BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Glückel von Hameln

um 1646 - 1724

 

Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln

übersetzt von Alfred Feilchenfeld

 

Beispiele der im Original vorkommenden

erbaulichen Erzählungen.

 

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[307]

1.

Elternliebe und Kindesliebe.

 

(S. 15 - 17 der Kaufmannschen Ausgabe.)

 

Es ist einmal ein Vogel gewesen, der hat drei junge Vögelchen gehabt und sich mit ihnen am Ufer des Meeres aufgehalten. Mit einem Male sieht der alte Vogel, daß ein großer Wind kommt und das Meer größer wird und über das Ufer tritt. So sagt er zu seinen Kindern: „Wenn wir nicht bald auf jener Seite des Meeres sind, [308] so sind wir verloren.“ Aber die jungen Vögelchen haben noch nicht fliegen können. Da nimmt der Vogel das eine Vögelchen zwischen seine Füße und fliegt mit ihm über das Meer. Wie sie mitten im Meere sind, sagt der alte Vogel zu seinem Sohn: „Mein Kind [sieh doch], welche Beschwerden ich mit dir gehabt habe und wie ich mein Leben um deinetwillen wage. Wenn ich nun alt sein werde, willst du mir dann auch wohltun und mich in meinem Alter ernähren?“ Da sagt das junge Vögelchen: „Mein herzlieber Vater, bringe mich nur über das Wasser; ich will in deinem Alter alles an dir tun, was du von mir verlangst.“ Der alte Vogel wirft seinen Sohn auf diese Reden ins Meer, daß er ertrinkt, und sagt: „Also soll man es mit einem Lügner, wie du bist, machen.“ Dann fliegt der alte Vogel wieder hinüber und holt das andere Vögelchen. Wie sie mitten ins Meer kommen, redet der alte Vogel wieder zu dem Vögelchen, wie er mit dem ersten geredet hat. Das Vögelchen verspricht ihm auch alles Gute in der Welt zu tun, wie das erste geredet hat. Aber der alte Vogel nimmt es auch, wirft es ins Meer hinein und sagt: „Du bist auch ein Lügner“ und fliegt wieder an das Ufer zurück und holt das dritte Vögelchen. Wie er auch mit dem dritten Vögelchen mitten ins Meer kommt, sagt er auch zu ihm: „Mein Kind, sieh, was ich für Beschwerden habe und wie ich mein Leben um deinetwillen wage. Wenn ich nun in mein Alter komme uind mich nicht mehr rühren kann, willst du dann auch mir Gutes tun und mich in meinem Alter ernähren, wie ich dir in deiner Jugend tue?“ Da antwortete das junge Vögelchen seinem Vater: „Mein lieber Vater, es ist alles wahr, was du [309] sagst, daß du große Not und Sorge um mich hast. Ich bin auch verpflichtet dir solches zu vergelten, wenn es [mir] möghch sein wird; aber gewiß kann ich es dir nicht sagen. Aber das will ich dir zusagen: wenn ich auch einmal Junge bekommen werde, so will ich an meinen jungen Kindern tun, wie du an mir tust.“ Da sagt der Vater: „Du redest recht und bist auch klug, dich will ich leben lassen und dir über das Wasser helfen.“

Daraus ersieht man, daß Gott den unvernünftigen Vögeln eingegeben hat ihre Jungen zu erziehen, und man sieht auch, was für ein Unterschied ist: wie Eltern sich um ihre Kinder bemühen und sie mit großer Sorgfalt erziehen; wenn aber Kinder so viel Beschwerden und Sorgen von ihren Eltern haben sollten, wie bald würden sie es müde werden!