BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[201]

XVIII.

 

Wie man sich die Hauserische Geschichte ihrem ganzen Verlauf und Zusam­menhang nach zu denken habe. H. ursprünglich in den hohen aristokratischen Kreisen England's und Ungarns zu Hause, hat sich als Kind eine Zeit lang in dem letzteren Lande befunden, ist daselbst seiner Familie verbrecherisch entrissen und dann nach Deutschland gebracht worden. Sein vieljähriger verborgener Aufenthalt in einem kleinen dunklen Gemach muß in der Umgegend Nürnberg's gewesen sein; er war nur einen einzigen Tag lang auf der Wanderung, wurde Nachts aus seinem Gefängniß genommen und Nachts in die Stadt gebracht, dort die Nacht über verborgen gehalten und am Tage darauf ausgesetzt. Noch eine Bemerkung über Graf Stanhope.

 

Ich will nun zu zeigen versuchen, wie man sich die für so ganz absurd und unglaublich ausgegebene, in der That aber sehr wohl denkbare und begreifliche, wenn auch nicht in allen einzelnen Punkten sicher und fest zu bestimmende, Geschichte Hauser's, als eines Gegenstandes mehrfacher Gewaltthaten und Verbrechen, ihrem ganzen Verlaufe und Zusammenhange nach vorzustellen hat.

Meine bereits angedeutete, auf den dringendsten Anlässen beruhende Meinung über Hauser's Heimath und Herkunft geht dahin, daß er ursprünglich in den aristokratischen Kreisen Englands und Ungarns zu Hause gewesen und in das ihm fremde Deutschland nur deshalb gebracht worden sei, um ihn jenen Regionen zu entrücken. Es handelte sich wahrscheinlich um eine große und reiche Erbschaft, die zunächst dem Findlinge gebührte, im Falle seines [202] Todes aber gewissen Personen zufiel, die ihn deshalb aus dem Wege zu räumen veranlaßt wurden. Es geschah dies wohl mit Hülfe anderer, untergeordneter Persönlichkeiten, insbesondere einer männlichen, die für eine große Belohnung den Mord zu vollbringen versprach, ihn aber, das direkte Verbrechen scheuend, nicht wirklich vollbrachte, das seinen ursprünglichen Verhältnissen entrissene Kind in einer dazu wohl auch besonders ausgesuchten und angekauften Wohnung barg und mit Wasser und Brod nährte; nicht aus Armuth und nicht aus Geiz, sondern in der Meinung, daß dies eine zu kümmerliche und kraftlose Nahrung sei, als daß das Kind lange dabei fortleben könne.

Es ist auch möglich, daß diese indirecte Verfahrungsweise im Einverständnisse mit dem vornehmen Anstifter der That selbst geschah, so wie, daß dieser auch um die späterhin erfolgte Aussetzung des heranwachsenden Knaben wußte. Auf jeden Fall scheint derselbe bei Ausführung der beiden Mordanfälle betheiligt gewesen, namentlich bei dem Nürnberger Attentat mit dem Thäter in unmittelbarer Verbindung gestanden zu sein.

Das lebendig begrabene, dem Tode geweihte Kind, auf dessen Ende man wartete, wollte gleichwohl nicht sterben; es gewöhnte sich an die einsame, dunkele Gefangenschaft, an die einförmige Beschäftigung mit den Spielsachen, die man ihm in seinen Kerker mitgegeben, und an die einfache Kost, die hinreichte, sein Leben zu erhalten und es körperlich [203] zunehmen zu machen, ohne es mit aufregenden, fauligen und giftigen Substanzen zu erfüllen, wie eine in gewöhnlicher Art eingerichtete Diät gethan haben würde, die ohne Thätigkeit und Bewegung in freier Luft ihre Schädlichkeiten wohl um so sicherer entfaltet und dem Wohlsein und Leben des Gefangenen bei Weitem gefährlicher gewesen wäre, als die so ärmliche, aber unschuldige, bei welcher er verkommen sollte. Er lebte von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr immer so fort, wuchs körperlich, blieb aber der Seele nach ein Kind und ward so endlich ein großer, unbehülflicher Bursche, der seinem Verpfleger ohne Zweifel sehr lästig war und nicht geringe Sorge machte. Es mochte eine Veränderung der Lebens- und Wohnungsverhältnisse hinzukommen; man mochte nicht wissen, wie man den Knaben noch fernerhin so verbergen und erhalten sollte; es trat vielleicht ein in Angst setzender besonderer Umstand ein; der Verpfleger dachte vielleicht bei zunehmenden Jahren an seinen eigenen Tod und wollte den Seinigen keine so fatale Erbschaft hinterlassen u. s. w. Man braucht jedoch von all dem Nichts anzunehmen; es ist ganz begreiflich, wie man auch ohnedies zu dem Beschluß kommen konnte, sich des jedenfalls sehr unbequemen und gefährlichen Pfleglings zu entledigen. Indem man aber einen Mord jetzt wohl noch mehr, als früher scheute, nahm man eine Art von Aussetzung zu Hülfe, bereitete den jungen Menschen zu seinem Eintritte in die Welt [204] nothdürftig vor und brachte ihn nach der wahrscheinlich ganz nahe liegenden Stadt Nürnberg, in der Hoffnung, daß man sich seiner daselbst nothdürftig annehmen und auf irgend eine stille, dunkle Weise versorgen oder verwenden werde.

Als aber die Sache ein so enormes Aufsehen machte und sich so drohend anließ, namentlich was die erwachenden Kindheits­erinnerungen Hauser's betrifft, die man wohl nicht für möglich gehalten hatte, erschrack man und hielt es für eine unumgängliche Notwendigkeit, ihn nun dennoch nachträglich aus der Welt zu schaffen. Es liegt die Vorstellung nahe, der ehemalige Verpfleger Hauser's sei nun auch Derjenige gewesen, der den Mord übernahm, wobei er von dem sogar persönlich nahen vornehmen Verbrecher wohl auf alle Weise unterstützt wurde, fein gekleidet, von unverdächtigem Aussehen und mit allen möglichen Hülfs- und Sicherheitsmitteln versehen war. Das Nürnberger Attentat wurde gleichwohl sehr ungeschickt und unglücklich ausgeführt. Dem Thäter gebrach es bei der That an Muth, Fassung, Besonnenheit; der, wie es scheint, auf den Hals berechnete Schnitt ging bei einer instinktartigen Beugung Hauser's in die Stirne, und hatte zwar einen bedeutenden Blutverlust und ein schweres, bedenkliches Krankenlager, aber keinen Tod zur Folge; und so war die Sache nur noch schlimmer gemacht, [205] als sie gewesen war. 1) Wahrscheinlich wurde für den zweiten Versuch ein anderes, besseres Werkzeug, ein in solcherlei Geschäften und Verrichtungen nicht ungeübter Mensch gedungen, der das grausame Werk denn auch glücklich zu Stande brachte. Zuvor aber mußte H. von Nürnberg, wo er in zu treuer und sorglicher Obhut gehalten wurde, entfernt werden, wie es denn auch in der schlauesten, anständigsten und verdachtlosesten Manier geschehen ist, indem man ihn nach Ansbach, dem Wohnsitze Feuerbach's, brachte, wo man aber, nachdem man erst diesen hinweggeschafft, H. in den Verdacht der Lüge und Gaukelei gebracht und die Sorge für dessen Sicherheit hatte einschlafen lassen, mit seiner Beseitigung kein schweres Spiel mehr hatte.

Es mußte noch Etwas geschehen. Die nach Ungarn hin gerichtete Untersuchung mußte in die Hand genommen und behandelt werden, wie es im Interesse der verbrecherisch Betheiligten war. Auch dies gelang, wie denn überhaupt diese Geschichte zum Belege dient, was Rang und Geld selbst in so schwierigen Fällen gefahrlos zu vollbringen vermögen. [206]

In Ungarn scheint H. in seiner Kindheit eine Zeit lang gelebt zu haben, da er Wörter und Redensarten verstand, die den dort gebräuchlichen Sprachen angehören, und andere Erinnerungen hatte, die auf dieses Land zu beziehen sind. Wären nicht zugleich auch Spuren vorhanden, die so bestimmt auf England deuten, so würden sich die Vermuthungen ganz nur auf Ungarn beschränken. Daß die Unter­suchung, die hier Graf Stanhope anstellen ließ, kein Resultat ergab, ist kein Beweis, daß an der ganzen Sache Nichts war; denn diese Untersuchung wurde augenscheinlich ebendeßhalb angestellt, damit Nichts herauskomme; es war eine Unterdrückung und Vertuschung unter dem Vorwande der Untersuchung. Da nun aber England mit in's Spiel kommt, so ist zu vermuthen, daß sich zu der Zeit, in welche Hauser's Kindheit fällt, eine vornehme englische Familie, deren Kind er war, in Ungarn aufgehalten oder daß H. aus einer vornehmen ungarischen Familie gewesen, die mit einer englischen in sehr naher Verwandschaft stand, so daß zwischen beiden Erbschaftsrechte Statt fanden. Es ist möglich, daß man in Ungarn und England noch zu ermitteln vermag, was das für Familien und Verhältnisse waren. In Ungarn wurde H. wahrscheinlich den Seinigen verbrecherisch entrissen und dann nach einem deutschen Orte gebracht, um ihn im Stillen bei Wasser und Brod verkommen zu lassen. Dieser Ort kann nicht weit von Nürnberg entfernt gewesen [207] sein; hier kannte der Mann, der den Findling nach Nürnberg brachte, Lokalitäten, Sitten, Personen und Verhältnisse, wie insbesondere die Wahl des zweiten Pfingsttages, wo diese Stadt wie ausgestorben ist, zum Aussetzungstage, 2) und die Adresse des dem Ausgesetzten mitgegebenen Briefes beweist; hier traf H. nach einiger Zeit die besondere Art von Brod wieder, womit er während seiner Gefangenhaltung gefüttert worden war; auch ist es nicht glaublich, daß man den sonderbaren Jüngling aus weiter Ferne so heimlich und spurlos hergeschafft haben sollte. Zu Fuß konnte H., der damals erst gehen lernen mußte, keinen weiten Weg gemacht haben; daß er im Schlafe, zumal nach erhaltenem Schlaftrunke, gefahren worden, ist möglich; aber er wußte nicht das Geringste davon. Er erzählte nur, wie er Nachts aus seinem Kerker herausgetragen, dabei eingeschlafen, dann wieder aufgewacht und gezwungen worden sei, sich vorwärts zu bewegen und dabei das noch ganz ungewohnte Gehen zu lernen, [208] wobei er, was sehr wichtig ist, nur zweimal zu essen bekommen und niemals seine Nothdurft verrichtet haben will.

Der Ort, wo er eingekerkert gewesen, scheint ein kleines, kellerartiges Gemach unter der Erde gewesen zu sein. Als ich ihn im Jahre 1828 in einen kleinen Hauskeller führte, sagte er, so sei sein Aufenthalt beschaffen gewesen, nur noch kleiner und dunkler. Er behauptete, von da heraus erst einen kleinen, dann einen großen Berg emporgetragen worden zu sein. Seine nähere Beschreibung der beiden gab zu erkennen, daß der erstere eine kleine schmale Treppe, der andere eine Anhöhe im Freien, ein grün bewachsener Hügel oder Berg gewesen. Hätte man sogleich in der Nähe der Stadt die erforderlichen Nachforschungen angestellt, so wäre es wohl gar nicht schwer gewesen, den ehemaligen Aufenthalt des Findlings zu ermitteln, zumal da in der feineren, stark gewürzten Brodart, dem sogenannten Vorlaufbrode, das er dort regelmäßig genossen hatte, eine sehr verrätherische Anzeige gegeben war.

Dürftig und darbend kann Hauser's Verpfleger nicht gewesen sein; das beweist vor Allem der eben erwähnte Umstand, daß er ihn nicht mit gemeinem, grobem Schwarzbrode, sondern stets nur mit jenem besseren fütterte, wie er es wohl selbst täglich zu genießen pflegte. Auch wird der von H. mitgebrachte Goldsand schwerlich aus der Hütte des „blutarmen Mannes“ gewesen sein, [209] den Eschricht in seinem „Unverstand“ zum Pflegevater Hauser's macht. Jener Mann hat auch wohl über eigene, geräumige Localitäten zu verfügen gehabt, so daß er für das zu verbergende Kind ein geheimes, abgeschlossenes Gemach einrichten und davon so viele Jahre lang alle Menschen abhalten konnte. Man kann sich vorstellen, daß er sich mit dem Gelde, das er sich erworben und insbesondere für Hauser's Beseitigung erhalten hatte, in der Umgegend von Nürnberg angekauft und selbstständig eingerichtet, daß er daselbst ein kleines Gut besessen habe, wo er ganz für sich schalten und walten konnte.

Die auf eine deutsche Fürstenfamilie bezüglichen, irreleitenden Angaben des Briefes, von denen wir oben unter XVI. gehandelt, scheinen einen nicht ganz gemeinen Mann zu verrathen, einen solchen, der auch wohl einigermaßen mit fürstlichen Geschlechtern und Genealogien bekannt gewesen; doch kann diese Bekanntschaft auch jenem vornehmen Manne zugeschrieben werden, der der Urheber der ganzen Begebenheit war und auch hier wieder im Spiele gewesen sein mag. Daß der 7. October statt des 17. steht, dürfte nicht diesem, sondern dem Verpfleger Hauser's beizumessen sein, der die ihm gelieferten Notizen abzuschreiben hatte und hiebei diesen Fehler beging. Der beigelegte, angeblich von der Mutter des Findlings, einem armen, ungebildeten Mädchen geschriebene Zettel ist mit [210] lateinischen Buchstaben geschrieben. Der handgreifliche Grund ist der, daß auf diese Weise der gleiche Ursprung des Zettels und des Briefes und die Aehnlichkeit der Schriftzüge in beiden verdeckt werden sollte. Aber ein armes Mädchen von so wenig Bildung, als der Styl des Zettels ausdrückt, schreibt nicht mit lateinischen Buchstaben. 3) Es ist daher um so stupider, zu glauben, daß hier ein ächtes Dokument vorliege. War der Unbekannte ein Deutscher, so zeigt die lateinische Schrift, daß er in formeller Bildung weit höher stand, als der Styl des Briefes, und des Zettels an die Hand giebt. Uebrigens kann auch angenommen werden und ist weit wahrscheinlicher, daß er fremd gewesen und sich als fremder ursprünglich einer anderen Schrift, als der deutschen bedient habe.

Feuerbach stellt in seinem „Memoire“ die Meinung auf, der Mann, der Hausern gefangen gehalten, sei sein [211] Retter und Wohlthäter gewesen, indem er ihn vor denen, die ihm nach dem Leben strebten, verborgen hielt. Er glaubt einen katholischen Geistlichen darin zu erkennen, der auch, wie die mitgegebenen geistlichen Büchlein zeigten, für Hauser's Seelenheil besorgt gewesen. Derselbe habe denn auch in den Brief jene auf das Haus B. führenden Spuren eingestreut, die Feuerbach für aufrichtige Anzeigen der Wahrheit hält.

Ich kann hiemit nicht stimmen. Alles was man von Seiten der im dunklen Hintergrunde der Geschichte stehenden Persönlichkeiten der Welt Preis gab, scheint mir nur den Zweck der Täuschung und Irreleitung gehabt zu haben, worüber ich besonders unter XVI. gehandelt. Auch finde ich Züge von Hohn und Gemüthsrohheit, die nicht zu Feuerbach's Vermuthung passen. So wurde dem Findling auch ein Buch mitgegeben, das den Titel führt: „Kunst, die verlorene Zeit und übel zugebrachte Jahre zu ersetzen.“ Das ist ein frecher, empörender Spaß, der sich auf die dem Armen geraubte Jugendzeit bezieht. Es heißt ferner in dem Briefe: „Ich habe ihn christlich erzogen und seit 1812 keinen Schritt aus dem Hause thun lassen,“ was wieder ein so grauenhafter Scherz und Hohn ist, wozu auch der Name Hauser d. h. der im Hause Lebende oder im Hause Gehaltene gehört. Und endlich: „Wenn Sie ihn nicht behalten wollen, so müssen Sie ihn abschlachten oder im Rauchfang aufhängen.“ Solche [212] Aeußerungen würde ein Mensch von edlerer Natur und von besserem Charakter schwerlich gethan haben. Dabei kann man immer annehmen, daß dieser Mann doch kein Mörder von Profession gewesen, daß er den Mord des Kindes zwar übernommen und versprochen, um die gewiß sehr ansehnliche Belohnung dafür zu erhalten, dasselbe aber, um nicht ein direktes Verbrechen der Art zu begehen, gleichwohl verschont habe, in der Hoffnung, daß es bei so karger Kost nicht lange leben werde; so wie endlich, daß es ihm, als er die blutige That nachträglich doch noch vollbringen sollte, an Muth und Besonnenheit gefehlt, sie glücklich auszuführen. Der Charakter dieses Individuums, wie man sich ihn aus so manchem Grunde zu denken hat, steht mir sehr deutlich vor der Seele. Es ist eine Mischung von Rohheit und Bildung, Frechheit und Feigheit, Verworfenheit und Scheu vor dem Aeußersten, wie sie wohl nicht selten vorkommen mag. Ich stelle mir vor, daß es ein in praktischen Dingen wohl erfahrener und geübter Diener vornehmer Leute gewesen, ein Mensch, der sich für Geld zu Allem brauchen ließ, doch eine Grenze hatte, über die er seines Vortheils wegen zwar ebenfalls gerne hinausgegangen wäre, aber nicht hinausgehen konnte. Er mochte auch wohl des Treibens satt sein und sich nach Ruhe und Selbstständigkeit sehnen. Er benutzte daher vielleicht die Hauserische Geschichte, für die er gewonnen und gedungen wurde, um sich mit dem erworbenen, [213] insbesondere durch diese Geschichte bedeutend angewachsenen Vermögen in die Verborgenheit zurückzuziehen, wohin er das dem Untergange geweihte Kind mitnahm und so viele Jahre lang im Stillen verpflegte, bis er endlich, um sich auch dieser Last und Gefahr zu entledigen, zur Aussetzung schritt.

H. glaubte von dem Manne zweimal einen ungarischen Fluch gehört zu haben, einmal im Kerker, als er von ihm geschlagen wurde, das andere Mal auf dem Wege, wo die mühselige und beschwerliche Fortschaffung eines so unbehülflichen Wesens zu Ausbrüchen der Ungeduld und des Aergers in der That veranlassen konnte. Hat es mit diesen Erinnerungen seine Richtigkeit, so war der Mann aus Ungarn gebürtig und bediente sich, obwohl seiner Heimath entfremdet, noch immer zu Zeiten, wie wenn er im Zorne war und mit sich selber sprach, der vaterländischen Ausdrücke und Ausrufe. Auch der Styl der von H. mitgebrachten Briefe scheint einen Ausländer zu verrathen. Die Sprache kann verstellt sein, um für die fingirten Individuen, von denen die Briefe sein sollten, einen so ganz gemeinen und bildungslosen Mann und ein so ganz armes und unwissendes Mädchen zu passen. Aber zu sagen: „Das Kind – – – – sie heißt,“ und auf diese Weise nicht nur das Neutrum „Kind“ als Femininum zu behandeln, sondern auch von einem männlichen Kinde zu sprechen, als wäre es ein weibliches, ist so sprachwidrig [214] und unnatürlich, daß sich wohl Niemand in Deutschland so ausdrückt, und daß Etwas der Art einem geborenen Deutschen schwerlich in den Sinn kommen möchte.

H. gab an, daß der Mann allerlei mit ihm gesprochen und daß er es verstanden habe. Das will nicht gut zu dem Anfangs in Nürnberg gezeigten Unvermögen passen, das zu ihm Gesprochene zu verstehen. Aber auch hier wohl ist der Widerspruch nur ein scheinbarer. Wahrscheinlich vernahm H. aus dem Munde des Mannes, wenn ihm dieser nicht die deutschen Worte, die er sagen sollte, mechanisch einprägen, sondern sich mit ihm verständigen wollte, die Laute eines anderen Sprachstammes, die ihm bekannter und von seiner Kindheit her wenigstens einigermaßen verständlich waren. Das Deutsche kam Hausern hart vor und er erkannte darin nicht seine Muttersprache. 4)

In Betreff der Aussetzung Hauser's und seiner Ankunft in Nürnberg ist noch Folgendes zu bemerken. Die Stadt war zu der Zeit dieses Ereignisses, so wie es Feuerbach hervorhebt, verlassen und menschenleer genug; und da konnte man so mitten darin, zumal in einer von den Hauptpunkten des Verkehrs entfernten Gegend derselben schon Etwas wagen, weßhalb denn auch offenbar gerade [215] dieser Zeitpunkt und diese Gegend gewählt worden war. Um so belebter indessen war, wie schon Schmidt von Lübeck erinnert, die Umgegend; die Stadt war so zu sagen, nicht in der Stadt, sondern vor der Stadt, und um so schwieriger ein heimliches Einbringen des wunderlichen Geschöpfes, das noch nicht einmal ordentlich gehen und die Füße setzen konnte. Die außen umher zerstreute Bevölkerung bildete eine Art von Wache und Cordon; hier eine so seltsame und auffallende Contrebande bei hellem, lichtem Tage durchbringen und einschwärzen zu wollen, wäre ein allzu kecker Gedanke gewesen; und wäre derselbe auch glücklich ausgeführt worden, so wären die Wanderer doch schwerlich ganz unbemerkt geblieben und es hätte dies wenigstens weiterhin seine Folgen gehabt. Wie nehmlich die Erscheinung des Findlings so stadt- und weltkundig wurde und so unendlich viel zu sprechen und zu rathen gab, da hätte unter den Bewohnern der Stadt, die damals außerhalb derselben gewesen, oder unter den im Umkreise Wohnenden, doch wohl Einer und der Andere daran gedacht und erzählt, wie ein sonderbar aussehender, höchst ungeschickt und schwerfällig einherwandelnder, Schmerz, und Leiden verrathender Bursche der Stadt zugeführt oder zugeschleppt worden sei. Graf Stanhope ermangelt nicht, diese Schwierigkeit hervor­zuheben und dabei eine darauf bezügliche Stelle aus Schmidt von Lübeck's Schrift über Kaspar Hauser zu citiren. Er setzt hinzu: „Man [216] sieht nicht ein, warum Hauser's Führer ihn nicht gleich bei einem der Stadtthore oder auf einer der Promenaden um die Stadt herum ausgesetzt, warum er ihn bis in die Nähe des sogenannten Unschlittplatzes gebracht, der von jedem Thore der Stadt ziemlich weit entfernt ist, warum er ihn weiter geführt, als für seinen Zweck gerade nöthig war, was ihn in die größte Verlegenheit gesetzt hätte, wenn H. aus Ermattung hingesunken wäre, wie es nach dessen Beschreibung öfters auf der Reise geschehen ist.“ Sehr richtig, Herr Graf! Es fehlt Ihnen durchaus nicht an Verstand und Scharfsinn, so wie Sie auch von Allem trefflich unterrichtet sind. Aber warum sagen Sie Nichts von der Lösung des Räthsels, die schon bei dem doch zu gleicher Zeit von Ihnen citirten Schriftsteller zu finden? – Sie spielen ein sehr falsches Spiel, das springt auch hier wieder in die Augen.

Die Sache ist diese. Entweder war Hauser in Nürnberg selbst versteckt und die scheinbare Wanderung bestand nur darin, daß man den Knaben, bevor man ihn aussetzte, im Freien, etwa in einem Hofraum oder Garten, vorerst ein wenig im Stehen und Gehen übte. Oder er wurde zwar nach Nürnberg von außen hereingebracht, aber Abends oder bei Nacht, und dann in irgend einem Verstecke bis zur Zeit seiner Aussetzung verborgen gehalten. Ersteres ist das weniger Wahrscheinliche, weil es zu sehr wider die Schilderungen streitet, die H. mündlich und [217] schriftlich von seiner Wanderung gemacht. Dagegen kann das Zweite unbedenklich festgehalten werden.

Hauser's Verpfleger hatte sich, wie es scheint, nicht nur in der Nähe Nürnbergs in einem eigenen, isolirten Besitzthume angesiedelt und eingerichtet; er hatte auch einen Fuß in der Stadt selbst. Es bedurfte keines allzugroßen Aufwandes, um sich daselbst ein kleines, ausschließliches Eigenthum zu verschaffen oder sich irgend eine verschlossene Localität zu miethen, zu der er allein den Schlüssel hatte und die ihm und dem Knaben auf kurze Zeit zum geheimen Aufenthalte dienen konnte. Die elendeste Baracke, ein Stall u. dergl. reichte hin, und wir haben es ja nicht mit einem armen Manne zn thun. Dieses Versteck mochte sich in einem der obskursten und abgelegensten Gassen und Winkel der Stadt befinden, auf einem Punkte, wo ohne besondere Veranlassung kein anständiger Mensch, ja überhaupt Niemand, der da nicht speciell einheimisch ist und zu thun hat, hinzukommen pflegt. Da hinein wurde im Dunkel des Abends oder der Nacht der von der qualvollen Wanderung erschöpfte, weinende, nur auf sich und seine Schmerzen aufmerksame, von einer Ohnmacht in die andere sinkende Knabe geschafft. Er wird da auf der Stelle, wie nachher im Stalle des Rittmeisters geschah, in einen tiefen und langen Schlaf verfallen sein; es wurde ihm da vergönnt, sich vor seinem Eintritt in die Welt noch einmal recht auszuruhen und zu [218] der zu spielenden Rolle zu stärken, was gewiß sehr nöthig war. Am andern Tage führte man ihn zu gelegener Stunde von da heraus, geleitete ihn wohl noch ein Paar einsame Pfade und enge Gäßchen hindurch und überließ ihn auf dem bekannten Platze seinem Schicksale.

Der Mann konnte hierauf, wenn er es für gut fand, sofort auch wieder in jenen Versteck zurückeilen, sich da noch ferner verbergen, bis es wieder Nacht wurde, sich auch wohl umkleiden, in Folge dessen als eine ganz andere Person erscheinen und sich so in der Stadt herumtreiben oder nach seinem Wohnort zurückkehren – kurz es scheint ein solcher Ort in jeder Beziehung zu dem Plane gehört zu haben und zu dem glücklich auszuführenden Werke nöthig gewesen zu sein.

Bei Nacht wurde H. aus seinem ersten Gefängnisse herausgetragen; dann muß er einen Weg im Freien und bei Tage gemacht haben, da ihn, wie er angab, die Augen vom Lichte schmerzten, und ihn ein Paar Mal der Regen benetzte, da er auch vom Grün des Weges und andern Beschaffenheiten des Bodens sprach, auf den er wandernd niederblickte. So ging ein Tag dahin; des Abends brachte man ihn in die Stadt hinein und in jenen Versteck, am nächsten Tage wurde die Aussetzung bewerkstelligt und so war alles innerhalb zweier Nächte und Tage zu Stande gebracht.

Zweimal glaubte H. auf dem Wege gegessen, öfters [219] getrunken zu haben. In seinem Käfig bekam er Morgens seine Portion; das war für den ganzen Tag. Dieser Gewohnheit nach wird er einmal am ersten Tage und einmal am zweiten gesättigt worden sein. Die meiste Zeit ist wohl mit Ohnmachten und Schlafzuständen hingegangen.

Indem H. seine Wanderung beschreibt, 5) weiß er nicht das Mindeste von Gegenständen, Umgebungen, Ortschaften, Vorgängen, die um ihn herum bemerklich waren. Er spricht nur von dem, was unmittelbar mit ihm vorgenommen worden, was er zu thun und zu leiden gehabt. Er erzählt, wie er aus seinem Kerker herausgetragen und dann zum Gehen angehalten worden sei, wie ihn die Füße von dieser Anstrengung, die Augen vom Lichte geschmerzt, wie er zwischendurch das Bewußtsein verloren und in Ohnmacht oder Schlaf gesunken, wie ihm sein Führer geboten, auf den Boden zu sehen und ihn, wenn er kraftlos wurde, mit dem Gesicht auf den Boden gelegt; wie er vom Regen naß geworden und dergleichen. Ob und wann er Wald oder Feld, Land oder Stadt durchwandelt, ist nicht bemerkt; Bäume, Gebäude, Gewässer, Brücken, Wagen, Menschen, Thiere wurden nicht wahrgenommen; nur mündlich sagte er Einiges von der Beschaffenheit des [220] Weges, auf den seine abwärts gerichteten Blicke fielen. Von einem Eintritt in die Stadt zu einem Thore verlautet Nichts; er ist blind für Alles umher, nur auf sich, als dies empfindende, mißhandelte, schmerzvolle Subjekt beschränkt. In Herrn v. Hermann's Aufzeichnungen heißt es: „Der Mann sagte ihm, in dem großen Dorfe wohne sein Vater; er sah aber Nichts davon, da er auf den Boden blickte.“ Es stimmt damit merkwürdig die Aussage eines Polizeisoldaten, der ihn in der Stadt und außen herum führte; „er betrachtete,“ sagte Bleumer, „keinen Gegenstand, den er auf seinen Spaziergängen sah, mit Aufmerksamkeit.“ 6) Auf diese nicht natürliche, sondern künstlich erzeugte Idiotie war denn auch wohl gerechnet. Der Führer gab sich auch noch überdies alle Mühe, Hausern zu verhindern, etwas Anderes wahrzunehmen, als was ihm beim Niedersehen unmittelbar vor Augen war. Und so hatte man seine Erinnerungen nicht zu fürchten. Es giebt in der That nichts Dürftigeres, als seine Darstellung der Dinge, die sich unmittelbar vor seinem Eintritt in die Welt begeben hatten.

Ganz anders freilich verhielt es sich mit Erinnerungen, die sich von der seiner Einsperrung hervorgegangenen Lebensperiode her datiren. Sonst pflegt das der Zeit nach Nähere erinnerlicher zu sein, als das in ferner Vergangenheit [221] Zurückliegende. Hier war es umgekehrt und mußte so sein; die Exception war auch hier das Natürliche, so sonderbar die Sache auf den ersten Anblick erscheinen mag. In jener Zeit war Hauser's Geist und Bewußtsein noch kindlich unreif, aber nicht gewaltsam unterdrückt, verdumpft und abgestumpft, wie späterhin, da er erst wieder zum geistigen Leben zu erwachen hatte. Auch war er in reichen, vornehmen Verhältnissen; eine Fülle von Eindrücken wirkte aus pracht- und lebensvoller Umgebung in sein Inneres hinein und erfüllte es mit Bildern, die sich um so fester einprägten, je bestimmter, glänzender, charaktervoller sie waren. Wenn man Erinnerungen aus so frühem Alter gleichwohl für unmöglich erklärt, 7) so ist Folgendes zu entgegnen. Bei einem Menschen, der sich in gewöhnlicher Weise mitten in Welt und Menschheit fortentwickelt, werden die ersten Kindheits­erinnerungen durch eine Masse von nachfolgenden Eindrücken verwischt und verdrängt, die noch dazu mit immer reiferem Bewußtsein und größerem Interesse aufgenommen und festgehalten werden, so daß die dagegen nur schwachen Kindheitsbilder bald gänzlich weichen müssen. Bei Hauser folgte auf jene ersten Kindheitsjahre kein weiteres Leben in der menschlichen Societät; er wurde hinein gestoßen in die tiefe, leere Nacht seines öden Kerkerlebens, wo er sich [222] so viele Jahre lang nur mit einigen ärmlichen Spielsachen beschäftigt und wahrscheinlich, wie er auch selber meinte, die meiste Zeit verschlafen hat. 8) Zwischen seiner freien Kindheit und seinem nachherigen Wiedereintritt in die Welt lag so gut, als Nichts; die Eindrücke seiner Kindheit waren daher keine veralteten, verblaßten, sondern noch frisch-lebendig in seinem Innern bewahrte Seelenbilder, die in Träumen hervortreten und im Wachen bei gegebenem Anlasse hervorspringen konnten, als wären sie erst von gestern her. Auch in seinem Kerker wird H. geträumt haben – was wird da der Inhalt seiner Träume gewesen sein? Gewiß nicht blos sein einsames, armseliges, inhaltsloses Kerkerleben, sondern vielmehr das, was diesem vorausgegangen.- Und je öder und dumpfer sein waches Dasein war, desto lebendiger vielleicht war seine Seelenthätigkeit im Schlaf. Das Schloß, von dem er in Nürnberg träumte, wird ihm, so lange er eingekerkert war, im Traume vorgekommen sein, und zu Nürnberg setzte sich dieses Traumbild nur fort und vermischte sich mit dem Bilde seines damaligen Lebens in der Menschenwelt, vergl. Anhang Nr. III. So gestaltet sich ein enger, stetiger Zusammenhang von Vorstellung und Erinnerung, worin gar Nichts mehr befremdlich und unmöglich, sondern Alles ganz so erscheinen wird, wie es einer gründlichen psychologischen [223] Forschung und Einsicht nach in der Ordnung ist. Ich kann hinzusetzen, daß selbst bei einem gewöhnlichen Lebensgange Erinnerungen aus sehr früher Kindheit nicht immer gänzlich fehlen, wie H. E. behauptet. Ich kenne eine Dame, die sich einzelner Scenen und Gegenstände aus einer Zeit erinnert, wo sie nur erst 1 1/2 und 2 Jahr alt gewesen sein muß. Jene Einwendung ist daher nicht einmal in Beziehung auf regelmäßige Entwicklungen von Gewicht.

Nun noch eine Bemerkung. Ich kann und will es nicht verhehlen und habe es in diesem Buche oft und deutlich genug zu erkennen gegeben, daß mein stärkster Verdacht in der Hauserischen Angelegenheit auf den Grafen Stanhope fällt, mit dessen Benehmen und Wesen es unmöglich ganz richtig sein kann. Um aber so vorsichtig und billig, als möglich, zu verfahren, so will ich noch dieses bemerken. Es ist denkbar, daß St. nicht in seinem eigenen Interesse, sondern befreundeten und verwandten Personen zu Liebe gehandelt habe, die denn als die eigentlichen, ursprünglichen Verbrecher zu betrachten wären. Man wird dies vielleicht nicht für die wahrscheinlichste der hier möglichen Ansichten halten; ich habe jedoch mit diesem Zusatze eine Pflicht der Milde und Schonung erfüllt, von der ich mich selbst einer so verdachtvollen und unheimlichen Erscheinung gegenüber, nicht entbinden zu dürfen glaubte.

 

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1) Pfarrer Fuhrmann in seiner Trauerrede erwähnt des Nürnberger Mord­versuches „dessen Andenken H. in einer Jedem sichtbaren Narbe auf der Stirne mit sich in's Grab genommen.“ Weiterhin heißt es: „Nur noch sorgfältiger bewacht, noch emsiger beobachtet, noch liebevoller gepflegt, gedieh H. sichtbar an Körper und Geist“ u. s. w. Jene Narbe ist auch auf Hauser's Bilde zu sehen. 

2) „Der zweite Pfingsttag gehört zu Nürnberg zu den vorzüglichsten Belusti­gungstagen, an welchem der größte Theil der Einwohner sich auf's Land und in die benachbarten Ortschaften zerstreut. Die im Verhältnis zu ihrer dermaligen spär­lichen Bevölkerung ohnehin sehr weitläufige Stadt wird dann, zumal bei schönem Frühlingswetter, so still und menschenleer, daß sie eher jener verzauberten Stadt in der Sahara, als einer rührigen Gewerbs- und Handelstadt ähnlich. Besonders in einigen, von ihrem Mittelpunkte entfernteren Theilen kann dann manches Geheime öffentlich geschehen, ohne aufzuhören, geheim zu sein.“ Feuerbach, Kaspar Hauser S. 1. 

3) Der Zettel bestand aus einem Octavblättchen folgenden Inhalts: Das Kind ist schon getauft. Sie heist Kaspar in [einen] Schreibname misen Sie im Selber geben das Kind moechten Sie aufziehen. Seine Vater ist ein Schwolische gewesen wen er 17 Jahr alt ist so schicken Sie im nach Nirnberg zu 6ten Schwolische Regiment da ist auch sein Vater gewesen jch bitte um die erziehung bis 17 Jahre geboren ist er im 30. Aperil 1812 im Jaher ich bin ein armes Mägdlein ich kan das Kind nicht ernehren sein Vater ist gestorben. 

4) Nach Bäumler's Manuskript. 

5) Es sind die schriftlichen Aufsätze gemeint, die noch zur Zeit in meinen Händen sind. 

6) Materialien S. 49. 

7) Vergl. Eschricht, „Unverstand“ S. 141. 

8) Vergl. „Mittheilungen“ II. S. 1 f.