B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Wilhelm Waiblinger
1804 -1830
     
   


D i e   B r i t e n   i n   R o m

N o v e l l e
1 8 2 8

Text:
Wilhelm Waiblinger,
Mein flüchtiges Glück. Eine Auswahl
Hrsg.: W. Hartwig, Berlin/DDR 1974


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     Der Lord M. empfing täglich eine Visite des Herrn Mognaschi, des Vaters unserer schönen Camilla, und beide waren eins, ihre Kinder zu vermählen. Wie wir aber schon wissen, so konnten die Lady und die Miß die Italienerin schlechterdings nicht ertragen, und die letzte große Abendgesellschaft hatte diesen Widerwillen aufs höchste gesteigert, sei es, daß sie neidisch waren oder daß sich Camilla wenig um sie bekümmerte oder daß sie wirklich Gründe hatten, zu glauben, sie sei einer so engen Einverleibung in ihre Familie unwürdig. Genug, während die Väter beschlossen, daß die Sache vor der Abreise des Lords, welche auf den Tag nach dem St.-Peter-und-Pauls-Fest unwiderruflich festgesetzt war, in Richtigkeit gebracht werden solle, während der Vater Henrys, den wir bereits als einen höchst gutmütigen, nicht leicht affizierbaren Mann kennen, die Hoffnung hatte, an jenem Tag Sohn und Tochter mit einer Ehehälfte versorgt zu sehen, indem Miß Rebekkas Bräutigam alle Tage erwartet wurde, während Henry den Kopf voll phantastischer und barocker Liebesphantasien hatte und Camillen nur zürnte, daß sie seine schwärmerische Liebe durch ihre Kaltblütigkeit, durch ihre Heiratsgespräche so tief ins Alltägliche und Wirkliche herabziehe, beschlossen unsere beiden Britinnen, diese Verbindung des edlen Henry mit einer so unausstehlichen Person auf alle mögliche Weise zu hintertreiben.
     Noch glühte Henry vor Unmut über den öffentlichen Gesang in der Teegesellschaft, und er äußerte sich den Morgen nach der Petersreise, wo er Camillen die Aufwartung machte, sehr beleidigt darüber. „So könnt es Ihnen“, sagt' er, „am Ende noch einfallen, auf dem Theater zu singen!“ „Und was hätten Sie dagegen?“ fiel Camilla schnell ein. Aber ihr Vater strafte sie mit harten Worten, indem er sie eine Närrin nannte, welche mit ihrem eigensinnigen Trotzkopf gegen ihr Glück anrenne, und sie ermahnte, dem Bräutigam in allen Stücken zu folgen.
     Camilla hatte Mühe, sich zurückzuhalten. Der Vater ließ sie allein, und sie fragte: „Sie waren gestern also auf der St. Peterskuppel?“
     Henry erzählte die Abenteuer und Unglücksfälle dieser Luftreise, und Camilla glaubte vor Lachen ersticken zu müssen. „Einen Tee auf der Peterskuppel trinken!“ rief sie unaufhörlich, und als Henry der ungemeinen Kosten erwähnte, welche ihm diese Tour verbittert, so sprang die Italienerin vom Sitz auf und drehte sich mit schallendem Gelächter im Kreise herum. „Wahrlich“, rief sie, „das heißt auf gut englisch bezahlen!“
     Wie erstaunte Henry, als er hörte, daß man gewöhnlich diese ganze Reise mit einigen Paoli mache, daß nur ein einziger Custode zu bezahlen sei, während unserer britischen Karawane weiß der Himmel wie viele erschienen!
     Nur die Rücksicht für Camilla hielt ihn ab, auf die ganze Nation zu schimpfen, und da er doch nur ausgelacht wurde, so hielt er's für besser, von etwas anderm zu reden.
     Er erzählte, daß Rebekkas Bräutigam alle Tage erwartet werde und daß die Schwester so glücklich in dieser spirituösen Liebe sei, welche auf ebenso sentimentale Weise erwidert werde. „Meine Schwester“, sagte er, „schreibt ein Tagebuch für ihren Geliebten, sie hat keinen Gedanken, den sie nicht sogleich für ihn dem Papier anvertraute, und Sie, schöne Camilla, haben mir noch nicht ein einzig Mal geschrieben!“
     „Ich versprech Ihnen, es zu tun“, versetzte Camilla grausamerweise, „wenn Sie mir recht ferne bleiben.“
     „Wieso, Camilla?“ fragte der Engländer bestürzt.
     „Ei nun, wie kann ich Ihnen denn schreiben, wenn ich Sie alle Tage sehe? Was sollt ich Ihnen denn sagen?“ — Henry seufzte.
     „Aber, Camilla, wann hören Sie denn endlich auf, mich zu martern? Erklären Sie sich mir doch! In einem Brief erklären Sie sich! O ein Brief von Ihnen wäre mir Seligkeit; ein italienischer Brief —“
     „So will ich mich ja erklären, und jetzt —“
     „O nicht jetzt, nicht jetzt, in einem Briefe, in der Sprache der Leidenschaft, der Poesie —“
     „O guter Himmel, wie sind Sie kurios, Signor Enrico! Ich will Sie heiraten! Hier haben Sie meine Erklärung!“
     „Gott, es ist nicht möglich“, rief Henry, „ich bin der unglücklichste Mensch auf Erden!“
     „Ei wie schön!“ fiel Camilla ein, „ei wie schön! — Sie sind der unglücklichste Mensch, weil ich Sie heirate? So will ich Sie zum glücklichsten machen und Sie nicht heiraten!“
     Damit kehrte sie ihm den Rücken und ergriff ein Notenheft, indem sie darin blätterte, als ob sie allein wäre.
     Der Engländer wußte nichts mehr zu sprechen, und Camilla sagte vor sich hin: „Das ist eine wunderzarte Arie! O wie allerliebst! Die muß ich doch einmal im Palast Giustiniani singen. In einer Woche kommt die Philharmonica zusammen.“
     „Camilla, Sie plagen mich zum Entsetzen!“
     „Die wird gewiß gefallen, allgemein gefallen! Signor Enrico, wenn Sie ein Billett wollen, der Vater wird Ihnen eines verschaffen!“
     Henry ergriff ihre Hand in Verzweiflung, aber sie fuhr fort: „Ohnedies hab ich schon lange nicht mehr in Giustiniani gesungen, und sie haben mich so oft darum gebeten.“
     Indem trat der Vater ein. Camilla legte das Notenblatt auf den Tisch, kehrte sich gegen Henry um und fragte, die Hände in den Schoß legend: „Was begehren Sie, Signor Enrico?“
     Der arme Brite war in peinlicher Verlegenheit; beinahe war er aus seiner idealen Höhe herab in die Sprache des Volks gefallen und hätte zu sich gesagt: Die hat den Teufel im Leibe! Verwirrt stand er auf und sagte: „Signora ist heute bei übler Laune!“
     „Nicht doch“, rief Camilla, ebenfalls mit Lachen aufspringend, „Sie sind es vielmehr, und es kommt noch von Ihrem gestrigen Unglück her! Geschwind sagen Sie, hab ich unterdessen, während der Vater fort war, nicht alles aufgeboten, um Sie zu erheitern, um Sie vergnügt zu stimmen?“
     „Nun ja, ja doch“, stammelte Henry.
     „Sehen Sie, Vater, er muß es selbst gestehen! Er hat einen bösen Humor!“ Der Engländer stockte, er nahm den Hut, er empfahl sich, und Camilla rief mit einer tiefen Verneigung: „Ich habe die Ehre, Signor Enrico, empfehlen Sie mich doch der Frau Mutter und der liebenswürdigen Schwester!“
     Henry schied und mußte auf der Treppe ausrufen: „O wie wird das noch enden!“
     Sir Thomas hatte einen viel vergnügtern Morgen, und er hatte auch Grund dazu, da er gestern abend ja so glücklich in der Liebe gewesen. Nachdem er ein gutes Frühstück von etlichen Eiern, einem Beefsteak und einer Flasche Orvieto zu sich genommen und die Messe gehört hatte, machte er mit seinem so hoch geschätzten Freund Ironius einen Spaziergang in das alte Rom, ans Kolosseum, aufs Campo Vaccino. Jener erklärte ihm die vielen Überbleibsel des Altertums, worin der Irländer eben nicht gar bewandert schien, und erzählte ihm, daß das Kolosseum ein uraltes Gebäude sei, worin einst zu Heidenzeiten, vor und nach Christi Geburt, die Märtyrer und Heiligen wie heutzutage die Schweine par force gejagt worden. „Aber stellen Sie sich vor“, setzte er hinzu, „dieser entsetzliche heidnische Koloß hat sich nun, so groß er ist, zum rechten Glauben bekehrt und ist katholisch geworden. Lassen Sie uns hineintreten!“
     Damit führte er Sir Thomas ins Innere, und man küßte das Kruzifix mit äußerster Andacht. „Ist das nicht eine unermeßlich große Ruine der Vorwelt?“ fragte er. „Ach, groß“, war die Antwort, „ganz groß, außerordentlich groß!“
     Beim Heraustreten besah man die neuen Ausgrabungen unter dem Venustempel zur Auffindung der alten Via Sacra, die entdeckten Gräber, die vielen Gebeine, und als sich Sir Thomas sehr darüber verwunderte, bemerkte Ironius: „Ach Sie werden sich noch mehr verwundern, wenn Sie mich anhören! Wissen Sie, daß man sie wirklich gefunden hat?“
     „Was denn gefunden, was denn?“
     „Ei, was man schon seit Jahrhunderten gesucht, worüber sich schon Millionen Gelehrte, besonders englische, den Kopf zerbrochen, was man vergebens aus lateinischen und griechischen, heidnischen und christlichen Klassikern herauszubringen strebte —“
     „Und das wäre?“ fragte Sir Thomas voll Neugier.
     „Das sind Ciceros Gebeine —“
     „Der Tausend, das wäre!“
     „Sein ganzes Skelett, den ganzen Cicero de natura deorum!“
     „De natura deorum? — Der Teufel! aber wie hat man ihn denn erkannt?“
     „Das ist eben das Wunderbarste! Er ist es unverkennbar, und die Kenner der Anatomie haben noch die Beschaffenheit seiner Nase untersucht! Sie wissen, daß die ganze Christenheit Bedauern hatte, weil die Seele des trefflichen Mannes in die Hölle sollte!“
     „Very well, very well!“
     „Nun hat sich ein Franziskaner entschlossen, durch eine übermenschliche Buße diese Seele zu retten. Er geißelte sich zwanzig Jahre lang, dreimal des Tages —“
     „Entsetzlich!“
     „Und endlich hatte der Herr Erbarmen mit seinem Verehrer, er nahm die Seele des Heiden aus dem Fegfeuer; sie erschien dem Franziskaner und zeigte ihm den Ort, wo ihr Leib begraben liege. Man grub, man fand das Skelett, und in der darauffolgenden Nacht richtete er sich durch das anhaltende Gebet des Kapuziners auf, indem er sprach: ‹Quosque tandem› — doch das Latein ist Ihnen vielleicht nicht mehr geläufig — wie weit wird endlich noch sich Eure Liebe erstrecken! Er redete noch vieles; er wurde getauft, in einer christlichen Kirche begraben, und man liest nun soviel Totenmessen für ihn, als Sekunden seit seinem Abscheiden vergangen.“
     Darüber verwunderte sich Sir Thomas über die Maßen und schätzte sich glücklich, in einer Zeit geboren zu sein, wo ein solches unerhörtes Wunder geschehen. Man sprach noch lange davon, bis er an einem Triumphbogen anhielt und fragte, was denn das S. P. Q. R. zu bedeuten hätte? „Das ist eine Satire“, antwortete Ironius, „auf die Römerinnen und will heißen: Sono puttane queste Romane!“
     Die vielen Tempel und antiken Palastruinen um den Palatin her weckten Erinnerungen in Menge aus dem Altertum, zwar nicht in Sir Thomas, doch in Ironius, der seinem aufmerksamen Begleiter die seltsamsten Dinge erzählte und ihn überall bemerken ließ, wie das Christentum an Ausbreitung gewinne und die Heidentempel umher alle katholisch geworden seien.
     Zuletzt fragte Thomas: „Ich wäre doch neugierig zu wissen, ob denn zu alten Römerzeiten auch so viel Engländer nach Rom gekommen?“
     „Nein“, antwortete Ironius, „damals war's umgekehrt, damals kamen die Römer nach England.“
     Unter solchen interessanten Gesprächen erinnerte man sich, daß der Mittag herangekommen, und man ging ins bewohnte Rom, aß auf dem Spanischen Platz und verfügte sich zu Lord M., mit dessen Familie man in den Vatikan zu gehen beschlossen hatte.
     Es kostete Mühe, den Lord zur Teilnahme zu bewegen. Nur die Versicherung des Herrn Ironius, daß dies die Hauptmerkwürdigkeit Roms sei, und die Beipflichtung Henrys, welcher schon zweimal seit seinem einjährigen Aufenthalt im Museum gewesen, sowie die begeisterte Wißbegier Rebekkas, vermochte ihn dazu. Man griff nach Sonnenschirm, dem Wegweiser, der Brille, und der Onkel Kapitän erhob sich vor Erstaunen auf den Zehen, als er hörte, daß man diesmal unentgeltlich durchkommen werde.
     So ging es denn also wieder dem St. Peter zu, und man erinnerte sich mit verschiedenen Empfindungen an die Abenteuer, die man bei seinem Ersteigen erlebte. Besonders der Irländer sah mit heimlichem Grauen zu dem kleinen Punkt hinauf, worin er ohnmächtig geworden, und dachte mit Seelenangst an den schrecklichen Zustand, in dem er zwischen Himmel und Erde mit seinem Wanst im Knopfloch steckte.
     Ironius führte, wie gewöhnlich. Als man an der Säulenhalle ausstieg, welche gegen die Treppe des Bernini führt, schlug Miß Rebekka den Nibby auf und rief voll Verwunderung: „Ach liebe Mutter, sehen Sie doch, das ist ja schrecklich!“ — „Nun was denn?“ fragte diese besorgt. „Ei“, antwortete das englische Kind, „wir haben ja fürchterlich viel im Vatikan zu sehen! wie kann man denn da auf einmal fertig werden?“
     Ironius versetzte, daß man sich ja nirgends verweilen, sondern nur im Fluge vorüberlaufen müsse.
     Zuerst kaufte man denn einige Exemplare des Verzeichnisses aller vatikanischen Kunstwerke, und Rebekka verlangte, daß man zuoberst bei der Gemäldegalerie anfangen solle, weil sie im Verzeichnis das letzte sei. Man folgte, man stieg empor, man trat in die Säle.
     Jetzt schnell mit Nibby und Vasi heraus, die Brille ruhte schon längst auf den Nasen der Damen, selbst auf Rebekkas Näschen, und diese, als die Gelehrteste, sollte die Namen der Maler aus dem Buche nennen. Also hurtig: Raffael, Perugino, Fiesole, Tizian, Garofalo. Man hatte sie gehört, also auch gesehen, und ging weiter. „Hier“, rief Rebekka, „das Meisterwerk des großen Raffael, die ‹Verklärung›!“ Die Nummern an den Gemälden fehlten, und man wußte nicht, welches von den drei hier befindlichen Tableaus das rechte sei. Man fragte einen Kopisten. „Dies dort“, antwortete er. „Dies dort“, erscholl's unter den Engländern, und nun weiter. Domenichino, Tizian! Damit hatte man auch den zweiten Saal gesehen. Im dritten zwitschert' es bereits; ein Dutzend Briten und Britinnen mit ihren Büchern lief herum, und alles war voll von „what, what, what!“, wie Camilla gesagt hätte. In einer Viertelstunde hatte man alle fünf Säle durchwandert, und Ironius konnte nicht anders, er mußte sagen: „Auf diese Weise kommen wir zum Zweck und werden bald fertig sein.“
     Man ging also zurück, und als man in den ersten Saal gekommen war, fiel ihnen auf, daß ein junger Mensch in schwarzem, kurzem Rock, mit Schnurrbart und langem blondem Haar ein ganz kleines Gemäldchen kopierte. Die wißbegierige Miß ersah aus dem Katalog, daß es vom unschätzbaren Fra Giovanni da Fiesole war; aber sie konnte nicht begreifen, daß es der sonderbar gekleidete Mensch so fleißig kopierte, indem es ihr bedünken wollte, daß es doch gar nicht hübsch, sondern recht steif und närrisch sei. Sie bat also Ironius, ihn zu fragen, und dieser tat es.
     Der Maler wandte sich um und sah die Umstehenden mit derselben Miene an, wie etwa ein frommer Eremit in der Wüste, den man fragte, warum er die Madonna und das Kruzifix anbete. „Darf ich fragen“, hub Henry an, „von welcher Nation Sie sind?“ Der Maler antwortete: „Ich bin ein Deutscher.“
     Ironius sprach: „Sie tun wohl recht gut daran, von den vielen Kunstschätzen in diesen Sälen sich ebendieses Bildchen des frommen Klosterbruders zum Studium auszuwählen. Auch ich verehr ihn mit kindlicher Liebe und halte das kleine Ding hier, so unscheinbar es ist, für eines der schönsten Bilder von allen.“
     „Ach“, rief der Deutsche, „nicht bloß das, sondern geradezu für das allerschönste!“
     „Aber Raffaels ‹Verklärung› —“
     „Was ist sie gegen diesen Fiesole — sehen Sie —, doch Sie erlauben, daß ich deutsch rede, denn im Italienischen weiß ich mich noch nicht recht auszudrücken, und diese Sprache ermangelt auch der Redensarten, welche allein hinreichend sind, das Überschwengliche anzudeuten, welches wir Deutsche in der alten Schule und besonders in Fiesole finden. Dies ist der wahre Seelenmaler, der Maler der Andacht, der Religion. Wie er lebte, so malte er, aus allen seinen Köpfen und Kompositionen erkennt man sein englisches Herz. Die Kunst ist die Dienerin der Religion, beide haben nur einen Gegenstand, das Göttliche, das Unsichtbare, und dieses soll auch der Maler allein darstellen. Das Höchste soll er in uns wecken, ein unsägliches Ahnen und Fühlen, wir sollen uns in seinem Bilde gleichsam der Gottheit angenähert fühlen, seine Figuren müssen darum voll namenloser Demut und Frömmigkeit, voll unaussprechlicher Hingabe aus der Seele heraus gemalt werden. Glauben Sie, das kann man nur ahnen, nicht sagen. Aber der Künstler strebt in heiliger Glut diesem übersinnlichen Ziel entgegen; ich meine, der wahre Künstler!“
     „Aber Raffaels ‹Verklärung› —“
     .„Hat vielen Wert und ist doch im Grunde ein künstlerisches Nichts; denn sie ist ohne Religion. Welch ein moderner, üppiger, lasziver Stil! welche Koketterie! welche sinnliche Formen! Sehen Sie den Herrn an, mit welcher unwürdigen Grazie schwebt er gen Himmel! Nein, da kehr ich mein Auge wieder voll stiller Sehnsucht Fiesole zu; diese Köpfe sind christlich.“
     „Ja es ist wahr! aber sagen Sie mir doch, erkennen Sie nicht an, daß die Kunst zu jener Zeit —“
     „O stille, lieber Herr! versündigen Sie sich nicht. Damals war die Kunst in ihrem Goldenen Zeitalter —“
     „Aber etwas steif sind doch —“
     „Steif? Gott, welche himmlische, gemütliche Steifheit! Welche Einfalt! so waren die Menschen im Zustande der Unschuld, vor dem Sündenfalle; so bückten sie sich vor Gott! Das Knie ist dem Menschen nur zum Fußfall vor dem Heiligen gegeben. Diese Steifheit Fiesolanischer Frommer ist die Körperform, in die wir uns nach dem Tode verwandeln! Raffael hat in seinen ersten Arbeiten noch ihre himmlische Zartheit, ihre rührende Gemütlichkeit gefühlt und dargestellt, aber leider ist sein letztes Werk, die ‹Verklärung›, ein trauriger Beweis vom Verfall seiner Kunst und der Kunst überhaupt, die er durch seine unreligiösen, weltlichen, sinnlichen Bilder zugrunde richtete. So war der Mensch, als ihn die Schlange verführt hatte!“
     „Aber die ‹Madonna von Foligno› —“
     „Guter Himmel, welch ein Frevel, diese eine Madonna zu nennen! — Eine öffentliche Person vielmehr! — O betrachten Sie Giottos, Masaccios, Fiesoles Madonnen! Das ist der Charakter der Reinheit, der ewigen Jungfräulichkeit! Dieser Fiesole ist so unbeschreiblich zart und gemütlich, daß Sie zum Beispiel die Teufel in seiner Hölle gerade zu Heiligenköpfen brauchen könnten.“
     Indem wandte sich Ironius zu Sir Thomas und sagte: „Wenn Sie ein Gemälde wünschen, Verehrter, so will ich Ihnen anraten, diesen Herrn um eine Komposition oder wenigstens um eine Kopie von Fiesole zu bitten. Es ist nur schade, lieber Herr“, setzte er, sich zu dem Deutschen wendend, hinzu, „daß wir einer Zeit angehören, wo Leben, Kunst und Religion als so verschiedene Dinge erscheinen. Darin stehen wir den Griechen ein wenig nach.“
     „O Sie irren sich“, rief der Anbeter Fiesoles, „wir dürfen uns mit ihnen messen. Kennen Sie das ‹Klosterleben›, kennen Sie die ‹Mönche›? O darin liegt noch unendlich mehr Schönheit —“
     Unsere Engländer hatten keine Geduld mehr und rannten fort, Ironius nach. Sofort ging's im Fluge durch die Logen, und in den Stanzen Raffaels stimmte man überein, daß man nichts sehe, daß diese Säle obskure Löcher seien.
     Der Lord klagte bereits über Müdigkeit, als man ins Museum trat. Der liebe Sohn nahm ihn beim Arme und führte ihn langsam den Korridor hinab, indem er sich über die Heirat mit ihm unterhielt und ihn ersuchte, Partei gegen die Mutter zu nehmen. „Ich bin auf ewig unglücklich, teuerster Vater“, sagte er, „wenn Camilla nicht mein wird. Seien Sie standhaft und bewahren Sie mir Ihren Beistand gegen die Mutter. Eh wir nach Neapel abreisen, müssen wir Gewißheit haben. Die Vermählung feiern wir aber in Abwesenheit der Mutter, um ihr keinen Anstoß zu geben. O Vater, ich beschwöre Sie, bleiben Sie fest; ich will die Mutter heut noch um ihre Einwilligung befragen.“
     In solchen Unterhaltungen ging man den Korridor entlang zwischen den Werken alter Skulptur, ohne nur eines zu betrachten. Eben hatte sich Miß Rebekka an die Seite der Mutter begeben und ihr mit Schamröte ins Ohr gesagt: „O Mutter, es ist gar zu unartig, zu unanständig, sie sind ja alle nackt!“, als Ironius auf einen Silen wies und behauptete, daß das eine der vollkommensten Statuen sei. Der Miß flog Purpur durch das elfenbeinerne Gesichtchen, die Lady hingegen sah ihren Herrn Gemahl an, als wollte sie sagen: Du siehst also einem Silen ähnlich!
     Die Gesellschaft trat nun ins Belvedere. Henry lief mit dem Vater, sich ununterbrochen über die Angelegenheiten mit ihm besprechend, die ihm so nahe am Herzen lagen, und die Miß nahm das Verzeichnis wieder zur Hand; man kam in ein Kabinett. „Laokoon!“ rief Rebekka. Aber welche wundersame Irrung! Die Nummern der Statuen waren verwechselt worden, die des Laokoon war auf den Apollo gekommen, und so standen denn unsere kunstliebenden Briten in der Tat vor dem belvederischen Gotte, in der Meinung, daß er der Laokoon sei.
     Ironius konnte freilich ein boshaftes Lachen kaum verbergen. Man lief weiter, kam zum Laokoon und hielt ihn für Apollo nach der Nummer des Katalogs. Unterdessen hatte der Lord einen Sitz gefunden. Henry ging zurück und suchte die andern. Da kam er ins Kabinett des Laokoon.
     Er betrachtete diese so oft, so allgemein und in so hohem Grade gepriesene Skulptur eine Zeitlang und sprach zu sich selbst: „Das ist griechische Arbeit! Von diesem Bildhauerwerke spricht man in aller Welt, und Bücher sind voll darüber. Das ist das Nonplusultra von plastischer Kunst! Wie wär es, wenn ich — o das dünkt mir ein köstlicher,origineller Gedanke! —, wenn ich meinen und Camillas Namen ihm auf den Schenkel oder den Unterleib einkritzelte! Ah einzig, so würden wir unsterblich, so blieben unsere Namen ewig — dieser Marmor würd uns gleichsam ein Denkmal unserer Liebe!
     Gesagt, getan!“ rief er aus, griff nach einem Taschenmesserchen, sah sich um, ob niemand komme, und wollte eben das H seines Namens aufs Knie des Laokoon eingraben, als einer der Custoden mit einem Mordlärmen auf ihn zustürzte, ihn beim Arme faßte und nach der Wache rief.
     Henry wußte nicht, wie ihm geschah. Es währte kaum Momente, als zwei Schweizertrabanten hereinstürzten und ihm befahlen, ihnen zu folgen. Der gute Brite, der noch halb mit dem Gedanken beschäftigt war, sich unsterblich zu machen, starrte die Wache sprachlos an, während der Custode die wildesten Flüche ausstieß. Es half kein Widersetzen, Henry wurde vorn am Rock gepackt, als er nicht folgen wollte; der Lärm zog die Fremden von allen Seiten herbei, und alles rief voll Erstaunen: „Den Namen in den Laokoon einkritzeln! Das ist ja unglaublich!“
     Jetzt wurden auch unsere Briten herbeigelockt. Welch ein panischer Schrecken, als sie den Sohn mitten unter Soldaten und Custoden, unter dem Gespötte einer Menge von Fremden sahen. Der Onkel Kapitän verlangte, daß man ihn sogleich losgebe, stellte den Hut auf den Boden und machte sich bereit, mit dem Custode zu boxen, aber die Trabanten kümmerten sich nicht um ihn, sondern schleppten das unglückliche Opfer englischer Kuriosität den Korridor hinab und hinaus aus dem Museum.
     Unsere bekümmerte Familie folgte nach. Mutter und Tochter jammerten. Henry wurde in die Wachstube geführt. Man gab sogleich dem Maggiordomo Nachricht, und Ironius sagte jetzt zum Lord und zum Onkel: „Liebe Herren! jetzt nur kein Geld gespart, sonst geht's zu schlimmen Häusern. Überlassen Sie alles mir!“
     „Um Gottes willen!“ rief die Mutter. — „Geld? Geld?“ schrie der Onkel Kapitän, „wem denn Geld?“
     „Allen, allen, lieber Herr, dem Maggiordomo, dem Monsignor Segretario, dem Custode, dem Türhüter — allen, sonst bleibt unser Henry sitzen, bis er grau wird.“
     Der Lord griff nach dem Beutel. „Aber wieviel denn?“ fragte der Onkel. „Lassen Sie mich gewähren“, antwortete Ironius, „Gott weiß wieviel! Nun ist's Zeit, daß wir uns umtun.“
     Ironius suchte den Monsignor Segretario auf und drückte ihm augenblicklich fünf spanische Doppien in die Hand, indem er ihn bat, die Sache vor dem Maggiordomo zu verbergen. Der Violettstrumpf schmunzelte das schöne Geld an und versprach alles.
     Es wurde nun auch noch der Custode, die Wache, kurz alles bestochen, was hinderlich sein konnte, und unser armer Henry wurde nach zweistündiger Gefangenschaft vermittelst einer beträchtlichen Summe wieder frei.

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