand weiter zu sehen bekomme, als er?! Lebten nur Hauser und Feuerbach noch; könnten sie berichten, was St. unrichtig erzählt, und sagen, was er verschweigt, so würde die Sache ein wenig anders lauten, als sie hier in so einseitiger und gewiß nicht ganz reiner und wahrer Darstellung vor uns liegt. Es genügt indessen diese bei alledem doch eine so schwere Selbstanklage bildende Darstellung, um über den Grafen den Stab zu brechen.

Mir wird meine milde, schonende Behandlung des Findlings zum Verbrechen gemacht. Für die ganz abscheuliche, die er durch den Grafen und seine Freunde erfuhr, hat man keine Entrüstung und Anklage. Herr Eschricht findet es wohl im Gegentheil ganz in der Ordnung, daß man dem „Elenden,“ wie er den Findling nennt, so gewaltthätig auf den Leib rückte, um hinter seine Geheimnisse zu kommen. Niemand ist ja hier verdächtig, als dieser Unglückliche; der reiche, vornehme Engländer – wie könnte der Verdacht erregen, wie könnte dem eine Rüge gebühren? Man darf ihn um so weniger angreifen, da man ihn so gut brauchen kann und seiner ungeschwächten Autorität bedarf, um Feuerbach's Darstellung Lügen zu strafen und den armen, gemordeten Jüngling zu einem „elenden“ Gaukler und Selbstmörder zu machen.

Es wird nicht ohne Interesse sein, zu erfahren, daß [187] H. auf dem Sterbebette sich gar nicht vortheilhaft über den Grafen geäußert, so wie auch an den Tag gelegt, daß der zu ihm tretende Oberlieutenant Hickel eine ihm keineswegs liebe und angenehme Erscheinung war. Nach den mir damals aus Ansbach zugekommenen Nachrichten näherte sich Hickel dem Bette, um noch einige Worte mit dem Sterbenden zu sprechen; er begann mit der Anrede: „Kaspar,“ – worauf ihn dieser mit dem Ausruf unterbrach: „O Herr Oberlieutenant!“ Als dann Hickel fragte, ob H. dem Grafen Nichts mehr sagen zu lassen habe, so bezeigte der Sterbende zwar seine Dankbarkeit für die ihm erwiesenen Wohlthaten, ließ aber übrigens eine sehr schlechte Meinung von des Grafen Wesen und Charakter blicken und äußerte Bedenken über dessen Schicksal in der anderen Welt, doch mit dem milden Zusatze, daß dem Grafen das, was ihm derselbe Gutes gethan, werde angerechnet werden. Hieraus ist die Vermuthung zu ziehen, daß auch schon in Hauser's Tagebuche manches gar nicht Vortheilhafte über den Grafen verzeichnet gewesen sein mochte, daß Letzterer dies wohl geahnt und gefürchtet und daher so eifrig gestrebt habe, die Blätter in seine Hände zu bekommen und insbesondere zu verhindern, daß sie nicht nach Hauser's Tode Anderen in die Hände fallen und der Welt bekannt werden möchten. H. hat sie dann wahrscheinlich in der That vernichtet und so ist die Welt durch Stanhope's [188] und Hickel's gewaltsames Einschreiten um ein sehr wichtiges Document gekommen; denn wie interessant und lichtgebend nicht nur in der besprochenen Beziehung, sondern auch in mancher anderen würde wohl jetzt dies Tagebuch sein!