BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Glückel von Hameln

um 1646 - 1724

 

Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln

übersetzt von Alfred Feilchenfeld

 

Drittes Buch, zweite Hälfte.

 

_______________________________________________________________________________

 

 

[84]

Drittes Buch, zweite Hälfte.

Beziehungen zu Jost Liebmann.

 

Juda Berlin/Jost Liebmann, Hofjuwelier des Großen Kurfürsten

 

Einige Zeit danach ist mein Mann zur Leipziger Messe gereist und ist in Leipzig sehr krank geworden. Damals war es in Leipzig für Juden sehr gefährlich; denn wenn – Gott behüte – ein Jude dort gestorben wäre, hätte es ihm alles Seinige gekostet 1). Zu jener Zeit war Juda (= Jost Liebmann) auch in Leipzig; er hat meinem Mann viel Gutes getan und ihn sehr gepflegt. Als es nun mit meinem Mann ein wenig besser ging, hat er mit meinem Mann geredet, wie ein guter Freund mit dem andern reden soll, und ihm Vorwürfe gemacht, daß er sich auf so schwere Reisen begebe; er wäre [85] kein starker Mann, er sollte mit ihm im ganzen ein Kompagniegeschäft machen. Er (Juda) wäre ein junger Mann, er wollte die ganze Welt bereisen und schon genug Geld verdienen, daß sie beide reichlich davon leben könnten. Mein Mann antwortete ihm: «Ich kann dir hier in Leipzig keinen Bescheid geben; ich bin noch gar nicht recht wohl, ich mag nicht länger in Leipzig bleiben, denn ich fürchte, es könnte – Gott behüte – ärger mit mir werden. Ich will mir also eine eigne Fuhre mieten und nach Hause fahren, und da schon die Zahlwoche ist, wo ohnehin auf der Messe wenig mehr zu tun ist, so kannst du umsonst auf meinem Wagen mitkommen. Wenn wir dann – so Gott will – zu Hause sind, können wir miteinander reden. Alsdann ist mein Glückelchen auch dabei und sie wird auch ihre guten Gedanken darüber sagen.» Denn mein lieber Mann hat nichts getan, ohne daß ich davon wußte. Um diese Zeit war Juda schon verheiratet; denn mein sel. Mann hatte veranlaßt, daß sein Bruder, der gelehrte Rabbi Samuel, seine Tochter mit Juda verheiratete 2) und ihm eine Mitgift von 500 Talern gab. So kamen sie nun zusammen von Leipzig hierher. Mein sel. Mann war noch nicht recht bei Kräften, er brauchte aber nicht zu Bett zu liegen. Durch gute Pflege und hauptsächlich durch den Beistand Gottes ist er bald ganz gesund geworden. Das hat wohl acht Tage oder mehr gedauert. Währenddessen lag mir Juda immer in den Ohren, ich sollte bewirken, daß mein Mann mit ihm ein Kompagniegeschäft [86] mache; ich könnte es nicht verantworten, daß ich meinen Mann so reisen ließe; wenn ihm, Gott behüte, in Leipzig etwas passiert wäre, so wäre er ja um Leben und Vermögen gekommen.

 

Das Georgenhaus und die Heuwage in Leipzig: «Judenecke»

(Originalzeichnung von R. Püttner)

 

Nun stand mir in Wahrheit sein Reisen nicht sehr an 3), denn ich hatte schon oft Todesangst ausgestanden, daß mein Mann in Leipzig krank würde. Schon vorher war mein Mann einmal mitten in der Messe heimgekommen, ohne daß ich ein Wort davon wußte – ich sehe zu meiner Tür heraus, da kommt mein Mann auf einmal angefahren – man kann sich denken, was ich da für einen Schrecken hatte. Ein andres Mal war mein Mann auf der kalten Messe, d. i. auf der Neujahrsmesse, in Leipzig; er war mit anderen Juden schon unterwegs, und sie sollten hierher kommen. Sie kamen aber nicht an dem Tage an, den ich mir berechnet hatte. Dagegen kam die Frau, die Briefe austrägt – sie brachte mir gerade Briefe aus Frankfurt – und sagte, im kaiserlichen Posthaus hätte sie – Gott bessere es – böse Zeitung gehabt; denn zwei Wagen mit Juden und Christen hätten sich zum Zollenspieker 4) über die Elbe setzen lassen wollen und sie seien alle ertrunken, weil das Eis so stark ging, daß es den Prahm 5) zerbrochen hätte.

 

Zollenspieker

 

Nun, mein [87] Gott, ich war fast des Todes, ich fing an zu schreien und zu jammern, wie man sich wohl denken kann. Da kommt der grüne Moscheh, den ich schon erwähnt habe 5a) in die Stube, findet mich in solchem Zustand und fragt, was da vorginge. Ich erzähle es ihm und bitte ihn: «Nimm um Gottes willen flugs ein Pferd und reite nach dem Zollenspieker und sieh zu, was vorgeht.» Obschon mir nun der grüne Moscheh und die anderen meine Angst ausreden wollten, konnte ich mich doch nicht zufrieden geben. So ist also grün' Moscheh weggeritten und ich bin noch zu einem Mann gelaufen, der Pferde zu vermieten hatte; der hat sofort seinen Knecht mit einem Pferde auf einem andern Wege dorthin geschickt. Wie ich nun in meiner Betrübnis wieder heimgegangen bin und nach Hause komme, sitzt mein lieber Mann in der Stube und wärmt sich und trocknet seine nassen Kleider; denn es war ein ganz scheußliches Wetter. Alles, was die Briefträgerin gesagt hatte, war also lauter Lüge.

So haben wir bei den Reisen immer viel Sorge und Schrecken gehabt und ich hätte gern gesehen, daß wir es so eingerichtet hätten, daß mein Mann hätte zu Hause bleiben können. Deshalb war ich dem Kompagniegeschäft mit Juda nicht abgeneigt. So hat nun Juda wieder mit uns geredet und uns die besten Vorschläge gemacht. Ich sagte darauf zu ihm: «Alles, was du redest, ist ganz gut und recht; aber du siehst wohl die große Haushaltung und die schwere Last, die wir haben; wir brauchen jedes Jahr mehr als 1000 Taler in unserer Haushaltung außer dem, was wir zu unserm Geschäft an Zinsen und anderen Ausgaben nötig haben, und ich sehe nicht, [87] woher das Geld kommen soll.» Juda antwortete: «Sorgst du dich darum? Das will ich euch schriftlich geben: wenn nicht wenigstens 1000 Taler Banko jedes Jahr verdient werden, so sollt ihr die Macht haben die Vereinigung aufzulösen.» Solcherlei Versicherungen hat er noch viel mehr gegeben, daß es zu viel wäre alles zu schreiben. Ich habe nun mit meinem Manne geredet und ihm gesagt, was ich mit Juda besprochen und welch großer Stücke er sich gerühmt habe. Darauf sagte mein sel. Mann zu mir: «Mein liebes Kind, das Sagen ist alles gut, aber ich habe große Ausgaben, ich sehe nicht, wo das bei der Verbindung mit Juda herkommen soll.» Schließlich sagte ich zu meinem Manne: «Man kann es ja ein Jahr lang versuchen. Ich will einmal ein kleines Schriftstück aufsetzen und will es euch sehen lassen, wie es euch gefällt.» Also habe ich mich nachts allein hingesetzt und einen Vertrag aufgesetzt. Juda hat in einem fort gedrängt und gesagt, wir sollten uns keine Sorge machen und nur alle unsere Geschäfte ihm überlassen; denn er kenne solchen Weg und Steg, daß er genügend Geschäfte für uns wüßte, um damit zurechtzukommen. Ich sagte: «Wie können wir alle unsere Geschäfte Euch überlassen?» Darauf sagte Juda: «Ich weiß wohl, daß ihr für viele tausend Taler Juwelen habt; die werdet ihr nicht wegwerfen. Also wollen wir es so machen, daß ihr diese Juwelen verkaufen oder vertauschen möget, so gut ihr könnt und wollt.» Dieses ist der eine Punkt. Zweitens soll das Kompagniegeschäft zehn Jahre dauern und man soll jährlich Abrechnung halten. Wenn dann in dem Kompagniegeschäft nicht alle Jahre wenigstens 2000 Reichstaler verdient werden, [89] so hat mein Mann das Recht die Geschäftsgemeinschaft aufzusagen. Ohne diese Bestimmung wollten wir keine Gemeinschaft mit ihm machen. Wenn das gemeinsame Geschäft aufhört, soll alles verkauft werden, damit ein jeder sein Geld bekommt. Drittens soll mein Mann ein- oder zweimal mit Juda nach Amsterdam reisen und ihn über alles unterrichten, wie man einkauft, und Juda soll alle Waren in Händen haben und verkaufen. Viertens: Mein Mann soll zum Beruf der Geschäftsführung 5 bis 6000 Reichstaler hinlegen und Juda soll 2000 dazulegen und soll alle Juwelen und sonstigen Waren, die mein Mann hat, so gut als möglich verkaufen oder vertauschen.

Hierauf ist ein fester Vertrag gemacht und auf alle Weise wohl gesichert worden. Dann reiste Juda wieder nach Hildesheim und sagte, er wolle sein Geld zusammenbringen, wozu er sich im Vertrage verpflichtet hatte; in zwei bis drei Wochen wollte er dann mit meinem Manne nach Amsterdam reisen. Mein Mann hat sich nun fertig gemacht und hat sein Geld nach Amsterdam remittiert. Es hat nichts weiter gefehlt, als daß Juda mit seinem Geld auch käme. Der kam auch zur bestimmten Zeit, brachte aber nur Wechsel für 500 Taler mit. Da sagten wir zu ihm: «Was ist das? Es sollten doch 2000 Taler sein.» Er gab darauf zur Antwort: «Ich habe meiner Frau Gold zurückgelassen, das soll sie verkaufen und mir den Rest von Hildesheim aus remittieren.» Wir sind es zufrieden gewesen. So sind sie zusammen in Gottes Namen glücklich nach Amsterdam gekommen. Dort hat mein Mann in Kleinigkeiten zu kaufen angefangen, wie man es damals gewöhnt war. Bei jeder Post fragte er Juda: «Hast du deine Wechsel gekriegt?» Der [90] sagte immer: «Jetzt kriege ich, jetzt werde ich kriegen.» Aber es ist nichts daraus geworden, er hat nichts bekommen. Was sollte mein Mann nun tun? Juda hat ihm gute Worte gegeben und ihm viel vorgeredet und mein Mann hat sein Geld zusammen mit Judas 500 Talern in Waren angelegt, wie man in Amsterdam schnell dazu kommen kann sein Geld anzulegen. Danach reiste mein Mann wieder nach Hause und Juda fuhr nach Hildesheim. Er nahm alles, was mein Mann eingekauft hatte, mit sich und reiste hin und her um zu verkaufen und handelte nach Herzenslust damit. Als nun mein Mann nach Hause kam, redete er mit mir und murrte darüber, daß ich ihn zu dem Kompagniegeschäft mit Juda überredet hatte. Denn Juda hatte gleich am Anfang die Verabredung nicht gehalten; was würde da noch erst herauskommen, was würde das Ende sein? Man könnte – Gott behüte – bei solchen Geschäften krepieren. Ich redete ihm solche Befürchtungen aus, so gut ich konnte, und ich sagte ihm, wie es auch in Wirklichkeit war: «Juda ist ein junger Mann, wie viel hat er denn als Mitgift bekommen? 500 Taler. Und 8 – 900 Taler hat er gehabt, als er von uns wegging; das sind schon zwei Jahre her. Da konnte er unmöglich 2000 Taler aufbringen. Laßt Euch bedünken, er hätte gar nichts und man schickte ihn wie früher auf die Reise und vertraute ihm viele Tausende an, wie wir es ja schon getan haben. Wenn Gott einem Glück geben will, kann er es ebensowohl mit wenig wie mit viel Geld geben.» Was sollte mein Mann nun tun? Es mag ihm geschmeckt haben oder nicht, wir waren nun einmal darin und man mußte das Bad ausbaden. So verging [91] einige Zeit, Juda verdiente auch etwas, wie er uns jedesmal schrieb. Aber «eine Handvoll kann den Löwen nicht satt machen» 6).

Um es kurz zu sagen – das Jahr war bald um und er schmeckte uns beiden nicht; denn wir sahen, daß nicht so viel verdient wurde um eine Haushaltung davon zu erhalten, geschweige denn zwei Haushaltungen. Endlich, als ein Jahr des Kompagniegeschäfts um war, fuhr mein Mann nach Hildesheim und rechnete mit Juda ab. Da fand er, wie schon erwähnt, daß sie beide nicht dabei bestehen konnten. Darum redete er mit Juda wie ein Bruder zum andern: «Du siehst wohl, daß wir beide bei diesem Kompagniegeschäft nicht bestehen können und daß kaum 1000 Taler dabei verdient worden sind.» Juda sah es auch ein und so gaben sie aus freiem Willen und in guter Freundschaft die Geschäfts­gemeinschaft auf. Mein Mann schrieb eine Trennungserklärung für sich und eine ebensolche für Juda, die sie beide wie üblich unterzeichneten. Nun waren noch für einige tausend Taler Ringe und andere Juwelen übrig; diese überließ mein Mann allesamt dem Juda, daß er sie völlig verkaufen und meinem Manne das Geld schicken sollte. Es wurde auch eine Zeit festgesetzt, bis zu der die Bezahlung geschehen sollte. Aber die Zeit ist gekommen und die Bezahlung ist nicht erfolgt. Wir haben Juda ordentlich und bescheidentlich geschrieben, er wüßte wohl, wozu er sich verpflichtet hätte; er möchte doch das Geld nach Hamburg remittieren. Juda hat auch, wie sich's gebührt, geantwortet: er hätte zwar noch nicht alles [92] verkauft, er wollte aber doch sehen ehestens Wechsel hierher zu remittieren. Endlich, nachdem es länger als ein Jahr gedauert hatte, daß, wir von Juda nichts herausbekommen konnten, ist mein Mann wieder nach Hildesheim gereist, in der Meinung sein Geld von Juda zu bekommen. Aber statt dessen kriegt er etwas anderes zu wissen; denn nachdem Juda meinen Mann einige Tage hingehalten hat, kommt heraus, daß er zu ihm sagt: «Ich gebe dir keinen Heller und es wäre mir lieb, wenn ich noch zweimal so viel von dir behalten hätte; denn unsere Geschäftsgemeinschaft hätte laut unseres Vertrages zehn Jahre dauern müssen und hat nur ein Jahr gedauert. Ich beanspruche von dir noch viele Tausende, und alles, was du hast, ist mein; du kannst mich mit all dem Deinigen nicht bezahlen.» Mein sel. Mann erschrak sehr und sagte: «Juda, was redest du da? Ist das der Dank für alle die Wohltaten, die ich dir erwiesen habe? Du bist ohne einen Pfennig 6a) zu mir gekommen und nach kurzer Zeit hast du 900 bare Reichstaler von mir davongetragen. Ich habe dir viele Tausende anvertraut, habe dir auf allen Plätzen, wo ich nur wußte, daß etwas zu machen ist, Geschäftsgelegenheit gezeigt und weil ich dich für einen freien, ehrlichen Menschen gehalten, habe ich auch bewirkt, daß mein Bruder Rabbi Samuel dir seine Tochter gegeben hat. Ueberdies hast du ja den Vertrag selbst gebrochen; statt daß du 2000 Taler hättest einlegen sollen, hast du nur 500 Taler eingelegt. Außerdem stand ja in unserem Vertrage: wenn nicht alle Jahre bei dem Kompagniegeschäft 2000 Taler [93] verdient würden, sollte es mit unserer Gemeinschaft aus sein. Schließlich ist es für uns alle beide nicht dienlich gewesen. Darum haben wir uns gegenseitig laut unseres Trennungsbriefes aus freiem Willen von der Verpflichtung gelöst. Was willst du nun weiter haben? Ich bitte dich, mache den Leuten kein Maulspiel 7), denn wir sind ja Verwandte; wir können auch, so Gott will, noch weiter zusammen Geschäfte machen.» So und noch mehr dergleichen [hat mein Mann mit ihm gesprochen]. Aber bei meinem guten Juda hat das alles nicht helfen wollen; er ist bei seiner Geige geblieben 8).

Ob nun Juda meinen Mann in Verdacht hatte, daß er zur Zeit der Geschäftsgemeinschaft ohne sein Wissen Geschäfte gemacht habe, kann ich nicht wissen. Vielleicht war auch der folgende Vorfall ein Zunder für das Feuer. Wie von der vorigen Seite zu entnehmen ist, hat mein Mann einen Trennungsbrief von Juda Berlin in Händen gehabt, [der besagte], daß die Geschäftsverbindung aus ist. Als nun mein Mann [gleich danach] von Hildesheim hierher kam, war ein Franzose hier, der allerhand Waren hatte. Mit ihm hat mein Mann einiges getauscht und gute Geschäfte dabei gemacht. Aber, wie es bei den Juden geht, wenn einer 100 Taler verdient, machen die Leute Tausende daraus. So entstand ein Geschrei, mein Mann hätte viele Tausende verdient. Das ist sicher auch dem Juda zu Ohren gekommen. Der [94] hat sich nun vielleicht eingebildet oder so getan, als ob er sich einbildete, daß mein Mann schon von diesem Geschäft gewußt hätte, als er noch in Kompagnie mit ihm war. Besonders [ärgerte er sich wohl], weil man sagte, daß an dem Geschäft Tausende verdient worden seien.

Nach vielem Wortwechsel und Zank, wie es zu solchen Sachen gehörte, haben sich Leute ins Mittel gelegt, und die beiden haben einander durch Handschlag versprochen, sich jeder einen Schiedsrichter zu wählen 9) und in Hildesheim vor dem dortigen Rabbiner als Vorsitzenden ihren Prozeß zu führen. Die Zeit des Prozesses wurde auf vier Monate später angesetzt. Mein sel. Mann mußte sich das alles gefallen lassen; denn «wer kann mit dem rechten, der stärker ist als er?» (Kohelet 6, 10.) Es ist ja bekannt, daß keiner stärker ist, als der, der den Gegenstand in Händen hat 10).

So ist mein Mann mit solchem Ergebnis wieder nach Hause gekommen und hat mir alles erzählt. Wir haben uns darüber sehr betrübt; denn wir haben gewußt, daß wir immer mit Wahrhaftigkeit und Treue mit dem Manne gehandelt und ihm Gutes getan hatten. Mein sel. Mann hat ein wenig mit mir gemurrt, weil ich doch die Ursache von dem Kompagniegeschäft gewesen bin. Aber Gott weiß, daß ich es um des Besten willen getan und nur daran gedacht habe, daß mein Mann nicht mehr so [95] schwere Reisen zu machen haben sollte. Ich habe nicht gedacht, daß es so herauskommen würde, und habe solches von Juda nicht vermutet; denn ich habe ihn für einen ehrlichen Menschen gehalten. Ich habe zu meinem Mann gesagt, warum er den Prozeß in Hildesheim verhandeln lasse; er hätte ihn an einem unparteiischen Ort verhandeln lassen sollen. Darauf gab mir mein Mann zornig zur Antwort: «Wenn du dort gewesen wärest, hättest du es besser machen können. Jener hat das Meinige in Händen; da muß ich wohl, wie er und nicht wie ich will.» Unser Streit (d. i. die Verstimmung zwischen beiden Ehegatten) ist nun auch wieder zu Ende gegangen. Wir mußten uns in Geduld fassen und alles dem lieben Gott befehlen, der uns aus so vielen bösen Händeln und Nöten geholfen hat. Wir waren junge Leute und hatten erst angefangen zurechtzukommen und nun sollte uns ein solches Wirrsal 11) dazwischenkommen! Da haben wir uns nicht gut hineinfinden können.

Was die Ursache [von Judas Vorgehen] gewesen ist, das mag Gott wissen. Wir haben bei dem Manne sonst nichts Ungebührliches oder Unrechtes gespürt. Nur in diesem Falle hat er uns sehr verfolgt und nicht aus Händen geben wollen, was er gehabt hat. «Der Mensch urteilt nach dem Augenschein, aber Gott sieht ins Herz.» (1. Sam. 16, 7.) Er hat sich vielleicht eingebildet, er hätte recht und ist darin verharrt; denn «an sich selbst [96] findet der Mensch keine Schuld». (Talmud Sabbat, fol. 119 a.) 12)

 

Laubhüttenfest: Mahlzeit in der Laubhütte.

(Stich, unterzeichnet: B. Picart delincavit 1724.

Aus: Picard, Cérémonies . . . I, S. 123.)

 

Nun kam die Zeit der Messe von Frankfurt am Main heran, und mein Mann mußte wie immer zur Messe reisen. Dort ging er zu seinem Bruder, dem gelehrten Rabbi Isaak Hameln, erzählte ihm alles, was ihm mit Juda Berlin passiert war, und bat ihn, er solle ihm einen wackeren Talmudgelehrten zuweisen; denn er müßte um diese Zeit in Hildesheim sein, und ein jeder müßte sich – bei Verlust seiner Ansprüche – einen Schiedsrichter mitbringen. Mein Schwager Isaak sagte nun sofort zu meinem Manne: «Du bist schon um das Deinige gekommen, da du in seiner Gemeinde mit ihm prozessieren willst.» Nun erzählte ihm mein Mann von allen seinen Ansprüchen und Einwänden und mein Schwager antwortete ihm: «Ja, Bruder, du hast ganz recht und könntest auch wohl Recht bekommen, wenn ihr unparteiische Richter hättet und an einem unparteiischen Orte prozessiertet.» Mein Mann sagte darauf: «Das ist nun nicht zu ändern, es mag gehen, wie Gott will; ich muß damit fertig werden. Weise mir nur einen Mann zu.» Nach einigem Bedenken sagte mein Schwager: «Hier ist ein junger, wackerer Mann, namens Rabbi Ascher, er ist Beisitzer des Rabbinats in unserer Gemeinde, der ist gut genug; aber – wie schon erwähnt.» Mein Mann ging nun zu diesem und zeigte ihm seinen Vertrag und den Trennungsbrief. Rabbi Ascher [97] sagte darauf zu meinem Manne: «Sorge nicht, du hast eine gerechte Sache, ich will mit dir reisen.» Während der Messe sagte mein sel. Mann noch zu seinem Bruder, ob er ihm einen wackeren Jungen zuzuweisen wüßte, den er zu seinem Geschäft brauchen könnte. Um es kurz zu sagen – er wies ihm Isachar Cohen zu, der leider der rechte Herodes für mein ganzes Haus geworden ist, wovon zu seiner Zeit und an seinem Orte noch weiter gesprochen werden soll 12a). Als die Messe aus war, reiste mein Mann mit seinem Schiedsrichter nach Hildesheim um dort zu prozessieren. Was soll ich lange darüber reden? Von allem, was in dieser Sache vorgegangen ist, wären 100 Bogen voll zu schreiben. Unser Schiedsrichter konnte nicht vorwärtskommen; denn er war allein und hatte zwei gegen sich. Er wollte sich auch nicht zwingen lassen einer ungerechten Entscheidung zuzustimmen. Es war ihm aber gedroht worden, daß er eingesperrt werden sollte, wenn er mit ihnen nicht einig würde. So ist denn mein guter Rabbi Ascher heimlich von Hildesheim weggereist, hat aber vorher große Responsen 13) zugunsten meines Mannes geschrieben und dort zurückgelassen. Das hat aber alles nichts helfen wollen. Der Rabbiner von [98] Hildesheim 14) und ein Gemeindevorsteher – ich will keine Namen nennen, sie sind jetzt alle in der Wahrheit 15) – standen mit Leib und Leben Juda bei und wollten mit aller Gewalt, daß mein Mann einen Vergleich machen sollte, aber einen solchen Vergleich, der ihm zu schwer geworden ist. Mein Mann wollte also nicht darauf eingehen und es wäre zu einem sehr weitläufigen Prozeß vor dem staatlichen Gericht gekommen. Aber mein Schwiegervater, der damals in Hildesheim wohnte, bat meinen Mann wirklich mit weinenden Augen und sagte: «Mein lieber Sohn, du siehst ja wohl, was hier vorgeht; ich bitte dich um Gottes willen, laß dich in keine Weitläufigkeiten ein, ergib dich in Geduld und mache einen Vergleich, so gut du kannst. Der liebe Gott wird es dir wieder besser bescheren.» So mußte mein Mann wider seinen Willen einen Vergleich eingehen. Man kann sich wohl denken, was da für ein Vergleich herausgekommen ist. So viel aber weiß ich, daß wir nicht zweimal so viel zu eigen gehabt haben, als es uns in allem gekostet hat. Ich gebe Juda Berlin nicht so viel Schuld als denen, die ihm dazu verholfen haben. Jetzt haben wir es ihnen [99] allen verziehen. Wir murren auch nicht über ihn und haben gegen ihn keinen Widerwillen. Denn er hat sicher gemeint, er hätte recht und es gebührte ihm dies von uns; sonst hätte er es vielleicht nicht getan. Nun hat es meinem Mann zwar sehr weh getan. Aber wer hat ihm helfen können? «Wer über Vergangenes klagt, betet umsonst.» (Mischna Berachot 9,3.)

Der liebe Gott aber, der unsere Unschuld gesehen, hat uns, ehe vier Wochen vergangen sind, ein so gutes Geschäft beschert, daß wir unsern Schaden fast wieder eingeholt haben. Mein Mann hat auch nachher mit Juda Berlin in guter Einigkeit und Vertraulichkeit gelebt. Ich werde auch später noch berichten, was mir von Juda und seine Frau für Ehre angetan worden ist, als ich in Berlin war. Er hat auch mit meinen Kindern stets solche Geschäfte gemacht, daß wir uns nicht sonderlich über ihn beschweren können. Wenn nun das Geschäft mit gutem Verdienst weitergegangen wäre, so meine ich, daß wir nichts Widriges miteinander gehabt hätten. Es scheint aber die glückliche Wendung für Isachar [Cohen] gewesen zu sein, daß wir mit Juda Berlin brechen mußten. Da hat Isachars Glück angefangen zu blühen, wie gleich berichtet werden wird.

Obschon an dem Handel (mit Juda Berlin) nichts gelegen ist, ebensowenig wie an meinem ganzen Buch, so habe ich solches doch geschrieben um die müßigen, melancholischen Gedanken, die mich plagten, fortzubringen. Auch ist hieraus zu ersehen, wie sich alle menschlichen Dinge mit der Zeit verkehren. «Gott macht Leitern, den einen läßt er hinuntersteigen und den andern hebt er hinauf.» (Bereschit rabba.) Juda Berlin ist zu [100] uns gekommen und hat wirklich gar nichts gehabt. Aber Gott hat ihm so geholfen, daß ich meine, er läßt sich heute nicht mit 100 000 Reichstalern Banko auskaufen. Er sitzt auch jetzt noch in solchen Geschäften und steht in solcher Aestimation bei dem Kurfürsten – Gott erhöhe seinen Glanz – daß ich glaube, er wird, wenn er so fortfährt und Gott ihm nicht zuwider ist, als der reichste Mann von ganz Deutschland zu seiner Zeit sterben 16).

Es ist auch (aus meinem Buch) zu ersehen, wie wir vielen – nächst Gott – geholfen haben zurechtzukommen, und alle, die mit uns Geschäfte gemacht haben, sind reich geworden, aber die meisten ohne Vergeltung, [101] wie es so der Lauf der Welt ist. Gerade im Gegenteil, viele, denen wir alles Gute getan haben, haben uns oder unseren Kindern mit Bösem bezahlt. Aber Gott der Allmächtige ist gerecht; wir sündigen Menschen können nichts sagen, wir wissen nicht einmal, was für uns gut oder schlecht ist. Ein Mensch meint oft, wenn ihm etwas Widerwärtiges zustößt, daß ihm dasselbe gar bös sei. Aber es kann sein, daß uns das, was wir für schlimm halten, gerade zum Guten ist. Wenn der ehrliche, redliche Mordechai – Gott räche seinen Tod! – am Leben geblieben wäre, dann wäre vielleicht manchem die Lauge nicht auf den Kopf gekommen 17) und er selbst wäre gewiß auch ein großer Mann geworden.

Danach haben wir den grünen Moscheh gehabt; mit dem haben wir zwar nicht so viele Geschäfte gemacht, aber doch, wie schon erwähnt, hübsche Partien Unzenperlen mit ihm gehandelt. Er ist in weite Ferne gereist und hat seine Frau und Kinder hier gehabt; wir mußten sie ernähren und konnten doch nicht wissen, ob so viel Gewinn überschießen würde. Darauf ist [der Bibelvers] anzuwenden: «Wirf dein Brot hin aufs Wasser; in der Länge der Zeit wirst du es wiederfinden.» (Kohelet 11,1). Um es kurz zu sagen: wir haben eben keinen großen Verdienst daran gehabt, aber wir sind doch in allem Guten auseinander gekommen. Wir wären auch gern [102] länger zusammen geblieben, wenn er nicht von Hamburg weggezogen wäre und sich in Schottland, dicht vor Danzig 18), niedergelassen hätte. Er ist dort nicht übel gefahren und es ist ihm sehr wohl gegangen.

 

Alt-Schottland bei Danzig

(Matthaeus Deisch, um 1765)

 

Abraham Kantor aus Kopenhagen, der, wie ich schon erwähnt habe, als Junge bei uns gedient hat, hat sich ehrlich und gut geführt. Danach haben wir ihn einige Male nach Kopenhagen geschickt. Er ist dort reich geworden und ist späterhin mit Frau und Kindern dorthin gezogen. Wie man sagt, ist er jetzt ein Mann von 15 000 Reichstalern und sitzt in seinem guten Geschäft; er gibt seinen Kindern Tausende als Mitgift.

Mein Verwandter Mordechai Cohen 19) und Loeb Bischere 19a) haben mit meinem Mann ein Kompagniegeschäft gemacht; mein Mann hat sie nach England geschickt und ihnen Kreditbriefe und Geld mitgegeben. Aber sie haben wegen des Krieges 20) nicht nach England kommen [103] können. So ist ihre Reise nach England unterblieben 20a); sie haben aber doch ein Stück Geld in Amsterdam mit guten Zinsen angelegt. Von da an ist mein Verwandter Mordechai Cohen nach Holland und Brabant gereist und hat sehr guten Gewinn gemacht. Jene erste Reise ist also der Anfang seines Geschäfts und seines Reichtums gewesen.

Mein Schwager Elia 21) war ein unerfahrener, junger Mann, der noch kein Geschäft verstanden hat. Ihm hat mein Mann sogleich großen Kredit gegeben und schließlich hat er ihn mit einem Kredit von 20 000 Reichstalern nach Amsterdam geschickt.

Viele hiesige Gemeindemitglieder, die jetzt wirklich Grundstützen sind, haben Gott gedankt, wenn wir ihnen Kredit gegeben haben. Ich wollte noch viel mehr nennen. Aber was hilft uns das? Wo ist die Güte, die du ehrlicher, wackerer Chajim Hameln aller Welt erwiesen? Wie hast du doch gern einem jeden fortgeholfen und einem jeden Gutes erwiesen, manchmal mit Nutzen und manchmal mit Schaden! Manchmal hat er sogar selbst gewußt, daß ihm gar kein Gewinn daraus entstehen kann, und hat wahrhafte Wohltätigkeit geübt. Nun sind aber deine lieben, frommen Kinder, wenn sie irgendwie einen kleinen Anstoß haben, doch so ehrlich, daß sie lieber sterben als jemand verkürzen wollten. Aber alle, denen wir viel Gutes getan haben, denken jetzt nicht mehr daran und könnten doch zuzeiten meinen Kindern, solchen jungen [104] Leuten, die ihren frommen Vater leider so früh verloren haben und nun wie «Schafe ohne Hirten» sind, ein wenig forthelfen. Ja, daß sich Gott erbarm', gerade das Widerspiel 22). Sie haben meine Kinder um Tausende gebracht und bewirkt, daß das Geld meines Sohnes Mordechai hat unter das gemeine Volk kommen müssen. Der Vorsitzende des Rats und das ganze Gericht haben gesagt, daß es ein ehrliches Geschäft ist und daß man nicht nötig hat, den Kaufleuten etwas von ihrer Ware wiederzugeben; denn er hätte es ehrlich und redlich gekauft. Dennoch hat man ihm keine Ruhe lassen wollen.

 

Gesetzesfreude. Innenansicht der Amsterdamer sephardischen Synagoge, auf deren mittlerer

Estrade zahlreiche Thorarollen in kostbarem Schmuck von Gemeindemitgliedern gehalten werden. –

Die Angabe auf dem Stich, daß es sich um den Versöhnungstag handelt, ist ein Irrtum.

(Stich, unterzeichnet: A. Kulk Pietersz ad viv. del. 1782. A. Kulk Jacobsz sculpsit 1783.)

 

Am Rüsttage des Versöhnungsfestes hat er das Seinige förmlich hinwegwerfen und mit den Kaufleuten einen Vergleich machen müssen, wodurch leider sein Ruin hauptsächlich gekommen ist. Wie mir und ihm nun zumute gewesen ist, darauf soll der große Gott noch achten und es soll eine Sühne für unsere Sünden sein. Nun, es ist «im Namen Gottes» geschehen, daß man meinen Sohn so gedrängt hat 23). Gott möge ihnen nach ihren Taten vergelten! [105] Ich kann den Mann, den ich hier im Sinn habe, nicht beschuldigen; denn ich weiß seine Gedanken nicht. «Der Mensch urteilt nach dem Augenschein, Gott aber sieht ins Herz.» Aber das weiß ich wohl: meine Kinder sind junge Leute gewesen und haben etwas Kredit nötig gehabt, wie es im Geschäft so die Ordnung ist. Da haben sie einige Wechsel verkaufen wollen und Kaufleute haben die Wechsel von ihnen genommen und sie geheißen nach der Börsenzeit wiederkommen. Wie mich dünkt, hat derselbe Kaufmann einem Israeliten, auf den er sehr viel gehalten hat, befragt. Als meine Kinder nun nach der Börsenzeit wieder zu dem Kaufmann kommen, um gegen gute Wechsel mit guten Indossamenten ihr Geld in Bankwährung zu empfangen, hat ihnen der Kaufmann die Wechsel wiedergegeben. Dadurch haben sie sich dann oftmals nicht zu helfen gewußt. Du großer, einziger Gott, ich bitte dich vom Grunde meines Herzens, du wolltest es mir verzeihen. Denn es ist möglich, daß ich dem Manne, an den ich hierbei gedacht, unrecht getan habe, und es kann wohl sein, daß das, was er getan hat, wirklich in Gottes Namen geschehen ist. Also muß man alles dem großen Gott befehlen und sich denken, daß diese eitle Welt bald vorübergeht.

Du großer Gott weißt es wohl, wie ich meine Zeit in großen Sorgen und in Betrübnis des Herzens zubringe. Ich bin eine Frau gewesen, die so lange in großer Aestimation bei ihrem frommen Gatten gestanden hat und ihm wie sein Augapfel gewesen ist. Aber mit seinem Absterben ist mein Reichtum, meine Ehre, alles mit hinweggegangen, was ich alle meine Tage und Jahre zu bejammern und zu beklagen habe. Ich weiß wohl, daß [106] es eine Schwachheit ist und daß ich einen großen Fehler begehe, wenn ich meine Zeit in solchem Elend und Jammer zubringe. Viel besser wäre es, daß ich alle Tage auf meine Kniee fiele und Gott für die große Gnade dankte, die er mir Unwürdigem erweist. Ich sitze noch bis dato an meinem Tisch, esse, was mich gelüstet, lege mich zu Abend in mein Bett, habe noch einen Schilling zu verzehren, so lange es dem großen Gott beliebt. Ich habe meine lieben Kinder; ob es auch zuzeiten dem einen oder dem andern nicht so geht, wie es gehen soll, so leben wir doch und erkennen unsern Schöpfer. Wie viele Leute gibt es in dieser Welt, die besser, frommer, gerechter und wahrhaftiger sind als ich, auch solche, die ich selber kenne, daß es ausbündig fromme Leute sind und die doch viel weniger, sogar nicht einmal Speise für eine Mahlzeit haben! Wie sollte ich da meinen Schöpfer genug loben und ihm danken können für alle Wohltaten, die er uns erweist, ohne daß wir es ihm vergelten. Wenn wir armen, sündigen Menschen nur die große Barmherzigkeit Gottes erkennen möchten, der uns aus einem Stück Lehm zu Menschen gemacht und uns seinen großen, furchtbaren und heiligen Namen zu erkennen gegeben hat, auf daß wir unserm Schöpfer mit ganzem Herzen dienen! Denn – seht doch, meine lieben Kinder – was tut ein sündiger Mensch um die Gnade des Königs zu erlangen, der doch nur Fleisch und Blut, der heute hier und morgen im Grabe ist, und man weiß doch nicht, wie lange er lebt, daß man Wohltaten von ihm empfängt, und wie lange der Mensch lebt, der die Wohltaten empfängt. Und was für Wohltaten sind es denn, die er von einem menschlichen König [107] empfängt! Er kann ihn angesehen machen, er kann machen, daß er viel Geld bekommt; aber das ist alles auf eine Zeit lang und nicht auf ewig. Wenn er schon alles in seiner Hand hat bis zu seinem Todestage, so macht doch der bittere Tod alles vergessen und da hilft ihm all sein Reichtum und seine Ehre nichts. Und der Mensch weiß das alles und trachtet doch danach, dem menschlichen König gut zu dienen, damit er das Zeitliche bekommt. Wie viel mehr erst müssen wir Tag und Nacht danach trachten, wie wir dem König aller Könige, der ewig lebt und besteht, gehörig dienen. Denn er ist derjenige, von dem alles Gute kommt, was wir von einem menschlichen Könige haben, und er ist der, der den Königen alles gibt und ihnen ins Herz legt, denen Gutes zu tun, denen es nach seinem heiligen Willen bestimmt ist. Denn «das Herz der Könige ist in Gottes Hand» (Proverb. 21,1) und die Gaben eines menschlichen Königs sind alle nichts gegen das, was der hochgepriesene Gott seinen Verehrern gibt, das ist die Ewigkeit, die kein Maß noch Ziel oder Vergänglichkeit hat. Also, meine herzlieben Kinder, seid getrost und geduldig in euren Leiden und dienet Gott dem Allmächtigen mit ganzem Herzen, sowohl wenn es euch übel, wie wenn es euch wohl geht. Denn obschon wir meinen, daß manches, was Gott uns zuschickt, für uns zu schwer und fast nicht zu ertragen ist, so müssen wir doch wissen, daß der große Herr seinen Knechten nicht mehr auferlegt, als wir ertragen können. Wohl dem Menschen, der alles, was Gott ihm oder seinen Kinder zuschickt, mit Geduld annimmt. Darum bitte ich auch meinen Schöpfer, daß er mir die Kraft gebe alles, was [108] uns in dieser Welt konträr geht – es geschieht ja alles nach unseren Werken – mit Geduld auszuhalten. «Wie man für das Gute Gott preist, so preist man ihn auch für das Böse.» (Mischna Berachot 9,5.) So wollen wir denn alles Gott befehlen und wieder da anfangen, wo ich stehen geblieben bin.

Meine Tochter Mate ist nun im dritten Jahre gewesen und es ist kein schöneres, klügeres Kind gesehen worden. Nicht allein wir haben es sehr geliebt, sondern alle Menschen, die das Kind gesehen und gehört haben, haben ein Wohlgefallen an dem lieben Kinde gehabt. Aber der liebe Gott hat es noch lieber gehabt, und als es in das dritte Jahr gegangen ist, sind dem Kinde urplötzlich Hände und Füße geschwollen. Obschon wir nun viele Aerzte gehabt und allerhand Arzeneien gebraucht haben, so hat es doch dem lieben Gott gefallen, nachdem das Kind an vier Wochen mit großen Beschwernissen und Leiden zugebracht, sein Teil zu sich zu nehmen und unser Teil zu unserm großen Herzeleid vor uns liegen zu lassen. Darüber haben wir, mein Mann und ich, uns unbeschreiblich gegrämt und ich fürchte sehr, daß ich mich an dem höchsten Gott sehr versündigt und noch größere Strafen dadurch verdient habe, wie ich auch leider Gottes [nachher] gewahr geworden bin. Mein Mann und ich haben uns beide so gegrämt, daß wir alle beide lange Zeit schwere Krankheiten ausgestanden haben; das haben wir von unserer großen Betrübnis gehabt.

Ich bin guter Hoffnung gewesen mit meiner Tochter Hanna und [bald danach] ins Kindbett gekommen. Wegen der großen Betrübnisi um mein liebes seliges Kind, über [109] dessen Tod ich mich nicht habe zufrieden geben können, bin ich in eine gefährliche Krankheit verfallen, die während des ganzen Kindbetts angehalten hat, so daß alle Aerzte an meinem Wiederaufkommen gezweifelt haben und mir ein desperates Mittel haben eingeben 24) wollen. Aber während sie solches vorgehabt und solches meinen Leuten zu verstehen gegeben und nicht gemeint haben, daß ich etwas davon wüßte oder verstünde, habe ich meinem Mann und meiner Mutter gesagt, daß ich diese Arzenei nicht einnehmen wolle. Dieses haben sie dann den Doktoren gesagt. Obschon nun die Doktoren ihr Bestes getan haben und mich zu bereden meinten, solches einzunehmen, so haben doch alle ihre Reden nichts geholfen und ich habe gesagt: «Sie mögen reden, was sie wollen; ich nehme nun gar nichts mehr ein. Will der getreue Gott mir helfen, kann er solches auch ohne Arzenei tun. Ist es jedoch ein Ratschluß von dem großen Gott, was helfen dann alle Arzeneien?» In summa, ich habe meinen Mann gebeten, er sollte doch alle Doktoren abschaffen und sie entlohnen. So ist es auch geschehen. Gott hat mir dann die Kraft gegeben, daß ich fünf Wochen, nachdem ich ins Kindbett gekommen war, [zum ersten Mal wieder] ins Bethaus gegangen bin, wiewohl sehr kümmerlich. Aber ich habe doch meinen Gott dafür gelobt und ihm gedankt. Es ist alle Tage ein wenig besser mit mir geworden, so daß ich endlich meine Wärter und meine Säugamme abgeschafft, mit Hilfe des Höchsten notdürftig das, was zu meiner Haushaltung gehört, selbst in acht genommen und endlich [110] das liebe Kind habe vergessen müssen, wie die Bestimmung von Gott ist. So soll man sich immer in seinem Leid mäßigen, wenn einem – Gott behüte – etwas Schlimmes zukommt, und soll Gottes Gericht als gerecht erkennen und den wahrhaftigen Richter preisen.

 

――――――――

 

1) Aus Kursachsen waren seit 1537 alle Juden vertrieben und sogar der Durchzug von Juden war bei Strafe verboten. Siehe L. Feilchenfeld, Josel von Rosheim, S. 121. Nur zur Messe wurden die Juden in Leipzig geduldet und zwar hauptsächlich wohl aus fiskalischen Gründen, da sie neben dem Leibzoll noch bedeutende Meßabgaben zu zahlen hatten. Aber trotz aller hoher Zahlungen hatten sie doch noch über tätliche Insulten zu klagen, denen sie in Leipzig beständig ausgesetzt waren. Siehe Freudenthal, Die jüdischen Besucher der Leipziger Messen (Frankfurt a. M. 1902), S. 3 – 10. Aus unserer Stelle hier ersehen wir, daß namentlich bei Todesfällen die Juden bezw. deren Familien sehr ausgebeutet wurden.  

2) Jost Liebmann war in erster Ehe mit Malke, der Tochter des Hildesheimer Rabbiners Samuel Hameln, verheiratet und wohnte damals in Hildesheim.  

3) = war mir nicht sehr genehm. Vgl. Lessings Minna, II 3: «Was steht dir von meinen Sachen an? Was hättest du gern?»  

4) Der Zollenspieker ist ein ehemals befestigtes Haus elbaufwärts von Hamburg, in den sogenannten "Vierlanden", wo seit dem 13. Jahrhundert ein Zoll erhoben wurde. Hier befand sich eine Hauptübergangsstelle über die Elbe für den Handelsverkehr von Hamburg und Lübeck nach dem Binnenlande. Dilling, Landeskunde von Hamburg, S. 47.  

5) Prahm = flaches Boot, Fährschiff.  

5a) Siehe Seite 73 ff.  

6) Zitat aus dem Talmud Berachot fol. 3b.  

6a) Im Original: nackt und bloß.  

7) = gib den Leuten keine Gelegenheit zum Reden.  

8) In den folgenden Sätzen ist die etwas weitläufige, zum Teil verworrene Darstellung Glückels ein wenig zusammengezogen und der richtigen Gedankenfolge entsprechend verschoben worden.  

9) Das ist offenbar der Sinn der Worte Glückels, die sich an die Mischna Sanhedrin III 1 anlehnen. Dort heißt es, daß bei Vermögensstreitigkeiten jede der Parteien sich einen Richter und beide zusammen den dritten Richter zu wählen haben; diese drei haben dann zu entscheiden.  

10) Vgl. das lateinische Sprichwort: beati possidentes.  

11) Gewerre, ältere Form für Gewirr, bedeutet auch: etwas was Wirren erregt. Heyne, Wörterbuch I 1172. Landau (Mitteilg. f. jüd. Volkskde. VII 53) liest Gefähr = Gefahr, Schaden, Nachteil. Kaufmann: Gewähr = Wahrnehmung.  

12) Glückel scheint hier das Verhalten Juda Berlins etwas entschuldigen zu wollen, der zur Zeit, als sie ihre Lebenserinnerungen niederschrieb, bereits eine glänzende Stellung in Berlin einnahm und ihr selbst, wie sie an späteren Stellen erwähnt (S. 185, 201), mit größter Zuvorkommenheit begegnet war.  

12a) Glückel erwähnt diesen Isachar Cohen später noch einige Male und verspricht (S. 139), die ganze "Historie" von Isachar genauer zu beschreiben, hebt auch (S. 141) noch einmal hervor, daß er immer seine Bosheit gegen ihr Haus bewiesen habe. Aber die besprochene Beschreibung findet sich in ihrem Buche nicht und besondere Beispiele seiner Bosheit werden auch nicht angeführt, außer daß er als Geschäftsgehilfe Chajim Hamelns seinen Vorteil gegenüber seinem Prinzipal sehr gut wahrzunehmen wußte.  

13) Gutachten, in denen auf Grund des Talmud und der Dezisoren eine Rechtsfrage entschieden wurde.  

14) Rabbi Samuel Hameln, der Schwiegervater Juda Berlins, war wohl damals nicht mehr Rabbiner in Hildesheim. Sonst hätte er als naher Anverwandter der Parteien in diesem Prozesse nicht richten dürfen. Vielleicht hat er aber als Gemeindevorsteher (er bekleidete dieses Amt nach Niederlegung seines Rabbinats von 1669–1687, s. Lewinsky, Der Hildesheimer Rabbiner Samuel Hameln) oder überhaupt als angesehener Mann der Gemeinde hinter den Kulissen zugunsten seines Schwiegersohnes gewirkt. So erklärt sich auch die Aufregung des alten Joseph Hameln, der seinen Sohn Chajim zum Nachgeben veranlassen und auf diese Weise wahrscheinlich einen Streit zwischen den beiden Brüdern vermeiden wollte.  

15) = in der Ewigkeit.  

16) Juda Berlin, wie Glückel ihn nach seinem späteren Wohnort nennt, oder Jost Liebmann, wie er nach dem Namen seines Vaters (Elieser Liebmann aus Göttingen) genannt wurde, zog nach dem Tode seiner Gattin Malke, der Tochter des Hildesheimer Rabbiners, 1677 nach Berlin, verheiratete sich dort mit Esther, der Tochter des Hofjuden Israel Aron, und erbte dessen angesehene Stellung. Er wurde Juwelenlieferant des kurfürstlichen Hofes und machte sich durch strenge Rechtlichkeit und durch Gewährung langfristigen Kredits bei Hofe sehr beliebt. Dafür erhielt er vom Großen Kurfürsten das Privilegium, daß er und seine Familie vom Leibzoll, den alle Juden damals – in Brandenburg wie in anderen deutschen Ländern – zu entrichten hatten, befreit wurde und seine Juwelen zollfrei einführen durfte. Kurfürst Friedrich III., als König von Preußen Friedrich I., bestätigte ihn in allen seinen Privilegien und Rechten. Seinen großen Einfluß am brandenburgisch-preußischen Hofe hat Jost Liebmann oft zugunsten seiner Glaubensgenossen verwendet. Er blieb bis zu seinem Tode (1702) in seiner angesehenen Stellung; dieselbe ging auch auf seine Familie, zunächst auf seine Gattin (die "Liebmännin") über. Der Komponist Meyerbeer und der Dichter Michael Beer zählten zu seinen Nachkommen. Vgl. L. Geiger, Geschichte der Juden in Berlin, Bd. I, S. 20/21 und Bd. II, S. 40 – 43. Kaufmann, Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien, S. 215 bis 217. Jewish Encyclopedia, Artikel "Jost Liebmann".  

17) Landau, a. a. O., S. 56, liest hier mit Recht "Lauge" statt "Lage", das keinen Sinn gibt. Der Ausdruck bedeutet soviel wie: Es wäre mancher nicht eingeseift worden, hätte keinen Schaden erlitten. Ueber den Gebrauch des Wortes "Lauge" in Bildern und sprichwörtlichen Redensarten bringt Grimm, Wörterbuch VI 339 verschiedene Beispiele ("wie diesem tapferen Mann der Kopf mit scharfer Lauge gewaschen sei" u. a.).  

18) In der Vorstadt Alt- Schottland, die einst von schottischen Seefahrern begründet worden war, befand sich vor der preußischen Zeit, als noch kein Jude in Danzig wohnen durfte, eine sehr ansehnliche jüdische Gemeinde. Auch später noch, als die Juden in die Stadt eingezogen waren, war die Altschottländer Gemeinde die bedeutendste unter den fünf getrennten Gemeinden der Stadt, die sich erst neuerdings zu einer Gesamtgemeinde Danzig vereinigt haben. (Mitteilung von Herrn Rabbiner Dr. Freudenthal in Nürnberg.)  

19) Schwestersohn Glückels, Sohn des S. 27 ff. erwähnten Elias Cohen, gestorben 1715 (Vgl. Grunwald, Hamburgs deutsche Juden, S. 237).  

19a) Vielleicht: Pexeira, nach Analogie von Deschere = Texeira, s. S. 166, Anm. 56.  

20) Offenbar ist hier der Raubkrieg Ludwigs XIV. gegen Holland gemeint, in dem die Engländer als Bundesgenossen Frankreichs die Küsten Hollands bedrohten und den Verkehr auf dem Meere unsicher machten.  

20a) Im Original: nachgeblieben (noch heute in Hamburg üblicher Provinzialismus = unterblieben).  

21) Elia Ries in Berlin, Sohn des angesehenen Hauptes der Wiener Exulanten, Model Ries, war mit einer Schwester Glückels vermählt. Siehe Kaufmann, Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien, p. 211.  

22) Die folgende Betrachtung Glückels berührt ohne deutliche Ausführung geschäftliche Verlegenheiten und schwere Verluste ihres Sohnes Mordechai, die anscheinend in die letzte Zeit ihres Hamburger Aufenthaltes fielen und durch die Rückwirkung auf ihre eigenen Vermögensverhältnisse wohl mit dazu beitrugen, ihr den Gedanken an eine zweite Heirat nahe zu legen (s. S. 253 ff.).  

23) Gl. meint wohl, daß die jüdischen Geschäftsleute, die ihren Sohn zu Zahlungen (an christliche Kaufleute) drängten, zu denen er nicht rechtlich verpflichtet war, religiöse Gründe, vielleicht die Rücksicht auf sonst entstehenden Chillul haschem, d. i. Herabwürdigung des Judentums vor Andersgläubigen geltend machten. Vielleicht hatten sie deshalb auch den Rüsttag des Versöhnungstages gewählt, um besser auf ihn einwirken zu können.  

24) Im Original: mit mir desperat spielen.