BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Kaspar Hauser

1812 - 1833

 

Georg Friedrich Daumer:

Enthüllungen über Kaspar Hauser

 

1859

 

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[297]

VI.

Ueber Hauser's Charakter und Gemüthsart.

 

Als Hauser aus seiner Verborgenheit hervor in die Welt trat, war seine Seele der Spiegel und Abglanz einer himmlischen Güte, Reinheit und Unschuld, wie sonst noch kein Beispiel vorgekommen oder bekannt geworden war. So blieb es nicht; so konnte es in einer Welt, wie diese ist, und unter den in so besonderem Grade verderblichen Einflüssen, denen H. ausgesetzt war, so bei einem bloß menschlichen Wesen, in welchem doch immer der, wenn auch noch so tief schlummernde, Keim eines entgegengesetzten Zustandes vorhanden, unmöglich bleiben. Daß es aber einmal so war, daß diese seltenste und merkwürdigste aller mora­lischen Erscheinungen wirklich unter uns aufgetreten [298] und beob­achtet worden ist, das ist Thatsache. Es existiren dafür, auch abgesehen von meinen Relationen, die gültigsten und übereinstimmendsten Zeugnisse. Ja, es ist nachweisbar, daß H., obgleich während seines weiteren Lebens in der Welt in ein gewisses Schwanken gerathen und nicht mehr in jeder Beziehung dem bezeichneten Ideale entsprechend, doch bis zum letzten Hauche seines Lebens ein im Ganzen so guter, edler und liebenswürdiger Mensch gewesen, daß sich die Menschheit Glück wünschen müßte, wenn alle oder nur überwiegend viele Menschen diesem Bilde glichen.

Es war nicht nur die romantische Seltsamkeit seines Schicksals und seiner Erscheinung, was die Menschen anzog und fesselte, es war die ganz einzige Kindlichkeit und Lieblichkeit seines Wesens und die ma­kellose Schönheit seiner Seele, was einen so wunderbaren Zauber übte. Selbst feindselige Darstellungen können es nicht verhehlen, welchen Eindruck er zu machen, und wie er die Herzen der Menschen zu gewinnen im Stande war. So giebt Graf Stanhope an, wie nicht viel daran gefehlt, daß ihn Rittmeister Wessenich zu sich genommen, und wie er dem Gefängnißwärter Hiltel durch seine „Gutmüthigkeit und Gelehrigkeit“ so gefallen habe, daß ihn dieser Mann behalten hätte, wenn er ohne Kinder gewesen. 1) Ich selbst [299] fand mich bewogen, ihn erst Wochen lang zu unterrichten und dann zu mir ins Haus zu nehmen, wobei ich nicht den geringsten Gewinn und Vortheil hatte. Ebenso wurden Feuerbach und Pfarrer Fuhrmann in Ansbach seine Freunde und Vertreter; der letztere, wie ich selbst, trat noch nach seinem Tode als sein Vertheidiger auf, und ich nehme mich jetzt noch nach Decennien, so müde des Kampfes und so bedürftig der Ruhe, wie ich bin, mit ungeschwächter Liebe seiner an, um ihn gegen erneuerte Rohheiten und Mißhandlungen zu schützen.

Ueber die eigenthümliche Beschaffenheit seines Gemüthes, wie es in den ersten Zeiten erschien, habe ich schon in meinen „Mittheilungeu“ II. S. 7 ff. Bericht erstattet. „Das rührendste Bild der reinsten Güte, welches seine Erscheinung gewährte, übertrifft Alles, was von dieser Art die Phantasie sich erfinden könnte, und läßt sich in der Fülle seiner Lebendigkeit durch keine Beschreibung ausdrücken.“ Er empfand jeden Schmerz und jedes Leid, das Anderen geschah oder nur zu geschehen schien, ganz als sein eigenes. Er konnte nicht dahin gebracht werden, Jemanden auch nur zum Scherze einen kleinen Schlag zu versetzen; das thue ihm selber gar zu weh, sagte er. Die kalte, hartherzige Isolirung menschlicher Selbstheit und Besonnenheit, dieser wahre Sündenfall, war hier noch nicht zur Erscheinung gekommen; es stand ein paradiesischer Urmensch im Sinne der moralischen Fassung vor Augen, ein [300] anbetungswürdiges Wunder in einer grundver­derbten, in einen Abgrund von Selbstsucht und Bosheit versunkenen Menschenwelt. Wie wenig diese Schönheit und Güte des Herzens erheuchelt war, zeigte nicht selten jene „ewige Beglaubigung der Menschheit,“ ich meine seine Thränen. Sah er z. B. ein Kind züchtigen, so weinte er und kam in die äußerste Unruhe. Ein paar herrliche Aeußerungen von ihm, die auch hier am Orte sein würden, sind oben unter V.S. 80 verzeichnet, vergleiche „Mittheilungen“ II. S. 9 f., 10 f. Das Erste, was er las und verstand, war die Geschichte Joseph's und seiner Brüder. Er hatte darüber eine unaussprechliche Freude; aber über die Härte, womit Joseph seine Brüder behandelte, drückte er ein großes Mißfallen aus. Er an Joseph's Stelle, sagte er, würde sie nicht geängstigt, denen, die ihm Böses gethan, so viel gegeben, als sie nöthig gehabt, den Ruben aber, der ihm das Leben gerettet, bei sich behalten haben.

Das Thier, als fühlendes Wesen, stand ihm in gleicher Linie mit dem Menschen, und die Gräuel und Grausamkeiten, die er an Thieren verüben sah, empörten seine zarte Seele namenlos. Er hielt Jeden, der auch nur ein Insekt tödten wollte, mit den Worten ab: dieses Thier möchte auch gerne leben. Selbst die ihm so fürchterlichen Flöhe, die ihn im Thurme peinigten und mit ihren Stichen aus dem Schlafe weckten, sah er mit Unwillen tödten und begnügte sich, sie zum Fenster hinauszuschaffen. In Ludwig [301] von Feuerbachs Aufzeich­nungen finde ich folgende Stelle: „Als er Jemand eine Birne aufschneiden sah, in der sich ein Wurm befand, kam er mit Birne und Wurm zu uns in den Garten hinunter und erzählte mit einem an Abscheu grenzenden Eckel, daß Jemand Etwas habe essen wollen, in welchem so garstige Thiere wären. Als wir ihn den Wurm tödten hießen, weigerte er sich dessen und legte ihn in's Gras hinein.“ Sah er ein Thier eingesperrt, so betrübte er sich und sagte: dieses Thier wolle auch gern frei sein, warum man es einsperre? Als Jemand sagte, eine gewisse Katze solle den Schlangen vorgeworfen werden, die sich damals zu Nürnberg befanden, vergoß er Thränen des Jammers und der Angst. Sah er ein Thier nach einem Fraße lüstern, so drang er auf Befriedigung. In meinem Hause sah er einen Gegenstand, den er jetzt nicht mehr bei mir erblicken würde, einen Vogel nämlich, der getödtet und gebraten werden sollte. Das war für ihn etwas ganz Entsetzliches und Unerträgliches; ich gab ihm daher die Erlaubniß, den Vogel fliegen zu lassen. Man hat keine Vorstellung von der rührenden Kindlichkeit, mit der er für ihn bat, und von dem Entzücken, mit dem er ihn davonfliegen sah. Er erzählte mir einst mit dem Ausdruck unendlicher Wehmuth, wie Herr *** einen Hasen und zwei Vögel geschossen, die er noch bluten gesehen. Wie es denn möglich sei, daß die Menschen so gar kein Mitleid mit diesen armen, unschuldigen Geschöpfen [302] hätten, die doch Niemand etwas zu Leide thäten? Als man ihm sagte, man tödte sie, um sich von ihnen zu nähren, sagte er, man könne ja etwas Anderes essen; er genieße ja auch nur Brod.

Diese Züge fallen in das Jahr 1828, wo H. noch ganz seinen ersten unveränderten Character behauptete. Traten nun weiterhin auch theil­weise Modificationen und Abweichungen ein, so zeigten sich die edlen und liebenswürdigen Grundlagen seines Wesens doch so unver­wüstlich, daß sie bis an sein Ende bemerklich waren und die Herzen derjenigen, die dafür Sinn und Verstand hatten, mit Rührung und Zu­neigung erfüllten, so sehr man auch bereits, theils aus Opposition gegen seine allzu romantisch bedünkende Geschichte, theils aus andern, geheimen Gründen, bemüht war, Unglauben und Vorurtheil gegen ihn zu erwecken und den Samen eines ihn tief entehrenden Verdachtes zu säen. Pfarrer Fuhrmann sagt in seiner bei Hauser's Beerdigung den 20. Dec. 1833 zu Ansbach gehaltenen Trauerrede: „Harmlos, wie ihr wisset, lebte er bisher allhier, mit besonderer Aufmerksamkeit von den edelsten und angesehensten Familien unserer Stadt ausgezeichnet und geliebt von allen, die in näherem Umgange mit ihm waren.“ Feuer­bach spricht selbst noch in Beziehung auf seine damalige Lebens­periode von seiner „unbeschreiblichen Güte und Liebenswürdigkeit“ 2) und [303] der genannte Geistliche, sein Religionslehrer und Beichtvater, der ihn auch, seinen Amte gemäß, zum Tode bereitete, läßt sich in seiner Schrift über ihn ausführlich über den Charakter und die Gemüthsart desselben vernehmen und spendet ihm das schönste Lob. Die Darstellung dieses wichtigen und glaubhaften Zeugen ist auszüglich die folgende.

„Es ist mir nicht leicht ein Mensch von mehr Sanftmuth, Weichheit, Freundlichkeit, Gefälligkeit, Güte und Liebenswürdigkeit vorgekom­men, als er. Ich hatte vielfache Gelegenheit, das Alles zu beobachten. Ich fand ihn gegen Niemand feindselig gesinnt, er redete gern von Jedem das Beste; war aber weit entfernt, die Fehler und Laster, die er bemerkte, nicht für solche zu erklären. Sie beleidigten sein sittliches Gefühl; immer aber urtheilte er mit äußerster Schonung über den Fehlenden. Besonders wohl gefiel er mir bei einer Gelegenheit, wo ihm Unrecht gethan wurde, indem man einen Wunsch, wozu ich ihm selbst die Anregung gegeben, aus unreinen Motiven ableitete. Er fühlte das schmerzlich und weinte heimlich; aber es kam über seine Lippen nicht ein bitteres Wort; er fügte sich und redete sogar mir, als ich mich mit Verwunderung und Tadel über die Sache äußerte, beruhigend zu.“

„H. konnte keinen Menschen wehe thun und machte mir, wie ich an seinen Mienen sah, öfters stille Vorwürfe, [304] wenn er mich mit meinem kleinen Knaben zanken hörte. Ich mußte mich dann förmlich bei ihm verantworten und ihm auf das Weitläufigste demonstriren, daß der Knabe seinen Verweis wohl verdient habe.“

„Als wir einmal auf die Rachsucht zu sprechen kamen, fand ich bei ihm gar keinen Anhaltspunkt. Er kannte die Regung dieser Untugend nicht und ich glaube nicht, daß sie Jemand an ihm bemerkte, so gewöhnlich es unter den Menschen auch ist, daß sich dieselbe durch Wort und That zu erkennen giebt. Ich wenigstens müßte der Wahrheit untreu werden, wenn ich ihm nicht das öffentliche Zeugniß gäbe, daß er meinem Urtheile nach eines Rachegedankens nicht fähig war. Ein solcher schien ihm nicht nur entehrend für den Menschen, sondern auch thöricht zu sein, da man dabei dasselbe zu thun begehre, was man an dem, von welchem man gekränkt worden, für lieblos und schlecht erkläre.“

„Ein besonders schöner Zug in seinem Charakter war seine Mild­thätigkeit gegen Arme. Sah er einen solchen oder hörte er von der Noth eines solchen, so bedurfte es keiner Aufforderung, um ihn zur thätigen Unterstützung zu bewegen. Er theilte seine Gaben verschwenderisch aus und hatte dabei immer nur die Sorge, ob er genug gegeben habe. Noch eine Stunde vor seiner Verwundung legte er davon eine Probe in meinem Hause ab. Eine arme Frau bat um Almosen. Während ich ihr [305] eine Kleinigkeit reichte, gab er gleichfalls und fragte mich leise: „Kennen Sie diese Frau? Dann will ich mehr geben.“ In der Familie des Herrn von *** war er einheimisch und wie das Kind im Hause. Er spielte da oft Schach; der Verlierende mußte eine Kleinigkeit in eine gemein­schaftliche Kasse zahlen, woraus denn kleine Partieen u. dergl. bestritten wurden. Es waren wieder einige Gulden vorhanden. Als Frau von *** fragte: „„Was werden wir diesmal damit machen?““ so erwie­derte Hauser: „„Wir wollen es den Armen geben. Fragen Sie Herrn Pfarrer Fuhrmann, der kennt alle Armen.““ Der Vorschlag wurde angenommen, Frau von *** ließ mich kommen und händigte mir die von ihr vermehrte Summe ein. Dieser Zug ist um so charakteristischer, da H. so lebenslustig und ein so großer Freund von Lustpartieen war, trotzdem gern aber einen solchen Genuß opferte, wenn er statt dessen Gutes thun konnte. Er gab auch nicht pharisäisch; es war ihm nicht um sich, sondern um die Sache zu thun.“

„Wenn ich ihm ein Gebot oder Verbot gegeben hatte, so konnte ich auf den bereitwilligsten Gehorsam rechnen. Nie habe ich den geringsten Widerspruchsgeist an ihm bemerkt. Hätte ich verlangt, er solle seine Lektion bei mir um Mitternacht nehmen, ich glaube, er wäre mit derselben Bereitwilligkeit und Freundlichkeit gekommen, mit welcher er Morgens um acht Uhr in mein Zimmer [306] trat. Er war stets sanft, hingebend und duldsam. Und wollte ich ihn recht in Eifer sehen, so durfte ich nur einen kleinen Lobspruch spenden.“

„Endlich muß ich noch sagen, daß ich ihn immer recht offen und aufrichtig fand. Ich entdeckte nie eine Lüge an ihm. Mag er bei Andern auch manchmal etwas Unwahres gesagt haben, so sehe ich darin nichts Anderes, als eine alltägliche Erscheinung, die sich bei den meisten, ja, es wird nicht zu kühn sein, zu behaupten, bei allen Kindern seines geistigen Alters findet. Von Bosheit, Verschmitztheit, Willen zu schaden, wie sie einem Lügner im vollen Sinne des Wortes eigen, nahm ich an H. nie das Geringste wahr.“

Dr. Preu, der Hausern Anfangs für einen Betrüger gehalten und sich vorgenommen hatte, ihn mit Hiltel's Hülfe zu entlarven, sprach nachher von dem „wahrhaft heiligen Wahrheitsgefühl,“ das sich in diesem Menschen offenbare. In Ludwig Feuerbach's Aufzeichnungen findet sich folgender Zug: „Er sagte einmal, um nicht immer Jedem, der zu ihm komme, sein Bild von Binder zeigen zu müssen, was ihm sehr lästig und widerlich ist, wolle er sagen, es befinde sich nicht im Hause. Bald darauf bemerkte er jedoch, daß Lügen nicht recht sei, und daß man die Wahrheit sagen müsse; er wolle mir das Bild nach Ansbach mitgeben, dann lüge er doch nicht, wenn er sage, es sei nicht mehr [307] da.“ Wie er sich über Bürgermeister Binder wunderte, als dieser sich einmal vor Jemand verläugnen ließ, ist schon vorgekommen. Niemand war ihm zu einflußreich und vornehm, wenn es galt, ihn über eine Lüge zur Rede zu setzen. Ja er war in diesem Punkte so streng, daß er nicht einmal im Scherze eine Unwahrheit dulden wollte. Bald sah er freilich, daß in gewisser Weise Alles lüge und betrüge, und daß mit einer Wahrhaftigkeit, wie er sie übte und forderte, gar nicht auszukommen sei. Gerade er selbst, der rigoroseste aller Wahrheitsfreunde, fand sich bei der unglaublichen Zudringlichkeit der Menschen und bei der ängstigenden, ja zur Verzweiflung bringenden Masse von Anfoderungen, die an ihn gemacht wurden, am dringendsten bewogen, die Wahrheit aufzugeben und sich durch allerlei kleine Listen, Ausreden und Unwahrheiten zu helfen. Es war Nothwehr, er konnte nicht anders. Wie er durch die Tyrannei seiner Vorgesetzten in Ansbach in Aengste und Nothstände versetzt wurde, in welchen er zur Lüge geradezu gezwungen wurde, lehrt die oben unter XV. erzählte Geschichte von dem Tagebuch, in dessen Besitz sich Stanhope durch Hickel mit Gewalt zu setzen gedachte. Es kamen dazu, wie er mir selbst erzählte, ganz positive Verführungen und Anleitungen zum Betrug. Und nachdem es der Welt gelungen war, die Anfangs so reine, unschuldige, ja heilige Seele dieses Menschen so weit zu verderben, daß er es machte, wie eben Andere auch, so trat sie als [308] seine Anklägerin auf, rechnete ihm ihr eigenes Werk zum Verbrechen an und machte ihn zu einem bösen Buben, der sein ganzes, schreckliches Schicksal erlogen; ja es erdreistete sich dessen ganz vorzüglich derjenige, welcher erweislich den heillosesten Einfluß auf ihn ausgeübt, ihn erst durch die maßloseste Hätschelei und ungebührlichste Hochstellung verdorben, und dann durch die empfindlichste Tyrannei und Mißhandlung am direktesten und unausweichlichsten zur Lüge genöthigt hatte!

 

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1) Materialien S. 75. 90. 

2) Feuerbach's „Kaspar Hauser“ am Schlusse.