Gesellschaften sind immer vielfältig, weil wir Menschen individuell verschieden sind. Wir haben unterschiedliche Interessen, sehen unterschiedlich aus, haben unterschiedliche Geschlechter, Weltanschauungen, Geschmäcker, Erfahrungen, unterschiedliche Bildungshintergründe, wir unterscheiden uns in unserer körperlichen Verfassung, in unserer sozialen und sozioökonomischen Herkunft und Situation – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Obwohl Diversität also eigentlich ganz normal ist, ist sie alles andere als selbstverständlich. Viele Menschen können nämlich nicht gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben. Viele machen Ausgrenzungserfahrungen. Ihre Existenzberechtigung, ihre Identität, ihre Persönlichkeit wird infrage gestellt, nur weil sie zum Beispiel nicht weiß sind, keinen deutschen Pass haben oder weil sie homosexuell lieben oder weil sie eine Beeinträchtigung haben oder weil sie nur wenig oder gar kein Einkommen haben.
Wir sind also in unserer vielfältigen Gesellschaft mit Problemen konfrontiert, weil Diskriminierungen stattfinden. Menschen werden teilweise bewusst, teilweise unbewusst benachteiligt. Die Diskriminierungen finden auf unterschiedlichen Ebenen statt. Es gibt zum Beispiel Anfeindungen, im Alltag, im öffentlichen Raum – einfach so, grundlos. Von abfälligen Blicken oder Kommentaren bis hin zu Beleidigungen und Gewalt. Menschen werden im Bildungssystem, am Wohnungs- und Arbeitsmarkt häufig aufgrund ihres vermeintlich nicht „deutsch“ klingenden Namens oder aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert. Dadurch entstehen soziale Benachteiligungen, die Lebenswege negativ beeinflussen können.
Warum ist das so? Warum gibt es so viele Menschen und Institutionen, die Menschen entlang bestimmter Differenzkategorien und Zuschreibungen ausgrenzen und benachteiligen?
Ein zentraler Grund liegt in unseren Wissensbeständen. Wir haben Vorurteile und Stereotype erlernt. Wir haben Rassismus erlernt. Es ist Teil unseres Wissens. Und das Wissen wiederum befindet sich nicht nur in unseren Köpfen. Wissen manifestiert sich in vielen Dingen, z. B. in Umgangsformen, in Diskursen, in Kunst und in Literatur und eben auch in Kinderbüchern. Auch Kinderbücher enthalten Wissensbestände. Kinder erlernen durch das Lesen und Betrachten von Kinderbüchern Wissen über die Welt.
Wenn wir als Gesellschaft also sagen, alle Menschen, die hier leben, müssen gleichberechtigt teilhaben können – und das ist nichts weniger als das Versprechen der Demokratie – dann müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie wir Diskriminierungen entgegenwirken. Eine von vielen denkbaren Möglichkeiten besteht in der diversitätssensiblen und rassismuskritischen Betrachtung von Kinderbüchern.
Seit einigen Jahren kritisieren u.a. Wissenschaftler*innen, Rassismusexpert*innen und Menschen die von Rassismus betroffen sind, Inhalte von Kinderbüchern. In der öffentlichen Diskussion geht es meistens um Kinderbuchklassiker, zum Beispiel die Winnetou-Erzählungen von 1875 bis 1910, Tim im Kongo von 1946, Pippi in Taka-Tuka-Land von 1948, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer von 1960. Diskutiert wird dabei, ob die Bücher umgeschrieben werden müssten oder nicht. Viele wittern Zensur und reagieren emotional und unsachgerecht auf die Kritik an der Tatsache, dass viele Kinderbücher die gesellschaftliche Wirklichkeit der Diversität überhaupt nicht abbilden oder – schlimmer noch – diskriminierende Inhalte transportieren.
Das Argument, es handele sich um Kunst, die man eben in ihrem historischen Entstehungskontext bewerten müsse, greift bei Kinderbüchern nicht, da Kinder Literatur nicht historisch kontextualisieren können. Für sie sind die Inhalte und Darstellungen repräsentativ für die Wirklichkeit.
Rassistische und stereotype Inhalte in Kinderbüchern sind für alle Kinder problematisch:
Weiße Kinder können durch rassistische Kinderbücher lernen, dass Rassismus normal ist und übernehmen möglicherweise diskriminierende Vorstellungen für ihre eigene Vorstellungswelt.
Für nicht-weiße Kinder und ihre vorlesenden Eltern können rassistische Darstellungen in Kinderbüchern sehr verletzend sein. Sie sind ein Bestandteil ihrer alltäglichen Rassismuserfahrungen, die ihre Gesundheit und ihr Selbstwertgefühl negativ beeinflussen können. Kinder of Color finden häufig keine positiven Identifikationsfiguren in Kinderbüchern. Doch gerade solche Identifikationsfiguren wären für ihre Entwicklung wichtig. Kinder vergleichen sich mit den Figuren und Charakteren. Positive Identifikationsfiguren können Kinder stärken und ermutigen.
Für alle Kinder ist diversitätsbewusste Kinderliteratur ein großer Gewinn. Sie können dadurch lernen, dass wir Menschen mit all unseren Unterschieden auch viele Gemeinsamkeiten haben. Das stärkt letztlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Prof. Dr. Simon Goebel